31.12.2015

Diverse Déjà-Vus

Hana-bi bei Kore-eda in einem der besten Filme des Jahres: Unsere kleine Schwester entfacht ein Feuerwerk der Gefühle

Lachend in den Abgrund stürzend: Das Kinojahr 2015 – ein persönlicher Rückblick, erster Teil

Von Rüdiger Suchsland

Wellen, Meer, Schilf im Wind, eine schwei­fende Kamera, und eine Handvoll Menschen auf einer Pazi­fik­insel, weit im Süden von Japan. Im Mittel­punkt zwei Jugend­liche, die erwachsen werden. Eine Sommer­ge­schichte, ein Hauch von Nouvelle Vague … Still the Water der japa­ni­schen Regis­seurin Naomi Kawase ist ein schwe­re­loser Film, magisches Kino aus Farben und Bewegung, naturnah und sinnlich, zugleich von einer betö­renden Schönheit, die über sich hinaus weist – das war er dann, der alles in allem beste Film des Jahres 2015.
Einer von viel­leicht einem Dutzend Filmen, die bleiben werden.

Es war überhaupt ein Jahr des japa­ni­schen Kinos: Noch ein zweiter, neuer Film von Kawase kommt an den letzten Tagen des Jahres ins Kino, daneben muss man an Unsere kleine Schwester von Hirokazu Kore-eda erinnern, beides stille, sensible Filme, in deren scheinbar kleinen, durchaus unter­halt­samen Fami­li­en­ge­schichten sich große Themen verbergen: Liebe und Tod, Erin­ne­rung und Zukunfts­hoff­nung.

Tokyo Tribe von Sion Sono war demge­genüber das Gegenteil, ein Rock'n'Roll-Fantasy-Märchen aus der Zukunft – aber wie die anderen japa­ni­schen Filme ein exzellent und bewun­derns­wert souverän insze­niertes Werk.

Alles vibriert

Es war auch, wieder einmal und weniger über­ra­schend, ein Jahr der Franzosen: Drei Filme über – sehr unter­schied­liche – Außen­sei­ter­banden belegten wieder einmal, dass Frank­reich das mit Abstand stärkste Kinoland Europas ist. Und eine Ausnahme. In Une Jeunesse Allemande erzählte Jean-Gabriel Périot sogar von Deutsch­land, vom Aufbruch der Studenten in den 60ern, der auch ein Aufbruch der Filme­ma­cher war. Und von der Versu­chung des Terrors, der auch das Kino, nicht kalt ließ. Eden von Mia Hansen-Løve nahm die Techno-Szene der frühen 90er ins Visier.
Und auch in Bande de filles nahm Céline Sciamma jugend­liche Lebens­welten ins Visier – ein Film, der viel Spaß macht, und dabei von einer Gruppe schwarzer Mädchen aus der Vorstadt erzählt.

Die Leinwand atmet frische Luft. Alles vibriert in diesem Film, der vor allem ein ästhe­ti­sches und anti­kon­ven­tio­nelles Statement ist, in seinen ausufernden Kame­ra­be­we­gungen und dem forcierten Musik­ein­satz, ein Film, der zeigt, dass Form von Inhalt nicht zu trennen ist – und damit indirekt das Main­stream­kino kriti­siert.

Genreboom

Was für ein bemer­kens­wertes Filmjahr! Aber auch: Was für ein merk­wür­diges Filmjahr! Aus den USA kam wie immer die Masse der Filme – die besten unter ihnen waren unab­hän­gige, eher gering budge­tierte Produk­tionen. Und sie waren Genre­filme: Mit dem Vorstadt­horror in David Robert Mitchells It Follows konnte kein zweiter Film mithalten. Und was war lustiger als die Rückkehr des New-Hollywood-Stars Peter Bogd­a­no­vich mit der groß­ar­tigen Theater-im-Film-Komödie Broadway Therapy? Ähnlich witzig auch zwei Komödien des besseren Woody Allen namens Noah Baumbach: Mistress America läuft gerade noch im Kino.

Nicht vergessen werden wird auch Bill Pohlands Love & Mercy. Ein melan­cho­li­scher, äußerst berüh­render, dabei begeis­ternder Film über Brian Wilson, das Genie im Herzen der »Beach Boys« ist nichts weniger als einer der besten Musik­filme der letzten Jahr­zehnte – das Gegenteil aller Konven­tion. Nicht zuletzt auch durch mitreißende Darstel­ler­leis­tungen von Paul Dano und John Cusack in der Rolle des jungen und des älteren Wilson.

2015 war natürlich auch ein weiteres Retro-Jahr, ein Jahr, das diverse Déjà-Vus bescherte: Ein neuer James Bond, ein neuer Spielberg, ein neuer Star Wars, ein neuer Termi­nator, ein neuer Jurassic Park und ein neuer Mad Max. Nicht alles war stark, aber alles war verläss­lich – wobei die zwei letzteren, Jurassic World mit noch größeren, noch schlim­meren Dino­sau­riern, und Mad Max – Fury Road, der als »bester Film« des inter­na­tio­nalen Kriti­ker­ver­bandes Fipresci die Fein­geister und das grobe Volk mal ausnahms­weise verein­nahmte, wohl die besten Guilty-Pleasure-Filme des Jahres waren: Jurassic World ist Spektakel pur, und dabei gar nicht mal blöde, weil hier das Kino der Attrak­tionen sich und sein Publikum gleich noch selbst zum Thema macht. Und Mad Max – Fury Road ist der Film zu unserer eigenen Zukunft, zu jener Apoka­lypse des Westens und seiner Demo­kra­tien, die sich gerade ereignet, und in deren Abgrund wir uns lachend hinab­stürzen.

Die Demenz des deutschen Films

Und sonst? Dino­sau­ri­er­haft und zum Aussterben bereit wirkt dagegen nicht nur die deutsche Film­för­de­rung und die Politik der an Kino völlig desin­ter­es­sierten Kultur­staats­mi­nis­terin Grütters, sondern das ganze deutsche Kino – nichts wirklich Neues, Fesselndes auf weiter Flur, und irgendwie typisch, dass ein Film über Demenz der erfolg­reichste deutsche Film des Jahres wurde.

Kein einziges ernst­zu­neh­mendes Film­fes­tival außerhalb Deutsch­lands lud auch nur einen deutschen Film in seinen Wett­be­werb. Am besten noch waren staats­tra­gende, wenn auch kreuz­brave Filme wie Der Staat gegen Fritz Bauer – anständig, ja. Und mit viel Einsatz des Regis­seurs Lars Kraume. Aber Filmkunst ist doch noch etwas anderes.

Der einzige deutsche Film, dem der Honig der co-produ­zie­renden Fern­seh­sender nicht das Hirn verklebte, bleibt dann Sebastian Schippers Victoria – gerade, weil er nicht perfekt ist und sich angreifbar machte, konnte er so begeis­tern. Das war mal was! Außer Atem in Berlin.