25.02.2021

Schrödingers Berlinale

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»Alma lebt mit einem humanoiden Roboter zusammen, der sich dank künstlicher Intelligenz in den perfekten Lebenspartner verwandeln soll.« Maria Schraders Ich bin dein Mensch ist der Film der Stunde
(Foto: Berlinale / Maria Schrader)

Berlin zeigt uns, wie virtuell wirklich geht, und präsentiert eine Woche voller Filme, die man nicht sehen kann

Von Dunja Bialas

Findet sie nun statt oder nicht? Wie Schrö­din­gers Katze liegt das Programm der Berlinale vor uns, gleich­zeitig tot und lebendig. Ab kommenden Montag können Branche und Presse fünf Tage anhand des Programms der Berlinale prüfen, wie es um die Vitalität von Deutsch­lands wich­tigstem A-Festival steht. Das Publikum muss leider draußen bleiben – vorläufig zumindest. Erst im Juni werden die Filme der Berlinale der Öffent­lich­keit gezeigt, in den Kinos, die dann, so Corona will, wieder offen haben. Die Berlinale wird dann als Koope­ra­tion mit den Kinos statt­finden, alle Einnahmen gehen an die Kinos, ohne zentralen Ticket­ver­kauf, mit einge­schränktem Presse-Kontin­gent und ohne Branche, dafür mit rotem Teppich. Berlinale goes Kiez – Kosslicks Traum vom Publi­kums­fes­tival wird sich jetzt endlich erfüllt haben. Und das ausge­rechnet unter seinen Nach­fol­gern Carlo Chatrian und Mariette Rissen­beek, von denen man einiges erwartet hatte, wie zum Beispiel die Verschlan­kung des Programms oder eine ernst­haf­tere Haltung gegenüber dem Film als Kunst, nicht als Marktwert. Aber jetzt hat die Berlinale ein Klas­sen­pro­blem. Publikum und Branche bleiben streng getrennt, die Presse darf jetzt netter­weise bei der Branche mitgucken, muss sich aber deren Gepflo­gen­heiten beugen. Das Publikum bleibt jetzt erst einmal draußen, kommt dann aber im Sommer dran. Ohne Branchen- und mit nur wenigen Pres­se­schnö­sels. Die Berlinale geht in den Wech­sel­un­ter­richt.

Zwei­tei­lung kann aber auch funk­tio­nieren. Eine zwei­ge­teilte Festi­val­aus­gabe macht dieses Jahr auch das Inter­na­tio­nale Film­fes­tival Rotterdam. Im Januar gab es bereits die Online-Ausgabe im Stream zu sehen, im Sommer gibt es dann Filme im Kino. Dazwi­schen gibt es »Tiger on the loose«, auch in Anspie­lung auf den von Virologen verbrieften Corona-»Tanz mit dem Tiger« (siehe auch Christian Drosten), der hoffent­lich langsam vorü­ber­geht. Der Tiger muss wieder von der Leine.

In Berlin tanzt kein Bär

In Berlin aber tanzt noch nicht einmal der Bär. Man hat sich dort gegen eine Online-Ausgabe entschieden. Natürlich ist zu vermuten, dass dies aus Rücksicht auf die Rech­te­inhaber geschah, aber nicht nur. Denn gestreamt wird durchaus, eben nur für die Profis. Auch Rotterdam hat seine Welt­pre­mieren gestreamt, das waren Nachwuchs-Filme, kann man hier einschrän­kend nach­setzen. Aber auch die Berlinale hat mit dem Panorama oder dem Forum und Forum Expanded Sektionen parat, die Filme für den Stream bieten. Man hätte in dieser geschrumpften Online-Berlinale mehr Aufmerk­sam­keit für die Sektionen schaffen können, die sonst im Schatten des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs stehen.

Jetzt aber steht die Presse erst einmal im Dienst der Branche, wie Mark Peranson, Berlinale-Chef­pro­grammer, in einem Interview mit der »NZZ« ausführt: »Die Presse braucht es jetzt im März für den Filmmarkt, denn für die Film­ein­käufer sind die Rezen­sionen enorm wichtig. Film­fes­ti­vals sind Teil eines grösseren film­wirt­schaft­li­chen Ökosys­tems.« Film­kritik als Aufmerk­sam­keits­ge­ne­rator für die Film­wirt­schaft – warum nicht. Zu diesen Kondi­tionen – schwer verständ­lich. Die Redak­tionen werden jetzt so tun, als wäre dies ein Festival wie Cannes oder Venedig, das die Berliner ja auch nicht besuchen können, wie Peranson anmerkt. Die lokalen Tages­zei­tungen werden dann im Juni wohl noch einmal die Event­be­richt­erstat­tung hoch­fahren.

Die virtuelle Berlinale wird auf Leitungs­ebene auch »internes Preview-Festival« genannt. Teilweise wurde die Anzahl der Filme reduziert, was sich vor allem im dies­jäh­rigen Programm des Forum empfind­lich nieder­schlägt, das mit nur siebzehn Filmen aufwartet. Cristina Nord hat sich wegen des Platz­man­gels entschieden, den großen Fokus auf die jüngeren, noch nicht etablierten Filme­ma­cher*innen zu legen. Filme, die jetzt nicht im Programm sind, sind aber natürlich auf den Film­märkten (nicht nur dem Berliner EFM) zu finden. Das ist dann natürlich eher für die Programmer der Festivals gedacht, die sich dafür einen Zugang leisten, weniger für die Film­kritik oder das normale Publikum. Aber auch im dies­jäh­rigen Programm liest man mit Anocha Suwicha­korn­pong, Stefan Kolbe, Chris Wright und Avi Mograbi bekannte Namen.

Von Montag an werden dann die Filme der Berlinale für die akkre­di­tierte Presse gestreamt. Die Berlinale stellt sich das wie folgt vor: Jeden Tag werden Filme aus allen Berlinale-Sektionen gezeigt, also Filme der Compe­ti­tion, von Encoun­ters, des Berlinale Specials, des Panorama, des Forum, des Forum Expanded, von Genera­tion, den Berlinale Shorts und schließ­lich noch Perspek­tive Deutsches Kino. Macht also insgesamt neun Sektionen. Jeder Film ist jeweils nur an einem einzigen Tag, sprich: für 24 Stunden im Stream abrufbar und danach nicht mehr zugäng­lich. Für den Montag macht das 22 Filme, die man rein theo­re­tisch gucken könnte. Auf meiner persön­li­chen Vorauswahls­liste stehen am Montag sieben Filme, am Dienstag sechs, am Mittwoch wieder sieben. Reichlich frus­triert habe ich abge­bro­chen, denn: Das werde ich niemals schaffen.

Kann nicht, muss!

Must See des Wett­be­werbs: Intro­duc­tion von Hong Sang-soo, Ich bin dein Mensch von Maria Schrader, Albatros von Xavier Beauvois, Bad L Bad Luck Banging or Loony Porn von Radu Jude, eventuell Dominik Grafs Fabian (aber den kann man bestimmt noch woanders sehen), Memory Box der liba­ne­si­schen Künstler Joana Hadjithomas und Khalil Joreige (sie hatten 2016 eine Ausstel­lung im Münchner Haus der Kunst: Two Suns in a Sunset), Petite maman von Céline Sciamma, Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen? von Alexandre Koberidze, Nebenan von Daniel Brühl, A Cop Movie von Alonso Ruiz­pa­la­cios, Forest – I See You Ever­y­where von Bence Fliegauf.

Must See von Encoun­ters: Blut­sauger von Julian Radlmaier, Hygiène sociale von Denis Côté, Das Mädchen und die Spinne von Ramon und Silvan Zürcher, Nous von Alice Diop.

Must See im Berlinale Special: Por Lucio von Pietro Marcello, Wer wir waren von Marc Bauder.

Must See im Panorama: Gende­ra­tion von Monika Treut, Die Welt wird eine andere sein von Anne Zohra Berrached.

Must See im Forum: A Pas Aveugles von Chris­tophe Cognet, Anmassung von Chris Wright und Stefan Kolbe, Esquí von Manque la Banca, Juste un mouvement von Vincent Meessen, Nó taxi do Jack von Susana Nobre, La veduta luminosa von Fabrizio Ferraro, The First 54 Years von Avi Mograbi, What Will Summer Bring von Ignacio Ceroi.

Das erste virtuelle Festival

Und so weiter. Das sind jetzt schon 27 Langfilme, verteilt auf fünf Tage, macht, sofern sie sich günstig verteilen, mehr als fünf Filme pro Tag. Und auf den ganzen Rest, auf den man auch neugierig gewesen wäre, verzichtet man eben.

Die Berlinale zeigt auf konge­niale Weise als erstes Festival der Corona-Zeit, was das eigent­lich heißt: ein virtu­elles Festival zu sein. Andere Festivals haben ihre Filme zwar nur online gezeigt, aber sie haben immerhin statt­ge­funden, für die Öffent­lich­keit, die Presse, die Branche, in vernünf­tigen Zeit­fens­tern. Bei der Berlinale ist man sich da nicht so sicher: Sie findet statt, ohne statt­zu­finden, denn sie zeigt Filme, die man beim besten Willen nicht sehen kann.

Das ist schade für die Filme, schade für die Arbeit der Kuratoren und auch schade für die Berlinale. Und das ist auch auf einmal das Gegenteil von dem, wofür ich hier immer eintrete, wenn ich das Kino gegen den Stream vertei­dige. Denn Filme jetzt allein dem Kino vorzu­be­halten, heißt auch, nur Wenigen den Zutritt zu den Filmen zu gewähren, nur den Locals, und auch da wieder nur Wenigen, aufgrund der erwart­baren Corona-Restrik­tionen, wie schon jetzt den Stufen­plänen für die Wiedereröff­nung zu entnehmen ist.

Die Berlinale 2021 ist das Festival der unsicht­baren Filme.