Kinos in München – Montag ist Kinotag
Montag ist Kinotag |
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Warten auf den Beginn des nächsten Films |
Von Dunja Bialas
Warteschlangen gibt es derzeit überall zu bewundern. Vor dem Corona-Testzentrum am Deutschen Museum in München zum Beispiel hat sich eine Schlange entlang der Isar gebildet. Es ist Montag, kurz vor 18 Uhr, zum Shoppen oder für den Oma-Besuch wird hier jetzt wohl nicht mehr angestanden.
Auch die Warteschlange vor dem Studio Isabella eine halbe Stunde später hat wohl einige Fragen aufgeworfen. Etliche Passanten bleiben stehen, schauen aus sicherer Entfernung zum Kino rüber. Auch hinter den Wohnzimmerfenstern regen sich Neugierige. Aufgereiht steht da ein Dutzend Menschen vor dem verschlossenen Kinoeingang. Schwarze Silhouetten, rätselhafte Schattenwesen in der hereinbrechenden Dämmerung. »Wir warten auf den Beginn des nächsten Films«, sagen sie auf Nachfrage. Alle tragen eine FFP2-Maske, keiner skandiert einen Spruch. Nein, das ist keine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen, wie sie zum Fremdschämen zwei Tage vorher mit einer Polonaise auf dem Münchner Marienplatz stattfand.
Im Gegenteil. In der Schlange findet sich auch ein Mitarbeiter eines Kinos, der überlegt, was zu tun sei, wenn am kommenden Montag tatsächlich die Inzidenzzahl in München noch unter 100 liegen sollte, und das Kino gemäß des kürzlich auf Bundesebene ausgeklügelten Stufenplans geöffnet werden könnte. »Schnelltests bräuchte es dazu«, sagt er, aber die kann man in der Stadt nur schwer finden – kaum eine Apotheke bietet sie an, die Schlangen vor den Testzentren sind lang, und als Kinomitarbeiter will er auch nicht seinem Publikum in der Nase herumfuhrwerken. Und überhaupt: Wer würde schon derartige Umstände auf sich nehmen, um ins Kino zu gehen?
In Tübingen dürfen bereits seit dieser Woche die Kinos wieder öffnen, ebenso wie die Theater und die Gastronomie. In einem bundesweit einzigartigen Modellversuch wurden überall in der Stadt dezentrale Testzelte errichtet, die den Menschen Tagespässe für den Einkauf, fürs Café oder auch den Theater- und Kinobesuch ausstellen. Anders als die Theater, die seit Wochen Stücke einproben, finden aber einige Kinobetreiber in Tübingen, dass es ohne neue Kinofilme nichts vorzuführen gibt. Dennoch sind Sondervorstellungen für das kommende Wochenende angekündigt: Das Arsenalkino (mit hauseigenem Verleih) zeigt Rosas Hochzeit, den neuen Film von Icíar Bollaín, die oscarnominierten Werke Der Rausch von Thomas Vinterberg und Minari des Südkoreaners Lee Isaac Chung. Außerdem Aznavour by Charles und passend zum 90. Geburtstag von Janosch Komm, wir finden einen Schatz. Von wegen: Es gäbe keine Filme, die man zeigen könnte.
Der Münchner Kinobetreiber, der sich in die imaginäre Einlassschlange vor dem Isabella eingereiht hat, sieht das ähnlich. »Wir könnten sofort eine Menge Filme spielen, die wir nicht mehr richtig zeigen konnten, weil der Shutdown so schnell kam.« Außerdem musste das Kino einem Festival absagen, das jetzt nahezu sofort sein geplantes Programm reaktivieren könnte. Andere Veranstaltungen, die traditionell im Haus stattfinden, sind jetzt im Stream, auch die könnte man ins Kino holen. Oder die Filme des LUX-Publikumspreises. Nominiert sind die drei Oscar-Kandidaten Der Rausch (Thomas Vinterberg), Kollektiv – Korruption tötet (Alexander Nanau) und Corpus Christi (Jan Komasa).
Nicht die Filme fehlen. Das entscheidende Hindernis für die anvisierte Kinoöffnung ist – neben der zu vermutenden Zurückhaltung des Publikums – die von Spahn und Söder angekündigte Test-Infrastruktur, die es aber einfach nicht gibt. Die städtischen Theater in München, die in den nächsten Tagen ihren Spielbetrieb wiederaufnehmen, lösen das Problem durch Testungen vor Ort. Die Privat-Theater aber bleiben zu, genau wie die Kinos. Denn wird der Spielbetrieb erst einmal aufgenommen, fallen die Corona-Ausgleichszahlungen weg, auf die die subventionierten Häuser nicht angewiesen sind. »Aber das wäre zu verschmerzen«, sagt auf Nachfrage ein Kinobetreiber am Telefon, der unverdrossen mit Pop-up-Popcorn-Straßenverkauf sein Kino beim Publikum in Erinnerung hält. Die November- und Dezemberhilfen waren sehr gut, erzählt er, jetzt pendele sich das in Ausgleichszahlungen ein, eine Summe, die auch bei reduziertem Spielbetrieb eingenommen werden könnte. »Ob auf oder zu, macht jetzt keinen Unterschied mehr.« Beides sei derzeit gleich schlecht. Er zumindest will nicht vor Ende April öffnen.
Wenn die Kinos lange zu sind, könnten sie in Vergessenheit geraten, befürchten die Menschen, die jetzt vor dem Kino in der Maxvorstadt auf dessen Öffnung warten – zumindest symbolisch. Gerade bei den Jüngeren, so die Befürchtung, ist Kino keine kulturelle Praxis mehr, also etwas, was man gewohnheitsmäßig macht, weil es zum Leben einfach dazugehört.
Ein positives Signal geht deshalb vom Netflix-Einstieg in den Kinosektor aus. Der liegt zwar schon etwas zurück, bekommt jetzt aber mit der Kino-Wiederöffnung in New York und Los Angeles nach einem Jahr Corona-Koma noch einmal Aufmerksamkeit. In New York hatte sich der Streamingmogul im November 2019 in das letzte Ein-Leinwand-Kino Manhattans eingemietet, ins Paris Theater mit über 550 Sitzplätzen, und es damit im Bestand gerettet. Ein Bekenntnis fürs Kino, das für die nächsten zehn Jahre gelten soll, so lange läuft der Mietvertrag. Hier wird Netflix seine Filme auf der großen Leinwand zeigen, seine eigenen Produktionen durch die Kinovorführung aufwerten – wenn es zum Beispiel für die Oscars oder Festivalteilnahmen wie Cannes verlangt wird. Unabhängig von diesen nachvollziehbaren Eigeninteressen aber geht vom Netflix-Kinosaal auch ein positives soziokulturelles Zeichen aus: Filme sind für die große Leinwand mit Kinosound gemacht, und für das gemeinsame Sehen.
Auch die Menschen, die sich vor dem Münchner Studio Isabella eingefunden haben, wollen Filme im Kino sehen – und zeigen. Sie sind überwiegend Dokumentarfilmemacher*innen, die ihre Werke für den 5.1-Dolby-Surround-Kanal angelegt haben, nicht für Airpods-Stecker. Auch wenn viele ihrer Kolleginnen und Kollegen erleichtert sind, wenn in Corona-Zeiten Filme durch Netflix übernommen werden, wie zum Beispiel Julia von Heinz mit dem kurz vor dem November-Shutdown gestarteten Und morgen die ganze Welt, wollen sie doch vor allem, dass ihre Filme im Kino gesehen werden. Dominik Graf hat deshalb seinen Berlinale-Wettbewerbsfilm Fabian oder Der Gang vor die Hunde der deutschsprachigen Presse nicht im Stream freigegeben und stattdessen eine Kinovorführung für die Berliner Journalisten organisiert, ebenso wie Daniel Brühl mit Nebenan.
Es kündigt sich jedoch gerade eine weitere Saison an, in der Filme überwiegend im Stream zu sehen sein werden. Wie es nach dieser ausgeprägten Wohnzimmererfahrung dann wohl mit den Kinos weitergehen wird?
In der Münchner Isabellastraße ist man sich zumindest einig, dass jetzt erst einmal jeder Montag »Kinotag« sein soll. Um sich zu treffen, um zu reden, um Ideen zu entwickeln. Und um auf die Situation der Kinos aufmerksam zu machen. Ob man das anmelden muss? Vermutlich ist das Treffen an diesem nasskalten Montag gemäß der aktuellen bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung gar nicht zugelassen. Wenn man sich im großen Abstand mit FFP2-Maske im Freien auf dem Gehweg trifft: Verstößt man dann gegen Corona-Regeln? Ist das schon unerlaubte Grüppchenbildung, am Ende gar eine Demo?
Denn auch wenn es keine Plakate und keine Transparente gibt: Das stumme Anstehen, das vergebliche Warten auf den Beginn des nächsten Films, setzt ein Zeichen.