Sind Viren die besseren Terroristen (und Regisseure)? |
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Teil eines jahrzehntelangen »Heilungsprozesses« – Volker Schlöndorffs und Margarethe von Trottas Die verlorene Ehre der Katharina Blum | ||
(Foto: Axel Timo Purr – DVD Cover) |
Von Axel Timo Purr
»›Was guckst du mich denn so entgeistert an, mein Blümelein – ich schlage vor, daß wir jetzt erst einmal bumsen.‹« Nun, inzwischen war ich bei meiner Handtasche, und er ging mir an die Kledage, und ich dachte: „Bumsen, meinetwegen“, und ich hab die Pistole rausgenommen und sofort auf ihn geschossen. Zweimal, dreimal, viermal. [...] Gut, jetzt bumst’s. [...] Ohne Reue, ohne Bedauern. Er wollte doch bumsen, und ich habe gebumst, oder?‘ – Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann
Sehe ich die tagtägliche Freude meines 9-jährigen Sohnes über die Corona-bedingten Schulschließungen, muss ich immer wieder an meine eigenen, nie erfüllten Hoffnungen auf Schulschließungen während meiner Kindheit denken. Allerdings hatte ich keinen Virus, der mir »beistand«, sondern nur die RAF, deren Mitglieder für mich allerdings zu Hoffnungsträgern und Helden ohnegleichen avancierten.
Von der eher informellen Gründung der Rote Armee Fraktion (RAF) durch die gewaltsame Befreiung Andreas Baaders aus der Haft am 14. Mai 1970 in West-Berlin, die als Geburtsstunde der linksextremen Terrororganisation gilt, hatte ich kaum etwas wahrgenommen, weil ich einfach noch zu jung war. Aber das war schlagartig vorbei, als die RAF in ihrer erratischer Entwicklung zunehmend Fahrt aufnahm und 1975 die zweite Generation der RAF unter dem »Kommando Holger Meins« die deutsche Botschaft in Stockholm überfiel und Geiseln nahm. Spätestens ab diesem Moment fieberte ich jeder weiteren Aktion der RAF entgegen, immer in der Hoffnung, dass die RAF nicht nur den Straßenverkehr durch Groß- und bald auch erste Rasterfahndungen destabilisieren möge, sondern bald auch die ganze deutsche Gesellschaft, so dass es irgendwann auch die Schulen treffen würde.
Ich ähnelte in meiner Sehnsucht nach »verbrannter Erde« den heutigen Wutbürgern und ihren Verschwörungstheorien, die mit der zunehmend gewaltbereiten Kündigung unseres gesellschaftlichen Vertrages ja ebenfalls hoffen, endlich ihrem eigenen Elend ein Ende setzen zu können. Hätte es damals schon eine Fakten-Check-Website wie Correctiv gegeben, ich hätte mich vielleicht eines Besseren besonnen, aber so begleiteten mich meine RAF-Sympathien bis in die heutige Zeit, ja, insgeheim hoffe ich sogar jetzt noch, dass die bislang letzte Generation der RAF auch Corona überlebt, gelten sie doch gerade jetzt – als Risikopatienten – als gefährdet, wie vor einer Woche der Spiegel schrieb.
Dabei hätte ich allen Grund, zufrieden zu sein. Denn wenn schon nicht schulfrei, erhielt ich eine Lehre in der Tragik des Widerstands in der Dimension eines Manés Sperber (und seines Romans Wie eine Träne im Ozean), stärkte der bewaffnete Widerstand der RAF doch gerade den Staat, den er bekämpfte, war ja Horst Herolds »Rasterfahndung« eine ähnliche prekäre Aushebelung von bürgerlichen Rechten wie die in zahlreichen Ländern nach 9/11 erfolgten Angriffe auf den Rechtsstaat, was sich sehr gut in dem im letzten Jahr erschienenen, sehr präzisen Official Secrets von Gavin Hood sehen lässt, in dem der verzweifelte Kampf der Whistleblowerin Katharine Gun erzählt wurde. Eine Entwicklung, die sich in jeder Großkrise und nicht anders in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie abzeichnet, in der schon jetzt, da die Krise ihren Höhepunkt noch gar nicht erreicht, rechtsstaatliche Systeme bedrohlich ins Wanken geraten, so wie etwa in Ungarn und Indien.
Und dann bescherte mir die RAF-Krise ja auch eine Flut von Filmen, die das Kino als psychologisches Instrument, als Krisen- und Traumabewältiger in seiner reinsten, stärksten und schönsten Form zeigten. Und das gleich zu Anfang die Wut über die verkorkste, korrumpierte BRD spürbar machte. Und was für ein Anfang war das, gleich im Jahr von Stockholm mit Volker Schlöndorffs und Margarethe von Trottas Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975), mit einer düster-brodelnden Angela Winkler in der Hauptrolle. Und was dann kam, war, was jede Gesellschaft benötigt, um mit ihren eigenen Geschwüren umzugehen und einen Heilungsprozess zu versuchen und ihn, wenn nötig, auch gleich wieder abzubrechen und eine neue Methode zu versuchen, ganz so wie es der bereits erwähnte Manés Sperber in seinem großen Roman schrieb: »Um einen Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer seine Toten sind. Und man muss wissen, wie seine Hoffnungen endeten – ob sie sanft verblichen oder ob sie getötet wurden. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.« Und so wie Sperber seinen Roman für alle und keinen geschrieben hatte, so nahm sich nun der deutsche Film der eigenen Toten an. Auf eine gesellschafts-introspektive Gemeinschaftproduktion wie Deutschland im Herbst (1977-78) folgten Auswuchtungen in alle Richtungen: Fassbinders gnadenlos-groteske Die dritte Generation (1978), Margarethe von Trottas luzide Die bleierne Zeit (1981) und dann Rainer Hauffs wieder alte Wunden aufreißender Prozessfilm Stammheim (1986).
Erst in den 1990ern beruhigte sich die filmische Wut, erinnerte Philip Gröning in seinen Terroristen! (1992) daran, dass Terror nicht unbedingt ein Kind der 1970er und der BRD sein muss, sondern auch eins der Wiedervereinigung sein könnte, ein im Rückblick fast schon prophetischer Ansatz, der sich erst 2004 mit Hans Weingartners furiosem Neo-Terror und Anti-Globalisierungs-Film Die fetten Jahre sind vorbei wiederholen sollte, ein Film, der erfrischend und mit sympathischem Furor auch das erste Mal über den deutschen Kulturraum hinauswies und eigentlich klar machte, was auch schon die RAF ahnte (und in Ansätzen ja auch praktizierte), dass »international« zuschlagen besser als »regional« ist.
Aber auch an die RAF selbst wurde weiterhin dezidiert erinnert – und nicht nur das: Heinrich Breloer konnte auf unveröffentlichtes Material zurückgreifen und versuchte in seinem Dokudrama TODESSPIEL (1996-97), den »deutschen Herbst« sowohl für Opfer als auch Täter so empathisch und objektiv wie nur möglich zu ergründen. Ein Ansatz, der sich erweiterter und konzentrierter zugleich fünf Jahre später in Andreas Veiels großartiger Black Box BRD (2001) manifestieren sollte, in dem Veiel die Biografien eines RAF-Mitglieds und eines RAF-Opfers einander gegenüberstellte. Es waren auch sonst gute Jahre für den »filmischen RAF-Terrrorismus«: Christian Petzoldt erzählte in Die innere Sicherheit (2000) in einem seiner besten Filme über das Altwerden der RAF und die psychosozialen Folgen familiären Lebens im Untergrund, ein Thema, das auch Volker Schlöndorf in Die Stille nach dem Schuss (2000) aufnahm.
Gleich im Anschluss an diese dichten filmischen Reflexionen setzte eine Entwicklung ein, die versuchte, das alte RAF-Personal neu zu deuten und zu inszenieren und die RAF auch genretypisch zu »verwerten«: In Christopher Roths Baader (2002) stirbt Andreas Baader in einem Showdown mit der Polizei (und nicht in Stammheim), in Gerd Conrads Doku Starbuck Holger Meins (2002) wird aus einem Unmenschen ein Mensch und Uli Edel bediente sich zwar in seinem Baader Meinhof Komplex (2008) der RAF-Chronologie von Stefan Austs gleichnamigem Standardwerk, formt daraus aber einen gewalt-geladenen Politthriller, der das Faktische immer wieder der Inszenierung unterordnet.
Egalisiert wurde dieser wilde Trip erst wieder durch Klaus Sterns vorsichtige, dokumentarische Annäherung Andreas Baader – DER STAATSFEIND (2010), der versucht, mit Hilfe von unveröffentlichten Baader-Briefen zu erklären, wie in kurzer Zeit aus einem sensiblen ein so wütender Mensch hat werden können. Ein Prequel-Ansatz, der am Ende jeden guten »Franchises« auch beim Thema RAF steht und von Andres Veiel 2011 in seinem ersten Kinospielfilm Wer wenn nicht wir noch einmal radikal erweitert wurde, indem er das »Coming-of-Age« von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, zweier ikonischer Gestalten der RAF und ihres Umfelds, erzählt.
Seitdem ist es still um die RAF geworden, im realen Deutschland wie auch im Fiktiven. Nur Dominik Graf hat den Faden für einen ARD-»Tatort«, eine Art RAF-Spin-off, noch einmal aufgenommen und in DER ROTE SCHATTEN (2019) fast gelöschte Feuer wieder zum Glühen gebracht, ohne allerdings einen neuen Flächenbrand entfachen zu können, der endlich die Frage klärt, ob Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart nun ermordet wurden oder doch Suizid begingen.
Ähnlich komplex, immer neue Fakten und Details in den Erkenntnisprozess mit einbeziehend, gesellschaftliche Strömungen inhalierend und Geschichte immer wieder »umschreibend« werden Historiker, Politologen, Soziologen (und natürlich Virologen), Schriftsteller und nicht zuletzt Filmemacher auch die Corona-Krise die nächsten Jahrzehnte inkorporieren. Und man kann hinsichtlich des globalen Ausmaßes mit allen politischen und wirtschaftlichen Indikatoren, aber auch schon auf einer ganz persönlichen Ebene wie den immer zahlreicher auftretenden Social Meltdowns sicher sein, dass die Kultur, auch wenn sie jetzt noch am Ende der förderungswilligen Aufmerksamkeit steht, am Ende als großer Sieger den Platz verlassen wird.