01.07.2021

Es wird nie wieder Schnee geben

SNIEGU JUZ NIGDY NIE BEDZIE
Der Abschlussfilm ist von Małgorzata Szumowska, polnische Starregisseurin
(Foto: ŚNIEGU JUŻ NIGDY NIE BĘDZIE / Mittel Punkt Europa Filmfest)

Das MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST zeigt neueste Filme aus Mittel- und Ost-Europa und präsentiert als diesjährigen Schwerpunkt Belarus. Außerdem im Programm ist Der Masseur der polnischen Starregisseurin Małgorzata Szumowska

Von Tatiana Moll

Die gute Nachricht: Auch dieses Jahr kann das MITTEL PUNKT EUROPA FILMFEST wieder physisch am Gasteig statt­finden, wie noch letztes Jahr, als es gerade noch vor dem ersten Shutdown durchkam. Als Termin wurde diesmal der 5.-11. Juli gewählt, noch ohne zu ahnen, dass sich das Filmfest München parallel auf diesen Termin schieben würde. Das soll dem Schwer­punkt auf das östliche Mittel­eu­ropa aber keinen Abbruch tun, im Gegenteil können so entspannt Filme im Kino gesehen werden, während das Filmfest München zu einer Open-Air-Edition einlädt. Ein weiteres Argument für den Besuch von MITTEL PUNKT EUROPA ist die Teilnahme des Gast­landes Belarus, vertreten durch zwei Doku­men­tar­filme von höchster Aktua­lität.

Die neun Filme des Festivals, allesamt preis­ge­krönt, taumeln zwischen trau­ma­ti­scher Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, wenig harmo­ni­scher Gegenwart sowie unsi­cheren Blicken und leicht durch­schim­mernder Hoffnung in die Zukunft.

Eröffnet wird das Film­fes­tival mit einem hervor­ra­genden Drama des polni­schen Regis­seurs Piotr Doma­lewski Jak najdalej stad (I Never Cry) (PL 2020): Das auf wahren Bege­ben­heiten basie­rende Road-Movie, das als Zusam­men­stoß eines zynischen, kühnen Teenager-Mädchens mit der euro­päi­schen Büro­kratie in Irland beginnt, entwi­ckelt sich zu einer inten­siven Story über das beschleu­nigte Erwach­sen­werden und das Über­denken eigener Werte und Wünsche. Eine schwie­rige Reise durch die Vergan­gen­heit und Gegenwart vom Wunsch­denken zur Realität. In ihrer ersten Haupt­rolle brilliert die großar­tige Zofia Stafiej, die den Film durch ihre Präsenz von Anfang an bis zum Ende ausfüllt. (Carl-Amery-Saal (CAS), Gasteig, Mo 05.07.2021, 19:00).

Nicht nur Jak najdalej stad beruht auf wahren Ereig­nissen, sondern auch zwei weitere Spiel­filme – Krajina ve stinu (Shadow Country) des tsche­chi­schen Regis­seurs Bohdan Sláma sowie Služob­níci (Servants) des slowa­ki­schen Regis­seurs Ivan Ostro­ch­ovský. Der Unter­schied zum polni­schen Coming-of-Age-Drama liegt in der Bewäl­ti­gung der histo­ri­schen Vergan­gen­heits­trau­mata. Der Gewinner des Böhmi­schen Löwen Krajina ve stinu (CZ 2020) erzählt in doku­men­ta­risch einge­hauchtem Schwarz­weiß von der Suche der Einwohner eines südböh­mi­schen Dorfes nach einer eigenen natio­nalen Identität, vom Kampf Natio­na­lismus und Kommu­nismus, vom tragi­schen Schicksal unschul­diger Menschen in Folge des Zweiten Welt­krieges und danach. Zerrissen zwischen zwei propa­gan­dis­ti­schen Lagern werden die Menschen in ihrer ganzen Komple­xität zwischen Fana­tismus und Oppor­tu­nismus, Rache und Barm­her­zig­keit, Neid und Wohl­wollen, Feigheit und Mut darge­stellt. Eine bewegende Geschichte aus einer nicht allzu fernen Vergan­gen­heit. (CAS, Di 06.07.2021, 19:00)

Im Film von Ivan Ostro­hovský Služob­níci (Servants) (SK/ RUM/ CZ/ IRL 2020) rückt die belas­tende Vergan­gen­heit der mit dem tota­li­tären kommu­nis­ti­schen Staat kolla­bo­rie­renden katho­li­schen Kirche in der Slowakei deutlich näher an die Gegenwart heran, in die 80er. Am Schei­deweg stehend, müssen sich zwei in einem Pries­ter­se­minar neu ange­kom­mene Semi­na­risten gemäß ihrer Moral­prin­zi­pien posi­tio­nieren und einen mit ihrem Gewissen zu verein­ba­renden Entschluss treffen, auch wenn sie sich dadurch in Todes­ge­fahr begeben. Auch hier oszil­lieren die Charak­tere zwischen Angst und Loyalität, Geis­tes­s­tärke und Nich­tig­keit, Glau­bens­treue und Oppor­tu­nismus, was durch eine faszi­nie­rende Kame­rafüh­rung verstärkt wird. (CAS, Sa 10.07., 20:00)

Die meisten Dramen des Film­fes­ti­vals spielen sich jedoch in der Gegenwart ab, auch wenn in vielen ihrer Szenen Über­bleibsel aus der Vergan­gen­heit durch­schim­mern. Ein Para­de­bei­spiel hierfür ist das Kammer­spiel Vlastníci (Owners) des tsche­chi­schen Regis­seurs Jiří Havelka. Der mit dem Böhmi­schen Löwen ausge­zeich­nete Film porträ­tiert auf gnadenlos sati­ri­sche Weise die moderne tsche­chi­sche Gesell­schaft als ein Sammel­su­rium von Menschen, die zum einen unfähig und unwillig sind, Kompro­misse zu schließen oder im Sinne des Wohl­wol­lens ihrer Mitmen­schen zu handeln, selbst wenn es nur ein wenig von ihrer eigenen Vision abweicht. Und wenn die Zeit für eine Entschei­dung kommt, verste­cken sich die Strei­tenden und über­lassen ihr Leben im verant­wor­tungs­vollsten Moment irgend­wel­chen Schurken, und das ohne geringste Skrupel. Zum anderen werden den Zuschauer*innen die poli­ti­schen Ansichten und Menta­li­täten dieses sozialen Mikro­kosmos vor Augen geführt, welche von Homo­phobie, Into­le­ranz, Xeno­phobie und allge­meiner Feind­se­lig­keit, gemischt mit einer gewissen Melan­cholie ange­sichts der kommu­nis­ti­schen Vergan­gen­heit, durch­drungen sind. Eine grandiose schau­spie­le­ri­sche Leistung! (Sa 10.07., 17:00)

Ähnlich, nur deutlich aggres­siver, geht es im Episo­den­film Békeidő (Treasure City) (HU 2020) des Regis­seurs Szabolcs Hajdu zu: Budapest erscheint hier als Ort zwischen­mensch­li­cher Dramen, Gewalt­tä­tig­keiten, Feind­se­lig­keiten sowie hoff­nungs­loser Into­le­ranz. (CAS, Do 08.07., 19:00)

Mit einer ganz anderen Thematik (sehr erfri­schend!) beschäf­tigt sich ein weiterer unga­ri­scher Film Felkés­zülés megha­táro­z­atlan ideig tartó együtt­létre (Prepa­ra­tions to be together for an unknown period of time) (HU 2020) der Regis­seurin Lilli Horvát: Es handelt sich um ein rätsel­haftes psycho­lo­gi­sches Liebes­drama mit Anklängen an den Film Noir, dessen Sujet so doppel­bödig ist, dass die Haupt­dar­stel­lerin Márta selbst an ihrer eigenen Wahr­neh­mung zu zweifeln beginnt und zwischen Realem und Imaginärem langsam nicht mehr unter­scheiden kann. Das Ganze erinnert sehr stark an das taumelnde Gefühl aus Hitch­cocks Vertigo, mit einem Unter­schied, dass sich an Stelle von Scotty eine Frau befindet, die nicht mehr begreift, ob sie die Begegnung mit dem Mann, wegen dem sie alles hinge­schmissen hat, viel­leicht nur erfunden hat. Und dennoch ist sie erstaun­lich stark und kühn genug, um weiter­zu­gehen, und ihre Liebe, sei sie nun erfunden oder real, nicht aufzu­geben. Ein fesselnder, sehens­werter Film! (CAS, So 11.07., 17:00)

Apropos Kühnheit: So heißt der Debütfilm Courage (D 2021) des bela­rus­si­schen Regis­seurs Aliaksei Paluyan, der von einem jahr­zehn­te­langen Kampf gegen das herr­schende tota­li­täre Macht­re­gime Luka­schenkos in Belarus erzählt. Der Film handelt vom unglaub­li­chen Mut der dort lebenden Menschen, die trotz aller ihnen drohender Gefahren für eine bessere Zukunft demons­trieren, und zugleich von deren absolut nach­voll­zieh­barer Angst und Unge­wiss­heit, was der neue Tag mit sich bringt. Eine Geschichte, die die ganze Palette der Gefühle offenbart: ange­fangen mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und großer Euphorie während der fried­li­chen Proteste nach den Wahlen 2020, bis hin zu Zweifeln an einem möglichen Wind der Verän­de­rungen, der sich zu einer tiefen Verzweif­lung entwi­ckelt, wenn die Demons­tranten fest­ge­nommen werden. Der Film zeigt einer­seits große coura­gierte Menschen­massen auf den Straßen von Minsk, ande­rer­seits jedoch Einsam­keit und Isolation des Indi­vi­duums anhand von drei Prot­ago­nisten aus der Under­ground-Thea­ter­welt in der bela­rus­si­schen Gesell­schaft, in der letzt­end­lich jeder für sich ist und bleibt. Sehr bewegend! (Fr 09.07.2021, 19:00, im Anschluss Film­ge­spräch mit dem Regisseur)

Etwas humor­voller und sorgloser wird die weiß­rus­si­sche Gesell­schaft in ihrem post­so­wje­ti­schen Kontinuum im zweiten bela­rus­si­schen Doku­men­tar­film des Festivals Strip And War (BLR, PL 2019) des Regis­seurs Andrej Kutsila porträ­tiert: Zwei Welten in Form von zwei Genera­tionen und eine unüber­wind­bare Kluft zwischen ihnen sowie zwischen ihren Lebens­vor­stel­lungen und Wert­sys­temen. Mit Witz und Augen­zwin­kern werden die Prot­ago­nisten des Films, Großvater und Enkelsohn, die in einer engen Zwei-Zimmer-Plat­ten­bau­woh­nung zusam­men­hausen, gegenü­ber­ge­stellt. Als ein fest über­zeugtes Relikt der kommu­nis­ti­schen Vergan­gen­heit und als ein junger Vertreter einer westlich orien­tierten weiß­rus­si­schen Gesell­schaft könnten sie kaum unter­schied­li­cher sein, raufen sich aber trotzdem zusammen. Ein ironi­sches und zugleich liebes­volles Bild über das Koexis­tieren zweier scheinbar inkom­pa­ti­bler Welten, die dennoch friedlich mitein­ander auskommen. (Fr 09.07., 21:00)

Abge­schlossen wird MITTEL PUNKT EUROPA mit Śniegu już nigdy nie będzie / Der Masseur (PL/D 2021) der polni­schen Star­re­gis­seurin Małgorzata Szumowska über einen jungen ukrai­ni­schen charis­ma­ti­schen Mann namens Zhenja (Alec Utgoff) aus Tscher­nobyl, der mit Hilfe seiner tele­pa­thi­schen Kräfte polnische neuro­ti­sche Neureiche von innen und außen zu heilen versucht. Auch dies ist ein Film über zwei Welten, in welchen persön­liche, soziale und ökolo­gi­sche Dramen subtil mitein­ander verwoben sind. Der Origi­nal­titel „Es wird nie wieder Schnee geben“ verweist auf den globalen Klima­wandel, und auf die Einsam­keit und Hoff­nungs­lo­sig­keit der polni­schen Upper­class-Gesell­schaft und den Verlust ihrer eigenen Identität. Die Regis­seurin bedient sich direkter Zitate aus Tarkovskys Stalker (UDSSR 1979) oder Serkalo (Der Spiegel) (UdSSR 1975) bei der Schil­de­rung von Zhenjas Kindheit aus Tscher­nobyl, die aus Erin­ne­rungen an seine Mutter (als Rücken­figur wie die Mutter in Serkalo), an das Glas, das er mit seinen tele­pa­thi­schen Kräften bewegen kann (wie die Tochter aus Stalker), an Licht und Rauch und an Flocken aus radio­ak­tivem Schnee besteht. Zudem veredeln diese Zitate immer wieder sein Wesen, der wie Tarkovskys Stalker Menschen zu ihrem Glück und ihren innigsten Wünschen verhelfen möchte, auch wenn der Prot­ago­nist in der Gegend von weißen, ähnlich ausse­henden polni­schen Villen weit weg von der Figur des Stalkers entfernt ist. Dennoch erscheint er in dieser Siedlung wie eine Hoffnung aus dem für die polnische Wahr­neh­mung »fernen Osten«, wie der lang­ersehnte Schnee. (CAS, So 11.07., 19:30)

So lässt Szumowskas Abschluss­film von MITTEL PUNKT EUROPA (parallel dazu gibt es vom Filmfest München eine Hommage auf Mubi) trotz aller Kata­stro­phen dennoch eine kleine Hoffnung in unseren Herzen aufkeimen, auch wenn sie zum Teil mit Gefühlen von Angst, Unge­wiss­heit und Verzweif­lung vermischt sein mag. Hoffnung auf den Neuanfang, auf die Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, auf Toleranz und Akzeptanz und auf eine große Liebe.