23.11.2017

Argen­ti­nien schläft nicht

Eva No Duerme
Grandioses Kammerspiel: Pablo Agüeros Eva no duerme

Die Lateinamerikanischen Filmtage München zeigen neues Argentinisches Kino in seiner ganzen Vielfalt

Von Wolfgang Lasinger

Die argen­ti­ni­sche Film­pro­duk­tion war neben der mexi­ka­ni­schen immer schon eine der größten und bedeu­tendsten in ganz Latein­ame­rika, und zwar sowohl in wirt­schaft­li­cher wie kreativer Hinsicht. Auch die große künst­le­ri­sche Erneue­rung des latein­ame­ri­ka­ni­schen Kinos um die Jahr­tau­send­wende ging vor allem von diesen beiden Ländern aus. In Argen­ti­nien waren es Regis­seure und Regis­seu­rinnen wie Raúl Perrone, Lisandro Alonso, Pablo Trapero oder Lucrecia Martel, die mit ihrer Rück­be­sin­nung auf genuin filmische Ausdrucks­mittel nicht nur auf den einschlä­gigen inter­na­tio­nalen Festivals weltweite cine­as­ti­sche Aufmerk­sam­keit und Bewun­de­rung erlangen konnten.
Ganz im Sinne dieser Leit­funk­tion richten die Latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage München dieses Jahr den Blick exklusiv auf das Filmland Argen­ti­nien und können unter Beweis stellen, dass Argen­ti­nien auch heute noch über eine reiche Vielfalt an filmi­schen Stimmen und Posi­tionen verfügt.

Stell­ver­tre­tend für die Anfänge des »Nuevo cine argentino« (des neuen argen­ti­ni­schen Kinos, vgl. zu dem Phänomen die grund­le­genden Publi­ka­tionen der Film­his­to­riker Gonzalo Aguilar: Otros mundos 2006 und Jens Andermann: New Argentine Cinema 2012) und als Signal steht bei den latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtagen La Ciénaga – Morast von Lucrecia Martel aus dem Jahr 2001 im Programm. Wer Martels ersten langen Spielfilm noch nicht kennt, sollte die Gele­gen­heit nicht versäumen, diese meis­ter­liche film­poe­ti­sche Darstel­lung einer zwischen Stagna­tion und Regres­sion sich zerset­zenden Familie in der Provinz Salta im Norden des Landes auf der Kino­lein­wand zu erleben. (La Ciénaga – Morast, 24.11., 22:00 Uhr, 26.11., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino)

Den dies­jäh­rigen Eröff­nungs­film, Adiós entus­i­asmo von Vladimir Durán, kann man als thema­tisch verwandtes Seiten­stück zu Martels Debüt verstehen. Auch hier wird eine Familie (diesmal in Buenos Aires) zum geschlos­senen Mikro­kosmos, an dem sich die Symptome einer krisen­haften Entwick­lung in der Gesell­schaft ablesen lassen. Es ist befremd­lich und beklem­mend, wie in diesem Film mit einer abnormen Situation als alltäg­li­cher Norma­lität umge­gangen wird: die Mutter der Familie ist innerhalb der Wohnung in einem Zimmer einge­sperrt. Die erwach­senen Töchter und der kleine Alex kommu­ni­zieren mit ihr nur durch die verschlos­sene Tür und über eine schmale Durch­reiche vom Bade­zimmer aus, über die sie die Mutter mit Kleidung, Decken und Essen versorgen. Als wieder einmal der Geburtstag der Mutter bevor­steht, kommt es zu kompli­zierten Verwick­lungen, an deren Ende poten­ti­elle Liebhaber der Töchter und andere Gäste (Verwandte und Freunde) in einer glei­cher­maßen impro­vi­sierten und ritua­li­sierten Feier zusam­men­kommen.

Man sucht ständig nach einer schlüs­sigen Deutungs­mög­lich­keit für die Situation: Warum etwa beginnen die Vornamen der Töchter und des Sohns alle mit dem Buch­staben A? Ist das ein Verweis auf die Nation Argen­ti­nien? Der Film bezieht aber seine starke Wirkung gerade daraus, dass man das darge­bo­tene Szenario einfach so hinzu­nehmen hat, wie es ist: Familie als absurdes Theater psychi­scher Defor­ma­tionen, in das unter anderem soziale Faktoren hinein­wirken, ohne dass ein eindeu­tiger Ursache-Wirkungs-Zusam­men­hang zu konstru­ieren wäre. (Adiós entus­i­asmo, 23.11. 18:45 und 21:15 Uhr, Wdh. 25.11., 22:30 Uhr, Werk­statt­kino)

Eine andere Spielart des großs­täd­ti­schen Bezie­hungs­kosmos in Buenos Aires bietet Matías Piñeiro in La Princesa de Francia mit amourösen Tände­leien um Víctor, der es mit fünf Frauen zu tun hat, seiner Ex, seiner aktuellen Freundin, einer womöglich zukünf­tigen Freundin oder Geliebten oder wie auch immer. Die titel­ge­bende Prin­zessin aus Frank­reich jeden­falls stammt aus dem Shake­speare-Stück »Love’s Labour’s Lost«, das Víctor für eine Radio­fas­sung adaptiert und nun mit den ihn umge­benden Frauen und Freun­dinnen einspielt. Es entwi­ckelt sich ein Reigen, der wegen seiner wort­rei­chen Verwir­rungen mit Eric Rohmer und wegen seiner Thea­ter­be­züge mit Jacques Rivette vergleichbar ist. Die durch­cho­reo­gra­phierte Struktur von wieder­holt vari­ierten Situa­tionen in unter­schied­li­cher Besetzung lässt auch an den Südko­reaner Hong Sang-soo und dessen verzwei­felt-komische Bezie­hungs­de­saster denken.

Was aber Piñeiros Vexier­spiel mit Shake­speare (er hat unter anderem noch drei weitere Filme in lockerer Anlehnung an dessen Stücke in seiner Filmo­gra­phie) zu einem ganz und gar eigen­wil­ligen Vergnügen macht, ist die ironische Bezug­nahme auf den bourgeois-schwüls­tigen Akade­mismus des fran­zö­si­schen Malers William Adolphe Bougue­reau. Von dessen Gemälden mit lasziven Nymphen­träumen aus dem späten 19. Jahr­hun­dert hängen ein paar in Buenos Aires im Museo de Bellas Artes, in dem dann auch Szenen des Films spielen. Immer wieder disku­tieren Víctor und seine ihm zusehends über den Kopf wach­senden Gefähr­tinnen das von diesen Malereien vermit­telte Frau­en­bild und versuchen, damit ihre eigenen Vorlieben abzu­glei­chen. (La Princesa de Francia, 24.11., 18:15, Wdh. 29.11., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino)

Neben solch fein­sin­niger Bezie­hungs­cho­reo­gra­phie bieten die Latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage dieses Mal auch wieder hand­festes und ergrei­fendes Erzähl­kino, in dem der Ikono­grafie typisch argen­ti­ni­scher Regionen eine nicht unbe­trächt­liche Rolle zukommt.
In El Invierno, dem erstaun­lich reifen und sicheren Erst­lings­film von Emiliano Torres, ist es die in eindrück­li­chen Bildern vermit­telte raue pata­go­ni­sche Winter­land­schaft, vor deren Hinter­grund sich mit archai­scher Wucht und latenter Gewalt ein Gene­ra­tio­nen­kon­flikt um den von einem Jüngeren abge­lösten älteren Vorar­beiter auf einer abge­le­genen Schaf­züch­ter­farm entspinnt. (25.11., 20:30 Uhr, Werk­statt­kino)

In La Novia del Desierto, der ersten Arbeit der beiden Regis­seu­rinnen Cecilia Atán und Valeria Pivato, findet Teresa, die sich ihr Leben lang als treue Dienst­magd in Buenos Aires aufge­op­fert hat, unver­hofft einen Neuanfang fern der Metropole, in der Provinz San Luis im äußersten Westen des Landes. Der Weg dorthin führt durch wüsten­hafte Land­striche; in einer einfühl­samen und behut­samen Anpassung des Musters des Road­mo­vies wird die Fahrt für Teresa zu einer Initia­tion in einen neuen Lebens­ab­schnitt. Paulina García, die in ihrer Rolle als Gloria (2013) im gleich­na­migen chile­ni­schen Film von Sebastián Lelio bereits ein großes Publikum begeis­tert hat, kann auch hier, in dieser chile­nisch-argen­ti­ni­schen Kopro­duk­tion, wieder über­zeu­gend nach­voll­ziehbar machen, wie die zunächst verhal­tene und zurück­ge­nom­mene Teresa in wüsten­hafter Umgebung gleich­wohl aufzu­blühen vermag. (La Novia del Desierto, 24.11., 20:00 Uhr, Wdh. 28.11., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino)

Dass es eine große Tradition des latein­ame­ri­ka­ni­schen poli­ti­schen Kinos der 60er und 70er Jahre gegeben hat, daran können die zwei weiteren Filme der dies­jäh­rigen Latein­ame­rika-Filmtage erinnern. Sie greifen histo­ri­sche und politisch-soziale Belange auf, und zwar in fiktio­naler bzw. in doku­men­ta­ri­scher Form.
Die beiden Filmer Diego Gachassin und Matías Scarvaci (Letzterer wird bei den Vorfüh­rungen auch persön­lich anwesend sein) begleiten in Los cuerpos dóciles den Rechts­an­walt Alfredo García Kalb, der sich der Vertei­di­gung mittel­loser Delin­quenten im argen­ti­ni­schen Gerichts­system ange­nommen hat. Insbe­son­dere Fälle von Eigen­tums­de­likten inter­es­sieren ihn, weil sie den Kern des Selbst­ver­s­tänd­nisses einer auf Besitz gegrün­deten bürger­li­chen Gesell­schaft frei­zu­legen vermögen. Je leiden­schaft­li­cher sich Kalb persön­lich einsetzt, umso stärker rückt er dann auch mit seinem Privat­leben in den Fokus des Films. So wird Los cuerpos dóciles (der Titel, dt. »Die geleh­rigen Körper«, bezieht sich auf ein Kapitel in Michel Foucaults »Über­wa­chen und Strafen«) nicht nur zu einer kriti­schen Reflexion auf das Straf­system, sondern zu einem inten­siven persön­li­chen Porträt. (Los cuerpos dóciles, 25.11. 18:15 Uhr, Werk­statt­kino, Wdh. 26.11., 19:30 Uhr, Instituto Cervantes)

In Eva no duerme von Pablo Agüero schließ­lich bilden in einer Folge von Tableaus Stationen der argen­ti­ni­schen Geschichte von Juan Peróns Präsi­dent­schaft (1946-55) bis zu den Regimes der Mili­tär­ge­neräle den Hinter­grund für die aber­wit­zige Geschichte vom Schicksal der einbal­sa­mierten Leiche der 1952 verstor­benen Eva Perón, der charis­ma­ti­schen Gattin Juan Peróns.
Die ambi­va­lente Faszi­na­tion, die der Pero­nismus bis in die Politik der Gegenwart ausübt, mit seinem Perso­nen­kult und den ihm inhä­renten popu­lis­ti­schen Tendenzen, verleiht dem Film eine thema­ti­sche Dring­lich­keit, die durch zeit­ge­schicht­li­ches Archiv­ma­te­rial unter­mauert wird.
Besonders bestechend sind in Eva no duerme die groß­ar­tigen Schau­spie­ler­per­for­mances von Gael García Bernal und Denis Lavant, die ihren Rollen als Militärs die schil­lerndsten Facetten zwischen fiebrigem Auto­ri­täts­kult und unmit­tel­barer physi­scher Präsenz abge­winnen und dabei (gerade in Bezug auf die phan­tas­ma­ti­sche Obsession von der glei­cher­maßen gefürch­teten und bewun­derten Eva Perón) ein abgrün­diges Bild machis­ti­scher Männ­lich­keit entwerfen. (Eva no duerme, 27.11., 20:00 Uhr, Werk­statt­kino)

Die Latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmtage München sind eine Veran­stal­tung unter dem Dach der Filmstadt München e.V., die das ganz­jährig das Angebot der Münchner Kino­land­schaft erweitert und ergänzt.