11.03.2021

In der Welt der erwachsenen Kinder

Sommerflirren
Bester Film im Wettbewerb Generation Kplus: Han Nan Xia Ri (Sommerflirren)
(Foto: Berlinale Presseservice)

Die Kinder- und Jugendsektion der Berlinale – Generation Kplus & 14plus – zeigt vor allem altersgruppen- und damit auch sektionen-übergreifende Filme, die andeuten, dass es mit den »kindlichen« Kindheiten wohl nun endgültig vorbei ist, im Film wie auch in der Realität

Von Christel Strobel & Axel Timo Purr

Berlinale Gene­ra­tion Kplus

Insgesamt acht Langfilme Kplus waren für den dies­jäh­rigen Wett­be­werb von Gene­ra­tion ausge­wählt worden, die nun – je nach Ausstat­tung, insbe­son­dere was das Format betrifft – am heimi­schen Bild­schirm gesichtet werden konnten.
Obwohl die Erin­ne­rung an die Kinosäle voller quirliger und begeis­terter Kinder vom vorigen Jahr noch mal lebendig wurde und ein bisschen wehmütig machte, wurde die tägliche Online-Sichtung schließ­lich zur Routine, ebenso wie der kolle­giale Austausch per Telefon.

Any Day Now (Ensilum / Erster Schnee, Finnland 2020), das Lang­film­debüt des finnisch-irani­schen Regis­seurs Hamy Ramezan, basiert auf seinen eigenen Erfah­rungen als Flücht­lings­kind. Hier ist es der 13-jährige Ramin Mehdipour, der mit seinen Eltern und der kleinen Schwester schon lange in einer Flücht­lings­un­ter­kunft in Finnland lebt. Die Familie hält zusammen, geht liebevoll mitein­ander um und trifft sich auch gerne mit anderen irani­schen Bewohnern in unbe­schwerter Stimmung, aber auch mit soli­da­ri­scher Unter­s­tüt­zung. Die Ablehnung ihres Asyl­an­trags aber ist für die Familie Mehdipour ein herber Schlag, ihnen bleibt noch ein letzter Einspruch. Während­dessen beginnt für Ramin ein weiteres Schuljahr mit neuen, aufre­genden Erleb­nissen, zum Beispiel im Tanzkurs. Als mitten im Unter­richt zwei Poli­zisten an der Tür erscheinen, um Ramin zu holen, reagiert die Klasse mit Entsetzen und Tränen. Mit dieser stillen wie beklem­menden Szene endet der emotional berüh­rende Film und bietet damit auch eine Menge Gesprächs­stoff, u.a. über die Praxis der Abschie­bung von Asyl­be­wer­bern, die inzwi­schen gut inte­griert in ihrer neuen Umgebung sind, ein Thema, das auch für Kinder in unserer Gesell­schaft kein Tabu ist.

Hamy Ramezan, 1974 in Teheran geboren, musste als Sieben­jäh­riger mit seiner Familie – um dem Iran-Irak-Krieg zu entkommen – seine Heimat verlassen. Über Stationen in Istanbul und Flücht­lings­lager in Jugo­sla­wien landeten sie schließ­lich in Finnland. Sein Film­pro­jekt »war ein harter Job, Fakten und Fiktion unter einen Hut zu bringen. … Man kann nicht Szene für Szene seine eigene erlebte 'Wahrheit' anein­an­der­reihen. Das Kino ist eine Welt mit eigenen Regeln. Der Film hat einen ausge­wo­genen Umgang mit Fakten und ist emotional, filmisch, nah an der Wahrheit.«

Mit Beans (Kanada 2020) war ein weiterer auf den eigenen Kind­heits­er­fah­rungen beru­hender Film im Programm von Gene­ra­tion Kplus zu sehen. Im Mittel­punkt des Gesche­hens steht die 12-jährige Tekehen­tahkhwa von den Mohawks, einer indigenen Gruppe im Gebiet von Québec, genannt wird sie aber immer mit ihrem Spitz­namen »Beans«. Sie lebt mit ihrer Familie im Mohawk-Reservat, hält sich von den wilden Kindern in der Nach­bar­schaft fern und kümmert sich rührend um ihre jüngere Schwester. Ihr Vater aller­dings erzieht sie hart, weil er Beans Sensi­bi­lität als Schwäche deutet, aber ihre Mutter setzt große Hoff­nungen in sie, und das führt immer wieder zu Ausein­an­der­set­zungen der Eltern. Diese familiäre Diskus­sion tritt in den Hinter­grund, als ein fried­li­cher Protest im benach­barten Reservat in eine bewaff­nete Ausein­an­der­set­zung ausartet. Grund dafür ist eine Grab­stätte, die einem Golfplatz weichen soll, den die Stadt Oka, die nicht zum Gebiet der Mohawks gehört, dort errichten will. Innerhalb kürzester Zeit sind sie im Reservat von der Außenwelt isoliert, die Anfein­dungen werden hand­greif­lich und eska­lieren. Da sucht Beans Kontakt zu dem stärksten Mädchen aus der Gruppe, die sie vorher gemieden hat, und kämpft mit unge­wohnter Härte. Doch auf die rassis­ti­sche Gewalt der Bewohner von Oka ist Beans nicht vorbe­reitet, steigert sich aber in eine große Wut. Erst als sie bemerkt, wie sie mit ihren unüber­legten spontanen Hand­lungen die Menschen, die ihr nahe und wichtig sind, gefährdet, kommt sie zur Besinnung.

Die Regis­seurin Tracey Deer notierte zu diesem Projekt: »Ich war 'Bohne'. Ich war 12 Jahre alt und erlebte eine bewaff­nete Patt­si­tua­tion zwischen meinem Volk und der Regierung von Québec und Kanada, bekannt als die Oka-Krise. (11. Juli bis 26. September 1990.) Die Mohawk-Nation von Kane­sa­take und Kahnawà:ke stellte sich gegen einen gewal­tigen Tyrannen – und gewann. In jenem Sommer wusste ich, dass ich Filme­ma­cherin werden wollte und schwor mir, eines Tages diese Geschichte zu erzählen.« Tracey Deer, deren enga­gierte und viel­sei­tige Medi­en­ar­beit schon mehrfach mit Preisen gewürdigt wurde, hat mit Beans ein außer­ge­wöhn­li­ches Werk geschaffen, das ein hier­zu­lande eher unbe­kanntes Ereignis authen­tisch vermit­telt – ein wichtiger Film fürs junge Publikum.

Auf ganz anderem Terrain ist Mission Ulja Funk unterwegs, der einzige deutsche Beitrag (in Kopro­duk­tion mit Polen und Luxemburg) bei Gene­ra­tion. Der Debütfilm der vorma­ligen Soft­ware­ent­wick­lerin und jetzigen Medi­en­pro­du­zentin, Dreh­buch­au­torin und Regis­seurin Barbara Kronen­berg entstand im Rahmen der Initia­tive Der besondere Kinder­film, dessen Beson­der­heit darin liegt, dass es keine der gängigen Best­seller-Kinder­buch­ver­fil­mungen, sondern ein Film nach einem Origi­nal­dreh­buch ist. Eine weitere Beson­der­heit der »Mission« ist das Milieu, in dem sich Ulja Funk bewegt, nämlich in einer russ­land­deut­schen Familie und darüber hinaus Gemeinde, was ja eher nicht vorkommt im deutschen Film. Und dort, an einem Sonntag in der Frei­kirch­li­chen Gemeinde, beginnt der Film: Ulja, 12 Jahre und begeis­terte Forscherin, widmet sich intensiv dem Weltall und hat soeben einen kleinen Aste­ro­iden entdeckt, der auf dem Flug zur Erde in ein paar Tagen in Belarus aufschlagen wird. Aber die Sonn­tags­ge­meinde in ihrem Nest inter­es­siert sich so gut wie gar nicht für Uljas Forschungs­er­gebnis. Kurzer­hand macht sie sich mit ihrem Schul­freund Henk am Steuer des »gelie­henen« Leichen­wa­gens ihrer Eltern auf die Strecke. Natürlich wird es immer wieder mal knapp im Abstand zu dem Kleinbus, mit dem die Frei­kirch­li­chen sie schon bald verfolgen, und besonders Uljas Oma Olga hat es sich zum Ziel gesetzt, die Enkelin auf den rechten Glaubens-Weg zurück­zu­bringen – Asteroid hin oder her.

Dieses Roadmovie – mit Ecken und Kanten – ist so rasant wie schräg, dass ich ihm bedin­gungslos gefolgt bin, auch wenn die Jung­for­scherin mit ihren strengen Ansagen nicht so sympa­thisch wirken mag. Im Kino – der Film hat bereits einen Verleih und sitzt sozusagen in den Start­löchern – wird er sein Publikum finden.

Eine Über­ra­schung war der Große Preis der inter­na­tio­nalen Jury für den Besten Film im Wett­be­werb Gene­ra­tion Kplus (dotiert mit 7.500 Euro gestiftet vom Deutschen Kinder­hilfs­werk) an den chine­si­schen Film Han Nan Xia Ri (Sommer­flirren).
Han Shuai, Regis­seurin und Dreh­buch­au­torin, macht in ihrem Spielfilm-Debüt mit feinem Gespür, gleich­wohl unbe­stech­li­chem Blick die schwie­rige Phase der Pubertät einer Drei­zehn­jäh­rigen, die im Wesent­li­chen auf sich allein gestellt ist, sichtbar. Guo, das unan­ge­passte Mädchen, wurde von ihrer Mutter zu Beginn der Sommer­fe­rien zu Verwandten nach Wuhan geschickt, während sie selbst sich in Shanghai ein neues Leben einrichtet. Von der Tante, streng und verhärmt, erfährt Guo keine Zuwendung oder gar Hilfe. Auch Zhao You, ein etwa gleich­alt­riger Junge, der das Mädchen gern sieht, dessen Blicke aber auch irri­tie­rend auf sie wirken, trägt unbewusst zu Guos Unsi­cher­heit bei. Als sie endlich die Möglich­keit hat, mit Tante und Cousine nach Shanghai zu fahren, hat Guos Mutter keine Zeit für ihre Tochter. Der stre­cken­weise sehr düstere, bedrü­ckende Film kann auch symbol­haft für die gegen­wär­tige Atmo­sphäre dieses Landes gesehen werden.

Aus der Jury-Begrün­dung: … In diesem Sommer­mär­chen, das immer wieder in einen Alptraum abzu­gleiten droht, ist in jeder Sekunde die Hitze spürbar, die schwüle Luft und der Druck, der auf der Haupt­figur lastet. Dabei bleibt der Fokus stets auf den Gefühlen und Wahr­neh­mungen der Kinder, wodurch sich der Schmerz, der die Suche nach sich selbst und dem eigenen Weg begleitet, nach­emp­finden lässt.

Der Drehort Wuhan weckt unwill­kür­lich den aktuellen Bezug und Han Shuai sagt hierzu: »Als wir an dem Buch arbei­teten, brach in Wuhan die Covid-19-Epidemie aus, und das starke Gefühl des Schick­sals, der Aufop­fe­rung und der Angst, in einer isolierten Stadt gefangen zu sein, löste einige starke Reak­tionen aus. Am Ende haben wir uns entschieden, den ursprüng­li­chen einfachen Ausdruck des Films beizu­be­halten, aber die Stimmung, die während des Schnitts von der Realität beein­flusst wurde, ist bis zu einem gewissen Grad in den Stil des Films einge­gangen.«

Eine Lobende Erwähnung der Fachjury ging an den argen­ti­ni­schen Film Una Escuela en Cerro Huesco (Eine Schule in Cerro Huesco), was insofern nicht ganz vers­tänd­lich ist, als es sich hier um einen Film handelt, der eindeutig die Sicht der Erwach­senen vermit­telt. Es geht um Julia und Antonio, beide Biologen, deren sechs­jäh­rige Tochter Ema aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung nicht spricht. Auf der Suche nach einer geeig­neten Schule haben die Eltern bereits 17 Fehl­ver­suche hinter sich, als schließ­lich die Schule in Cerro Huesco die Anmeldung für Ema entge­gen­nimmt, was aber auch einen Umzug der Familie bedeutet. Die Regis­seurin Betania Cappato begleitet in diesem fiktio­nalen Spielfilm mit behut­samer Anteil­nahme die Eltern, deren ganze Sorge und Aufmerk­sam­keit ihrer zerbrech­lich wirkenden Tochter gilt. Ema selbst macht kaum sichtbare Fort­schritte, man sieht sie zwischen­durch immer wieder allein und in einem fast unbe­merkten Augen­blick einen Laut formen. Aus der Begrün­dung der Jury: »Durch diese wunder­schöne, herz­er­wär­mende und starke filmische Vision werden die Zuschauer*innen zu einer eindring­li­chen spiri­tu­ellen Reise einge­laden. Ein intimer und persön­li­cher Film, der Raum lässt und Raum schafft, nach Gemein­sam­keiten sucht, nicht nach Unter­schieden.«

Fest­zu­stellen bleibt für diesen Gene­ra­tion Kplus-Jahrgang, dass noch weniger Filme zu sehen sind oder wohl auch nicht verfügbar waren, die sich mit ihren Geschichten und Prot­ago­nisten an die jüngeren Kinder richten. Hat sich die Ziel­gruppe schon so verändert, dass es keine »Kinder­filme im besten Sinne« mehr gibt? Wenn Filme auch ein Spiegel der Gesell­schaft sind, stellt sich die Frage nach dem Bild, das Erwach­sene von der Kindheit bekommen, und ob das ein Trend infolge eines beschleu­nigten Erwach­sen­wer­dens ist und deshalb die Filme vermehrt Themen wie Pubertät, gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment, Flucht etc. behandeln. Viel­leicht ist es an der Zeit, dass aufgrund verän­derter Bedin­gungen der Kindheit eine grund­sätz­liche Diskus­sion der Kriterien eines »guten« bzw. adäquaten Kinder­films für Sechs- bis Acht­jäh­rige in Gang kommt.

Ein Manko der dies­jäh­rigen Zwei­tei­lung der Berlinale in Branche (1.-5.März) und Publikum (9.-20.Juni) ist es, die Filme von Gene­ra­tion, vor allem Kplus, nicht zusammen mit der Ziel­gruppe im Kino sehen zu können. Denn diese spontanen und absolut authen­ti­schen Reak­tionen sind wohl der ehrlichste Grad­messer. Das zumindest ist eine Reise nach Berlin im Juni wert!

- Christel Strobel

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Gene­ra­tion 14plus

Die im Vergleich zum Vorjahr um die Hälfte redu­zierte Film­aus­wahl der Sektion Gene­ra­tion 14plus mag im ersten Moment schmerzen, doch mehr noch als im letzten Jahr zeigt die auf sieben Wett­be­werbs­filme geschrumpfte Liste, was der Jugend­film vermag und wofür er steht: ein realis­ti­sches, anre­gendes, aber auch beun­ru­hi­gendes Abbild unserer Gegenwart zu zeichnen, das junge wie erwach­sene Zuschauer nicht nur in den Bann zieht und vor allem neugierig macht, unsere komplexe Welt nicht nur zu verstehen, sondern über das Verstehen auch zu einem handelnden Indi­vi­duum zu werden.

Diese Voraus­set­zungen erfüllen im Grunde alle dies­jäh­rigen Filme. Fast schon klassisch mutet der dänische Beitrag From the Wild Sea (DK 2021, R: Robin Petré) an, der zu Anfang ein wenig nach Green­peace-Werbe-Film aussieht, dann aber über eine ruhige und besonnene, manchmal fast lyrische Bestands­auf­nahme führt, die so doku­men­ta­risch wie eindring­lich zeigt, was der Klima­wandel von unseren Meeren und ihren Bewohnern fordert, und dass es leider nicht immer hilft, zu helfen. Im Hinter­grund pulsiert die beun­ru­hi­gende, aber umso wich­ti­gere Frage: Wer soll nur den Menschen helfen, wenn sie in naher Zukunft selbst stranden?

Eine prekäre, unbedingt reform­be­dürf­tige Zukunft deutet auch der kanadisch-bosnische Film Tabija (CAN/BIH 2021, R: Igor Drljača) an. Endlich wird zwar der »Unort« Sarajewo erzäh­le­risch neu besetzt – mit klugen und kargen, poli­ti­schen und poeti­schen, immer wieder über­ra­schenden Asso­zia­tionen und einem dichten jugend­li­chen Drama um Liebe und Tod, reich und arm. Doch gleich­zeitig wird deutlich, dass die trau­ma­ti­sierte Nation nicht erst durch den Bürger­krieg zu einem »Failed State« geworden ist, sondern bereits im Zweiten Weltkrieg die Wurzeln der Misere gelegt wurden, die, wie in trau­ma­ti­sierten Familien, von einer Gene­ra­tion an die nächste weiter­ge­reicht wird.

Die prekären fami­liären Verhält­nisse im armen Bosnien finden sich aller­dings auch im reichen Südkorea von Fighter (KOR 2020, R: Jéro Yun) wieder, in dem das Rocky-Genre neu variiert wird. Die junge, von Nord- nach Südkorea geflohene Jina boxt aller­dings nicht nur gegen die Traumata von Flucht und dispa­raten Fami­li­en­ver­hält­nissen an, sondern auch gegen Diskri­mi­nie­rung und für die Liebe. Ein Film, der durch Stille mehr erklärt als jede laute Politik und allein schon wegen der dunklen Stimme der Haupt­dar­stel­lerin unbedingt sehens- und hörens­wert ist.

Eine groß­ar­tige Haupt­dar­stel­lerin bietet auch der norwe­gi­sche Beitrag Ninjababy (NOR 2021, R: Yngvild Sve Flikke) auf, eine Perle in der Gene­ra­tion 14plus-Sektion, die man sich unbedingt im Double-Feature mit Eliza Hittmans Niemals Selten Manchmal Immer ansehen sollte. Denn in Ninjababy ist alles anders als bei Hittman, auch wenn hier ebenfalls eine junge Frau über­ra­schend schwanger ist und es eigent­lich nicht sein will. Doch die Frauen in Flikkes Film leben nun einmal nicht im puri­ta­ni­schen Bible-Belt der USA, sind alles andere als trau­ma­ti­siert, sind selbst­be­wusst und handeln auch so. Ein Film, der endlich einmal über­zeu­gend klar­stellt, dass nicht nur Familie, sondern auch Liebe immer Patchwork ist und mehr noch: frau auch Frau sein darf, ohne Mutter sein zu müssen.

Die Rela­ti­vität und Suche der jungen Jahre, die sich eigent­lich auf das ganze Leben ausweiten sollte, aber es leider nur allzu selten tut, zeigt der ukrai­ni­sche Sektionen-Beitrag Stop-Zemlia (UKR 2021, R: Kateryna Gornostai) eindrucks­voll: Ganz nah dran sind wir hier beim Warten auf das Leben, erkennen die Poesie der Traban­ten­städte und sind Teil vom Leiden am Leben und der so wider­sprüch­li­chen wie komplexen Ethno­grafie. Ein Regie­debüt, das mit über­ra­schenden Alltags­mo­tiven auch zeigt, dass Jugend immer univer­sell und Identität nicht angeboren ist und von »Ethno­grafie« im klas­si­schen Sinn eigent­lich nicht mehr die Rede sein kann.

Über­ra­schend auf fast allen Ebenen ist auch Cryptozoo (USA 2021, R: Dash Shaw), ein Anima­ti­ons­film, der nicht nur durch seine umwer­fenden Zeich­nungen und Montagen mit gewohnten Pattern bricht, sondern auch durch seine Handlung: ein psyche­de­li­scher Trip in und für das Anders­sein, in dem Albträume abgesaugt werden, Tarot, Mother Earth, grie­chi­sche Mytho­logie und ein sehr gegen­wär­tiger mili­tanter Kapi­ta­lismus aufein­an­der­treffen und bei aller Ambi­guität auch niemand wirklich den Sieg davon­trägt. Ein Drogen­rausch, der auch Kopf­zer­bre­chen bereitet und dafür eine lobende Erwähnung im Wett­be­werb Gene­ra­tion 14plus erhalten hat.

Weit weg von einem psyche­de­li­schen Trip ist der Gewinner des Großen Preis der Inter­na­tio­nalen Jury für den Besten Film im Wett­be­werb 14plus, La Mif (F 2021, R: Fred Bailli), den man auch mit »Pflicht oder Wahrheit oder auf der Suche nach einem mora­li­schen Kompass« über­ti­teln könnte. Denn das macht eine »La Mif« (franz. Slang für Familie) ja letzt­end­lich aus, die sich hier in einem fran­zö­si­schen Mädchen­heim als ernüch­ternder Spiegel unserer zerris­senen Gesell­schaft zusam­men­findet und auch nicht davor zurück­schreckt, über semi-doku­men­ta­ri­sche Spiel­ele­mente Ernst zu machen. Wir sehen gebro­chene Lebens­li­nien auf allen Seiten: auf Eltern­seite, auf Erzie­her­seite und auf Seite der Jugend­li­chen. Der Film stellt dennoch nicht die System­frage, wozu er alles Recht hätte.

Gleich­zeitig wird gerade durch die hervor­ra­gende Zusam­men­stel­lung der dies­jäh­rigen Filme deutlich, dass die System­frage im Grunde weltweit gestellt werden müsste, ähneln sich die versehrten Biogra­fien in Tabija, Fighter, Stop-Zemlia und La Mif doch nur allzu frap­pie­rend, sehen wir immer wieder »erwach­sene« Kinder mit »kind­li­chen« Erwach­senen kolli­dieren. Das mag ein illu­so­ri­sches Unter­fangen sein, aber immerhin gibt es ja diese Filme, die zumindest ein Anfang sind und beste Hilfe zur Selbst­hilfe leisten sollten.

- Axel Timo Purr