24.11.2022

Das französische Kino, eine Familiengeschichte

Passagers de la nuit
Im Kreis der Freunde: Charlotte Gainsbourg im Eröffnungsfilm Passagiere der Nacht
(Foto: eksystent)

Sie machen Filme nicht allein: Die Französische Filmwoche gastiert zum dritten Mal in München und zeigt, wie alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt

Von Dunja Bialas

Der Gedanke, dass mit Jean-Luc Godard auch das Kino von uns gegangen ist, kann einem ganz spontan in den Sinn kommen. Mit Jean-Marie Straub ist nun am vergan­genen Sonntag ein weiterer der ganz großen Kinoer­neuerer verstorben. Beide, JLG und JMS, lebten in Rolle am Genfer See, sie sollen sich hin und wieder im Super­markt getroffen haben, oder in einer Bar im Ort. Diese Zeiten sind nun vorbei. Einen wehmü­tigen Abschieds­gruß gibt es am kommenden Sonntag im Münchner Theatiner-Kino mit dem letzten Film von Godard Le livre d’image, der von Straubs letztem Kurzfilm La France contre les robots begleitet wird (im Rahmen der Sonder­reihe zu ECM Records, So 27.11. 11:00).

Dass es mit dem Kino jedoch keines­falls vorbei ist, beweist die an diesem Donnerstag begin­nende 3. Fran­zö­si­sche Filmwoche in München (in Berlin zeit­gleich mit einem größeren Programm). Sie stellt die Vitalität und den unge­bremsten Aufbruch des fran­zö­si­schen Film­schaf­fens unter Beweis, selbst wenn auch in der großen Film­na­tion nach Corona der Kino­be­such stark einge­bro­chen ist. 2019 besuchten noch 213 Millionen die Kinos, 2021 waren es – noch immer unter Corona-Einschrän­kungen – nur noch knapp die Hälfte, für 2022 schätzt man mit einem Rückgang von ca. 30 Prozent gegenüber der Zeit vor Corona, ähnlich also wie in Deutsch­land. Für Abhilfe am Besu­cher­rück­gang sollen jetzt Super­heros Made in France sorgen. Hoffent­lich nur ein dummes Gerücht.

Davon ist zumindest in dieser dichten Filmwoche zum fran­zö­si­schen Kino nichts zu spüren, im Gegenteil. Die vielen hoch­karä­tigen Filme beweisen, dass Frank­reich eine ganz neue Film­fa­milie hervor­ge­bracht hat, zum Beispiel im Umfeld von Sandrine Kiberlain, die erstmals Regie führt. Ihr Film Une jeune fille qui va bien handelt von einem 19-jährigen jüdischen Mädchen im Paris der 1940er Jahre, das ans Theater will. Der Film ist angelehnt an die Geschichte ihrer eigenen Familie, jüdisch-polni­scher Immi­granten, und insbe­son­dere an die Geschichte ihrer Groß­mutter, verkör­pert von Rebecca Marder, die man auch schon im Film von Kiber­lains Tochter Suzanne Lindon (der Vater ist, ja richtig, Vincent Lindon) gesehen hat, in dem bezau­bernden und doch auch mutigen Seize printemps (Frühling in Paris) (Fr 25.11. 18:15)

Richtig familiär wird es dann mit dem »Liaison dange­reuse«-Film Chronique d’une liaison passagère (Tagebuch einer Pariser Affäre) von Emmanuel Mouret. Anders als der Arthouse-Main­stream sind die fein­sin­nigen Komödien des in Marseille geborenen Regis­seurs (Les choses qu’on dit, les choses qu’on fait) bei uns noch nicht ins Kino gekommen. Wie im Vorgän­ger­film spielt wieder Vincent Macaigne mit, ebenfalls eine Größe des fran­zö­si­schen Kinos (und im Übrigen auch des Theaters), den es hier­zu­lande noch zu entdecken gilt. Im Interview mit artechock spricht er über Mourets Insze­nie­rungs­kunst, über die schnellen Dialoge und darüber, dass das Filme­ma­chen in Frank­reich der großen Lust gehorcht, einfach Zeit mitein­ander verbringen zu wollen – wie in einer Kino­fa­milie, mit der man seine echte Familie: betrügt.
(Di 29.11. 18:15)

Ob Vincent Macaigne sich als Nach­folger des letztes Jahr verstor­benen (ja, leider…) Jean-Pierre Bacri eignet, lässt sich ebenfalls in dieser dichten Woche fest­stellen. Auch Bacri gehörte an der Seite von Agnès Jaoui einer Film­fa­milie an, zusammen haben sie zahl­reiche Komödien gemacht. Als Hommage zeigt das Theatiner Comme une image (Schau mich an!), von 35mm, was wieder einmal als Sensation gelten darf. (So 27.11. 15:30)

Weniger bürger­lich wird es mit zwei Filmen, die dennoch großen fran­zö­si­schen Tradi­tionen folgen. Domink Molls La nuit du 12 lässt sich dem Gangster- bzw. Poli­zei­film zuschlagen, in der Verhör auf Verhör folgt. Das erinnert an Maurice Pialats Police, mindes­tens. (So 27.11. 18:00)

In Emma Benestans Lang­film­debüt Fragile geht es in die südfran­zö­si­sche Hafen­stadt Sète, wo angelehnt an das Zwit­ter­wesen der dort gezüch­teten Austern in einer franko-alge­ri­schen Community die Geschlech­ter­rollen umgekehrt werden. Die Regis­seurin hat als Filmedi­torin bereits in Abdel­latif Kechiches umstrit­tenen Blau ist eine warme Farbe über eine lesbische Liebe assis­tiert, hier insze­niert sie mit sicherer Hand Oulaya Amamra, die bereits in Divine absolut göttlich war. (Mo 28.11. 18:15)

Um die Sehnsucht nach Familie, wenn die alte zerbro­chen ist, geht es schließ­lich im Eröff­nungs­film der Filmwoche Les passagers de la nuit (Passa­giere der Nacht) von Mikhaël Hers, den es hier­zu­lande ebenfalls noch zu entdecken gilt. Charlotte Gains­bourg trifft darin auf Emma­nu­elle Béart, die man seit den Filmen von Jacques Rivette und Claude Chabrol nicht mehr auf der deutschen Leinwand gesehen hat. Es geht um den Neuanfang im Berufs­leben, hier als Radio­mo­de­ra­torin einer Late-Night-Sendung, die Gestrau­chelte der Nacht aufpickt und sich eine neue Familie schafft. (Do 24.11. 20:30)

Filme zu machen sei nur ein Vorwand dafür, mitein­ander Zeit zu verbringen, hat Vincent Macaigne im Interview gesagt. Das wollen wir ihm gerne glauben. Und außerdem bleibt fest­zu­stellen: Auch nach dem Tod der Nouvelle Vague ist das fran­zö­si­sche Kino quick­le­bendig.