09.04.2020

Klarheit der Perspektive, Transparenz des Ausdrucks

Zwischen Raubtier und Chamäleon
Gertrud Koch über das Schicksal der Filmwissenschaft: »Zwischen Raubtier und Chamäleon«
(Foto: mediarep.org)

Eine Aufsatzsammlung mit Texten der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch verteidigt das Kino gegen den Angriff anderer Bewegtbilder

Von Marcus Stiglegger

Die Film­wis­sen­schaft­lerin Gertrud Koch gehört zwei­fellos zu den großen Namen ihrer Disziplin, und die umfang­reiche Aufsatz­samm­lung »Zwischen Raubtier und Chamäleon« liefert zahl­reiche Beweise für ihre dezi­dierte Position und Bedeutung im Fach. Aus unter­schied­li­chen Perspek­tiven beleuchtet sie hier das Medium Film als einen Bereich der Kunst, der in Frank­reich nicht von ungefähr als 'la septième art' [1] bezeichnet wird, auch wenn hier­zu­lande nicht nur die von ihr vertre­tene Disziplin an der eigenen Rela­ti­vie­rung arbeitet, sondern auch die Öffent­lich­keit nach über 100 Jahren Film­kunst­de­batte von der univer­salen Kraft des Films noch immer nicht gänzlich überzeugt zu sein scheint. Dabei lohnt es sich durchaus, mit Martin Seel [2] von den 'Künsten des Kinos' zu sprechen und darin ein ebenso viel­ge­stal­tiges wie wand­lungs­fähiges Universum zu entdecken, ein Medium, das die Massen adres­siert und zugleich die Selbst­wahr­neh­mung heraus­for­dert.

Während der aktuelle film­wis­sen­schaft­liche Diskurs sich in 'post­ki­ne­ma­to­gra­fi­schen' Dimen­sionen wähnt, die den Film als jene große Ausdrucks­form der Künste bereits dem Streaming, der Seria­li­sie­rung, den Algo­rithmen und dem 'user-generated content' ('mash-up', Fan-Filme etc.) übergeben hat, findet sich in den Schriften Gertrud Kochs ein deut­li­ches Plädoyer für einen konser­va­tiven Blick auf das künst­le­ri­sche Medium: »Was ich zeigen wollte [...], ist, dass die Stabi­lität des Kino-Dispo­si­tivs auch in den Diskursen zum ästhe­ti­schen Illu­sio­nismus des Kinos gründet. Insofern ist dies auch immer noch zentral für die Disziplin der Film­wis­sen­schaft und ihre diskur­sive Stärke im Kontext neu entstan­dener Medien. Die Klage darüber, dass die Film­wis­sen­schaft ihres Gegen­standes verlustig gegangen sei mit der Digi­ta­li­sie­rung auch der filmi­schen Bewe­gungs­bilder, trägt meiner Meinung nach nicht von hier bis um die Ecke: Unsere Leichen leben noch, und warum sie dies tun, lässt sich wiederum mit dem Eigensinn der kine­ma­to­gra­fi­schen Bewe­gungs­bilder erläutern, seien sie nun mecha­nisch oder digital in Umlauf gebracht,« (25) schreibt Koch im einfüh­renden Kapitel über den Status quo der eigenen Disziplin – und erteilt den selbst­herr­li­chen Neude­fi­ni­tionen des Fachs aus eigenen Reihen eine herzhafte Absage.

Für Koch ist der Film als eine der komple­xesten künst­le­ri­schen Diszi­plinen ein Medium von Geschichte und Politik, der Kultur und des Denkens. Souverän nimmt sie dessen Multi­moda­lität und Fusion künst­le­ri­scher Diszi­plinen wahr und nimmt seine Verflech­tungen mit anderen Medien und Künsten in den kriti­schen Blick. Mit Siegfried Kracauer sieht sie das Medium dabei stets als einen Spiegel und Seis­mo­gra­phen gesell­schaft­li­cher (und somit histo­ri­scher) Phänomene. [3] Sie sieht in ihm eine Illu­si­ons­ma­schine, die zugleich den Blick auf die Realität schärfen kann – das 'Spie­gel­bild der Medusa' zu erblicken im Sinne Kracauers. [4]

Die im vorlie­genden Band versam­melten Texte machen eine Auswahl verstreut publi­zierter Aufsätze in thema­ti­schen Schwer­punkten zugäng­lich, die Gertrud Kochs Haupt­werke ergänzen, darunter das femi­nis­ti­sche »'Was ich erbeute, sind Bilder'. Zur filmi­schen Reprä­sen­ta­tion der Geschlech­ter­dif­fe­renz« (Frankfurt am Main 1988) und »Die Einstel­lung ist die Einstel­lung. Zur visuellen Konstruk­tion des Judentums« (Frankfurt am Main 1992), das in dem Kapitel zur Visua­li­sie­rung des Holocaust im vorlie­genden Band ergänzt wird.

In der Ausein­an­der­set­zung mit Wahr­neh­mung und Affekt, Körper und Erin­ne­rung, Bilder­verbot und Holocaust, Recht und Sexua­lität, Berührung und Erschüt­te­rung und vielen weiteren Themen erschließen die hier zusam­men­ge­stellten Arbeiten, die zu einem Abenteuer des Denkens einladen, die poli­ti­sche, philo­so­phi­sche und ästhe­ti­sche Komple­xität des Films und benach­barter Medien. Die Texte wurden thema­tisch gruppiert: »Kultur und Massen­me­dien«, »Bilder und Politik«, »Erinnern und Vergessen«, »Der Körper und sein Schatten« sowie »Film und Affekt« sind die einzelnen Abschnitte benannt.

Inter­es­sant ist bereits der Text »Gefallen ohne Gefäl­lig­keit: Der Film als Massen­kunst«, der die Film­kunst­de­batte aus den konträren Perspek­tiven von Theodor W. Adorno und Stanley Cavell beleuchtet und dazu Samuel Becketts Film-Expe­ri­ment und die Komödien der Marx Brothers heran­zieht. Sie schließt daraus, dass der Film gerade aus der Ausge­spannt­heit zwischen Kunst und Kommerz seinen Eigensinn gewinnt. So wird Koch auch in den folgenden Beiträgen immer wieder unter­strei­chen: Film ist nie ohne seinen Kontext zu denken – und gibt folglich auch immer Aufschluss über sich selbst hinaus. Wie die Filme pflegt die Autorin einen betont offenen Ansatz.

Eine besondere Qualität entfaltet die analy­ti­sche Film­wis­sen­schaft – so sieht man auch in den Texten deutlich –, wenn sie Film nicht einfach als Ausgangs­punkt für medi­en­phi­lo­so­phi­sche Eskapaden miss­braucht, sondern das Werk ernst nimmt in seinem Eigensinn und seiner Offenheit. In der konkreten Insze­nie­rung der Filme findet Koch eine Diskur­si­vie­rung der Aushand­lung von Recht (John Fords The Man Who Shot Liberty Valance, 163ff.) oder Abglei­chung von Musi­ka­lität und Todes­mo­tiven (Lars von Triers Dancer in the Dark, 279 und 283ff.). Genau darum muss es gehen: Die Werke selbst im Zentrum zu sehen und an ihnen unmit­telbar die Themen nach­zu­weisen bzw. zu entwi­ckeln.

In meinen eigenen Publi­ka­tionen habe ich mich intensiv mit der filmi­schen Erin­ne­rungs­kultur und dem Holocaust beschäf­tigt. [5] Immer wieder spielten Gertrud Kochs Texte zu diesem Thema für mich eine wichtige Rolle. Umso erfreu­li­cher ist der Umfang dieser Text­samm­lung, in der man kritische Anmer­kungen zu elemen­taren Sujets findet wie Claude Lanzmanns Shoah (191ff., dessen Doku­men­tar­film­status sie disku­tiert, 196), das Comic »Maus« (215ff.) oder Pier Paolo Pasolinis Salò (161f., dessen Gewalt­dar­stel­lung sie eine authen­ti­sche »Uner­trä­g­lich­keit« attes­tiert, 162). Nicht nur in diesen inter­dis­zi­plinär betrach­teten Werken sieht Koch ein Aufbäumen gegen das Vergessen, sondern auch im Schreiben darüber selbst. Wie bei Walter Benjamin wird in ihren Texten deutlich, dass nicht nur die disku­tierten Filme, sondern auch die vorlie­genden Aufsätze Werke der Erin­ne­rungs­kultur darstellen. Kritik und Kunst, Doku­men­ta­tion und Fiktion fließen hier zu einem Diskurs gegen das Vergessen zusammen. Dabei spielt auch die Konstruk­tion jüdischer Identität in diesen medialen Refle­xionen eine wichtige Rolle.

Ein weiterer, meines Erachtens bemer­kens­werter Komplex sind die Texte zur Körper­theorie des Films. Hier fällt zunächst positiv auf, wie offen Gertrud Koch der Ästhetik des Porno­gra­fi­schen gegenü­ber­steht, die sie vertei­digt: »Der Affekt gegen die Porno­gra­phie ist in seinem Kern ein Affekt gegen das Soma­ti­sche der Sexua­lität selber, und es erscheint mir nicht zufällig, dass die Panik vor den 'Angriffen der Porno­gra­phie' fast wörtlich identisch ist mit den Affekten, die seit seiner Entste­hung das Kino ausgelöst hat« (251). Ihre Einschät­zung sexueller Film­wahr­neh­mung als »Netz­hautsex« (247) erinnert dabei an Patricia MacCor­macks Konzept der 'CineSe­xua­lity', die Idee eines perfor­mativ basierten Film­re­zep­ti­ons­pro­zesses, der noch immer erstaun­lich unter­re­prä­sen­tiert ist. [6] Immer wieder wird im Verlauf der Lektüre klar, wie 'gefähr­lich' das Medium noch immer einge­stuft werden kann: als Affekt­ma­schine, als Begeh­rens­ap­parat, der die Gesell­schaft heraus­for­dert, unter anderem zum Bild­verbot (129ff.).

Unein­ge­schränkt lobens­wert an diesem Band ist eine Qualität, die gerade in den letzten Jahren im wissen­schaft­li­chen Duktus selten geworden ist: Kochs Texte belegen eine Klarheit der Perspek­tive, eine Trans­pa­renz des Ausdrucks und eine gute Lesbar­keit, die nicht durch unnötig verquasten Wissen­schafts­jargon getrübt wird. Es macht daher durchaus Freude, diese Gedanken zu teilen und sich mit den Beispielen selbst zu beschäf­tigen (so sah ich mir aus diesem Grund nach vielen Jahren noch einmal Dancer in the Dark an).

Man mag einwenden, dass Kochs Zugang zur Film­wis­sen­schaft typisch sei für eine spezi­fi­sche Genera­tion (zu der etwa der Exil­for­scher Thomas Koebner zählt, mit dem sie einige Themen und Bezüge verbinden), und die zitierten intel­lek­tu­ellen Zeugen sind nicht immer die frischesten. Doch es bleibt das Plädoyer Gertrud Kochs für die Filmkunst im vermeint­lich 'post­ki­ne­ma­to­gra­fi­schen' Zeitalter, und für das Fach Film­wis­sen­schaft, dessen Themen nach Koch sind: »das Dispo­sitiv Kino in seinen ästhe­ti­schen, epis­te­mi­schen und ethischen Diskursen zur Illu­si­ons­bil­dung« (25). In diesem Sinne sei Film­wis­sen­schaft eine kultur­wis­sen­schaft­lich basierte Kunst­wis­sen­schaft des Bewegt­bildes, und wenn sie eines Tages den Status des Musealen erreichen sollte – es wäre keine Schande.

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Judith Keilbach und Thomas Morsch (Hrsg.), »Gertrud Koch; Zwischen Raubtier und Chamäleon«. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur (Film Denken); Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2016; 359 S., 21 s/w-Abb.; ISBN 978-3-7705-5836-0; € 49,90

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[1] »Le septième art. Le cinéma parmi les arts«, hrsg. von Jacques Aumont, Paris 2003.
[2] Martin Seel, »Die Künste des Kinos«, Frankfurt 2013.
[3] Gertrud Koch, »Siegfried Kracauer zur Einfüh­rung«, Hamburg 1996.
[4] Siegfried Kracauer, »Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirk­lich­keit«, Frankfurt a. M. 1964.
[5] Siehe hierzu: Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medi­en­wis­sen­schaft. Heft 36: »Zur neuen Kine­ma­to­gra­phie des Holocaust«, hrsg. von Günter Giesen­feld, Alexander Jakob, Thomas Koebner und Marcus Stig­legger, 36 (2004).; Marcus Stig­legger, »Auschwitz-TV. Refle­xionen des Holocaust in Fern­seh­se­rien«, Wiesbaden 2014; ders., »SadicoNa­zista. Geschichte, Film und Mythos«, Hagen-Berchum 2015.
[6] Siehe hierzu: Patricia MacCor­mack, »Cine­s­exua­lität, Zuschau­er­schaft, Schiz-Flux. Die Liebe zum Kino als einem organ­losen Körper«, in: Global Bodies. Mediale Reprä­sen­ta­tion des Körpers, hrsg. von Ivo Ritzer und Marcus Stig­legger (Medien/Kultur 5), Berlin 2012, S. 22–29.