Klarheit der Perspektive, Transparenz des Ausdrucks |
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Gertrud Koch über das Schicksal der Filmwissenschaft: »Zwischen Raubtier und Chamäleon« |
Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch gehört zweifellos zu den großen Namen ihrer Disziplin, und die umfangreiche Aufsatzsammlung »Zwischen Raubtier und Chamäleon« liefert zahlreiche Beweise für ihre dezidierte Position und Bedeutung im Fach. Aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet sie hier das Medium Film als einen Bereich der Kunst, der in Frankreich nicht von ungefähr als 'la septième art' [1] bezeichnet wird, auch wenn hierzulande nicht nur die von ihr vertretene Disziplin an der eigenen Relativierung arbeitet, sondern auch die Öffentlichkeit nach über 100 Jahren Filmkunstdebatte von der universalen Kraft des Films noch immer nicht gänzlich überzeugt zu sein scheint. Dabei lohnt es sich durchaus, mit Martin Seel [2] von den 'Künsten des Kinos' zu sprechen und darin ein ebenso vielgestaltiges wie wandlungsfähiges Universum zu entdecken, ein Medium, das die Massen adressiert und zugleich die Selbstwahrnehmung herausfordert.
Während der aktuelle filmwissenschaftliche Diskurs sich in 'postkinematografischen' Dimensionen wähnt, die den Film als jene große Ausdrucksform der Künste bereits dem Streaming, der Serialisierung, den Algorithmen und dem 'user-generated content' ('mash-up', Fan-Filme etc.) übergeben hat, findet sich in den Schriften Gertrud Kochs ein deutliches Plädoyer für einen konservativen Blick auf das künstlerische Medium: »Was ich zeigen wollte [...], ist, dass die Stabilität des Kino-Dispositivs auch in den Diskursen zum ästhetischen Illusionismus des Kinos gründet. Insofern ist dies auch immer noch zentral für die Disziplin der Filmwissenschaft und ihre diskursive Stärke im Kontext neu entstandener Medien. Die Klage darüber, dass die Filmwissenschaft ihres Gegenstandes verlustig gegangen sei mit der Digitalisierung auch der filmischen Bewegungsbilder, trägt meiner Meinung nach nicht von hier bis um die Ecke: Unsere Leichen leben noch, und warum sie dies tun, lässt sich wiederum mit dem Eigensinn der kinematografischen Bewegungsbilder erläutern, seien sie nun mechanisch oder digital in Umlauf gebracht,« (25) schreibt Koch im einführenden Kapitel über den Status quo der eigenen Disziplin – und erteilt den selbstherrlichen Neudefinitionen des Fachs aus eigenen Reihen eine herzhafte Absage.
Für Koch ist der Film als eine der komplexesten künstlerischen Disziplinen ein Medium von Geschichte und Politik, der Kultur und des Denkens. Souverän nimmt sie dessen Multimodalität und Fusion künstlerischer Disziplinen wahr und nimmt seine Verflechtungen mit anderen Medien und Künsten in den kritischen Blick. Mit Siegfried Kracauer sieht sie das Medium dabei stets als einen Spiegel und Seismographen gesellschaftlicher (und somit historischer) Phänomene. [3] Sie sieht in ihm eine Illusionsmaschine, die zugleich den Blick auf die Realität schärfen kann – das 'Spiegelbild der Medusa' zu erblicken im Sinne Kracauers. [4]
Die im vorliegenden Band versammelten Texte machen eine Auswahl verstreut publizierter Aufsätze in thematischen Schwerpunkten zugänglich, die Gertrud Kochs Hauptwerke ergänzen, darunter das feministische »'Was ich erbeute, sind Bilder'. Zur filmischen Repräsentation der Geschlechterdifferenz« (Frankfurt am Main 1988) und »Die Einstellung ist die Einstellung. Zur visuellen Konstruktion des Judentums« (Frankfurt am Main 1992), das in dem Kapitel zur Visualisierung des Holocaust im vorliegenden Band ergänzt wird.
In der Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Affekt, Körper und Erinnerung, Bilderverbot und Holocaust, Recht und Sexualität, Berührung und Erschütterung und vielen weiteren Themen erschließen die hier zusammengestellten Arbeiten, die zu einem Abenteuer des Denkens einladen, die politische, philosophische und ästhetische Komplexität des Films und benachbarter Medien. Die Texte wurden thematisch gruppiert: »Kultur und Massenmedien«, »Bilder und Politik«, »Erinnern und Vergessen«, »Der Körper und sein Schatten« sowie »Film und Affekt« sind die einzelnen Abschnitte benannt.
Interessant ist bereits der Text »Gefallen ohne Gefälligkeit: Der Film als Massenkunst«, der die Filmkunstdebatte aus den konträren Perspektiven von Theodor W. Adorno und Stanley Cavell beleuchtet und dazu Samuel Becketts Film-Experiment und die Komödien der Marx Brothers heranzieht. Sie schließt daraus, dass der Film gerade aus der Ausgespanntheit zwischen Kunst und Kommerz seinen Eigensinn gewinnt. So wird Koch auch in den folgenden Beiträgen immer wieder unterstreichen: Film ist nie ohne seinen Kontext zu denken – und gibt folglich auch immer Aufschluss über sich selbst hinaus. Wie die Filme pflegt die Autorin einen betont offenen Ansatz.
Eine besondere Qualität entfaltet die analytische Filmwissenschaft – so sieht man auch in den Texten deutlich –, wenn sie Film nicht einfach als Ausgangspunkt für medienphilosophische Eskapaden missbraucht, sondern das Werk ernst nimmt in seinem Eigensinn und seiner Offenheit. In der konkreten Inszenierung der Filme findet Koch eine Diskursivierung der Aushandlung von Recht (John Fords The Man Who Shot Liberty Valance, 163ff.) oder Abgleichung von Musikalität und Todesmotiven (Lars von Triers Dancer in the Dark, 279 und 283ff.). Genau darum muss es gehen: Die Werke selbst im Zentrum zu sehen und an ihnen unmittelbar die Themen nachzuweisen bzw. zu entwickeln.
In meinen eigenen Publikationen habe ich mich intensiv mit der filmischen Erinnerungskultur und dem Holocaust beschäftigt. [5] Immer wieder spielten Gertrud Kochs Texte zu diesem Thema für mich eine wichtige Rolle. Umso erfreulicher ist der Umfang dieser Textsammlung, in der man kritische Anmerkungen zu elementaren Sujets findet wie Claude Lanzmanns Shoah (191ff., dessen Dokumentarfilmstatus sie diskutiert, 196), das Comic »Maus« (215ff.) oder Pier Paolo Pasolinis Salò (161f., dessen Gewaltdarstellung sie eine authentische »Unerträglichkeit« attestiert, 162). Nicht nur in diesen interdisziplinär betrachteten Werken sieht Koch ein Aufbäumen gegen das Vergessen, sondern auch im Schreiben darüber selbst. Wie bei Walter Benjamin wird in ihren Texten deutlich, dass nicht nur die diskutierten Filme, sondern auch die vorliegenden Aufsätze Werke der Erinnerungskultur darstellen. Kritik und Kunst, Dokumentation und Fiktion fließen hier zu einem Diskurs gegen das Vergessen zusammen. Dabei spielt auch die Konstruktion jüdischer Identität in diesen medialen Reflexionen eine wichtige Rolle.
Ein weiterer, meines Erachtens bemerkenswerter Komplex sind die Texte zur Körpertheorie des Films. Hier fällt zunächst positiv auf, wie offen Gertrud Koch der Ästhetik des Pornografischen gegenübersteht, die sie verteidigt: »Der Affekt gegen die Pornographie ist in seinem Kern ein Affekt gegen das Somatische der Sexualität selber, und es erscheint mir nicht zufällig, dass die Panik vor den 'Angriffen der Pornographie' fast wörtlich identisch ist mit den Affekten, die seit seiner Entstehung das Kino ausgelöst hat« (251). Ihre Einschätzung sexueller Filmwahrnehmung als »Netzhautsex« (247) erinnert dabei an Patricia MacCormacks Konzept der 'CineSexuality', die Idee eines performativ basierten Filmrezeptionsprozesses, der noch immer erstaunlich unterrepräsentiert ist. [6] Immer wieder wird im Verlauf der Lektüre klar, wie 'gefährlich' das Medium noch immer eingestuft werden kann: als Affektmaschine, als Begehrensapparat, der die Gesellschaft herausfordert, unter anderem zum Bildverbot (129ff.).
Uneingeschränkt lobenswert an diesem Band ist eine Qualität, die gerade in den letzten Jahren im wissenschaftlichen Duktus selten geworden ist: Kochs Texte belegen eine Klarheit der Perspektive, eine Transparenz des Ausdrucks und eine gute Lesbarkeit, die nicht durch unnötig verquasten Wissenschaftsjargon getrübt wird. Es macht daher durchaus Freude, diese Gedanken zu teilen und sich mit den Beispielen selbst zu beschäftigen (so sah ich mir aus diesem Grund nach vielen Jahren noch einmal Dancer in the Dark an).
Man mag einwenden, dass Kochs Zugang zur Filmwissenschaft typisch sei für eine spezifische Generation (zu der etwa der Exilforscher Thomas Koebner zählt, mit dem sie einige Themen und Bezüge verbinden), und die zitierten intellektuellen Zeugen sind nicht immer die frischesten. Doch es bleibt das Plädoyer Gertrud Kochs für die Filmkunst im vermeintlich 'postkinematografischen' Zeitalter, und für das Fach Filmwissenschaft, dessen Themen nach Koch sind: »das Dispositiv Kino in seinen ästhetischen, epistemischen und ethischen Diskursen zur Illusionsbildung« (25). In diesem Sinne sei Filmwissenschaft eine kulturwissenschaftlich basierte Kunstwissenschaft des Bewegtbildes, und wenn sie eines Tages den Status des Musealen erreichen sollte – es wäre keine Schande.
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Judith Keilbach und Thomas Morsch (Hrsg.), »Gertrud Koch; Zwischen Raubtier und Chamäleon«. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur (Film Denken); Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016; 359 S., 21 s/w-Abb.; ISBN 978-3-7705-5836-0; € 49,90
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[1] »Le septième art. Le cinéma parmi les arts«, hrsg. von Jacques Aumont, Paris 2003.
[2] Martin Seel, »Die Künste des Kinos«, Frankfurt 2013.
[3] Gertrud Koch, »Siegfried Kracauer zur Einführung«, Hamburg 1996.
[4] Siegfried Kracauer, »Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit«, Frankfurt a. M. 1964.
[5] Siehe hierzu: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft. Heft 36: »Zur neuen Kinematographie des Holocaust«, hrsg. von Günter
Giesenfeld, Alexander Jakob, Thomas Koebner und Marcus Stiglegger, 36 (2004).; Marcus Stiglegger, »Auschwitz-TV. Reflexionen des Holocaust in Fernsehserien«, Wiesbaden 2014; ders., »SadicoNazista. Geschichte, Film und Mythos«, Hagen-Berchum 2015.
[6] Siehe hierzu: Patricia MacCormack, »Cinesexualität, Zuschauerschaft, Schiz-Flux. Die Liebe zum Kino als einem organlosen Körper«, in: Global Bodies. Mediale Repräsentation des Körpers, hrsg. von Ivo Ritzer und Marcus
Stiglegger (Medien/Kultur 5), Berlin 2012, S. 22–29.