28.10.2004
Dogville Kills Bill

IV. DOGVILLE

DOGVILLE
Grace
(Foto: Concorde)

Dogville Kills Bill – Frank Müllers' umfang­reiche Ausein­an­der­set­zung mit Kill Bill und Dogville

Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigen­wil­lige Regie­leis­tungen, in sich grund­ver­schieden

Von Triers Kino der Wahrhaftigkeit

Von Frank Müllers

Wenn wir nun die pompöse Kinomesse von Kill Bill verlassen und in den Film Dogville treten, dann ist das so, als würden wir aus einer Kino­ka­the­drale aus Pappmaché in die lautere Wahr­haf­tig­keit einer einfachen Dorf- und Wander­kirche auf dem Land treten, die mit der Zeit aber eine Wirkung entfaltet, mit der sie sich als die wirkliche, echte Kathe­drale erweist.

Natürlich können wir über den Film Dogville nicht reden, ohne über die »Dogma-Bewegung« zu reden, die von Lars von Trier nicht nur gegründet und initiiert wurde, sondern von ihm auch im Wesent­li­chen geprägt wird. Die öffent­liche Diskus­sion um diese Bewegung irrlich­tert ein wenig an der Ober­fläche, weil hier­zu­lande nicht so sehr die Idee der frei­wil­ligen Beschrän­kung wahr­ge­nommen und disku­tiert wird, als die einzelnen Regeln selbst, die ja aber nur eine Spezi­fi­zie­rung dieser Idee der frei­wil­ligen Beschrän­kung sind. Es scheint fast, als hätte sich ein Volk von Kritikern in ein Volk von Verkehrs­wäch­tern verwan­delt, das jede Nicht­ein­hal­tung und Über­tre­tung einer Dogma-Regel bereits entweder „Schwindel“ rufen oder das baldige Ende der Dogma-Bewegung selbst herbei­rufen lässt. Dabei haben Regeln in der Kunst natürlich eine gänzlich andere Bedeutung als Regeln im Verkehr, nämlich eine genau entge­gen­ge­setzte: Regeln im Verkehr sollen die Wieder­hol­bar­keit und Bere­chen­bar­keit der Abläufe garan­tieren, Regeln in der Kunst sollen diese unter­laufen oder sogar zerstören. Regeln in der Kunst dienen der Heraus­for­de­rung, Regeln im Verkehr dienen dazu, es zu möglichst wenig Heraus­for­de­rungen kommen zu lassen. Im gewissen Sinn sind Regeln in der Kunst aus dem selben Grund gut, wie im Sport, weil einzig nur dort, wo es Regeln gibt, auch Virtuo­sität möglich ist, aber anders als beim Sport ist in der Kunst auch noch der Regel­ver­stoß mit inbe­griffen.

Die Selbst­be­schrän­kung hat den Zweck, einen neuen frischen Zugang auf die Welt sich zu erhalten, denn nichts ist tödlicher für die Kunst als die Konven­tion und sei es die eigene. Die Erkenntnis, dass die Kunst sich wandeln müsse, damit die Wahr­neh­mung auf der Welt sich erhalten kann (Sklovsky), hat Lars von Trier mit den Dogma-Regeln sich zu seinem selbst­re­gu­lie­renden Prinzip erhoben. Die Forde­rungen nach Verzicht auf technisch-mani­pu­la­tive Möglich­keiten des Films fordern den Künstler ebenso heraus, wie sie von ihm verlangen, dass er seine Abbildung und damit seine Sicht­weise nicht der Konven­tion der Technik überlässt, sondern dass er sich einen offenen, dyna­mi­schen Zugang zur Realität bewahrt, wobei auch das, was dabei von außen zufällt (Wetter, Licht, die Spon­ta­n­eität der Schau­spieler) nicht als Zufall abge­wertet, sondern zum Bestand­teil des Films wird. Bei Kennt­nis­nahme dieser künst­le­ri­schen Absichten mag auch die »Hinter­grund­in­for­ma­tion« keine so große Über­ra­schung mehr auslösen, dass die Dogma-Idee der Selbst­be­schrän­kung ein Vorbild hat, das halb aus der bildenden Kunst und halb aus der ethno­lo­gi­schen Doku­men­ta­tion entstammt: nament­lich in der Person des Doku­men­tar­fil­mers Jørgen Leth, der für die Dogma-Bewegung das bewun­derte Vorbild ist, und mit dem von Trier nach Dogville einen Doku­men­tar­film Die fünf Hinder­nisse (dt. Titel) gedreht und in Venedig gezeigt hat, in dem von Trier den Spieß umdreht und Leth immer wieder selbst Regeln auferlegt (ein Film, der im August zu sehen war). Sich nur auf die Regeln zu kapri­zieren, ohne die dahinter ernsten künst­le­ri­schen Absicht zu sehen, die alle im dazu­gehö­rigen Manifest nach­zu­lesen sind, mag unserer regel­rechten Regel­gläu­big­keit geschuldet sein, aber ist ein wenig so, als würde man sich die von Moses über­brachten 10 Gebote betrachten, ohne den Glauben an einem Gottes wenigs­tens zur Kenntnis zu nehmen (geschweige diesen zu teilen). Ohne die Zurkennt­nis­nahme von der Idee eines Gottes wäre wohl auch Moses als Wich­tig­tuer oder geris­sener Ideen­ver­käufer verlacht worden.

Obwohl aus dem vermeint­li­chen Scherz einige aner­kannte Meis­ter­werke, zumindest sehr ernst­zu­neh­mende Filme erwachsen sind – Festen von Thomas Vinter­berg, Breaking the Waves und Dancer in the Dark und nun Dogville von Lars von Trier, werden die künst­le­ri­schen Über­zeu­gungen, auf denen die Dogma-Filmer ihre Gegen­kirche zu Hollywood und zum Autoren­kino errichtet haben, in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung weit­ge­henst ignoriert. Seeßlen hat seinen berüch­tigten Dogma-Verriß aus dem Jahr 1999, von dem wir heute immer noch den Geruch der verbrannten Erde spüren, und auf den wir zum Schluss dieses Essays noch zu sprechen kommen werden, rela­ti­viert, indem er achtens­wer­ter­weise die Meis­ter­schaft von Dancer in the Dark und Dogville anerkannt hat. Ande­rer­seits hat er das Dogma-Manifest, das ja haupt­säch­lich auf Lars von Trier zurück­geht, als einen „Rockn´Roll-Schwindel“ abgetan. Nun ist ein Manifest natürlich keine film­wis­sen­schaft­liche Abhand­lung. Es ist ein künst­le­ri­sches Manifest, in dem die Verrät­se­lung die Farbe ist, die es trägt, und deren Begrün­dung sich auch nicht im Text selbst findet, sondern eben in den Filmen. Aber vermut­lich ist dieses Abtun als „Schwindel“ nicht durch dessen „Unwis­sen­schaft­lich­keit“ und dessen ironi­schen Gestus begründet, sondern vielmehr von Seeßlens eigenen Motiven, einer­seits sich nicht gegen die offen­sicht­liche Meis­ter­schaft der Filme stemmen zu wollen, ande­rer­seits aber an seiner eigenen auf Hollywood gerich­teten Ästhetik fest­halten zu können, und die Filme als erfolg­reiche Einzel­pro­dukte in diesen Kosmos einge­meinden zu wollen.

In der freien Wirt­schaft würde man hierin den Versuch einer unfreund­li­chen Übernahme sehen können (wobei wir, die Bewun­derer dieser Filmkunst hier die Aktionäre abgeben würden). In einer kunst-reli­giösen Meta­phorik gespro­chen geriert sich Seeßlen als Kardinal des Hollywood-Rom-Kinos, der die Werke der talen­tierten Mystiker in den römisch-vati­ka­ni­schen Kosmos einge­meinden will, ohne aber die zugrun­de­lie­gende Häresie dazu. Die wohl­ge­formte Gestalt ohne aber den viel­leicht unge­wollten Gehalt haben zu wollen (z.B. die Gedichte Gottfried Benns ohne dessen dunklen Gedan­ken­strom in seinen Essays) entspricht zwar einer typischen, wohl­be­kannten Haltung der Post­mo­derne. Es ist dennoch kein besonders redliches Manöver, zumal für einen gelernten Ästhe­tiker. Nicht nur, weil noch kein Krimi­nal­fall in der Kunst­ge­schichte bekannt ist, wo ein Kunstwerk sich auf Mani­fes­ta­tionen seines Schöpfers gegründet hätte, die sich posthum als „Schwindel“ heraus­ge­stellt hätten, sondern weil die ästhe­ti­sche Revo­lu­tion, das Neue und das Erregende der Filme des Dogma-Erfinders Lars von Triers damit zu einem Trep­pen­witz nivel­liert wird. Man könnte, wenn man es drama­tisch sehen wollte (und wir sind bei aller Gelas­sen­heit eines Spazier­gän­gers gar nicht so weit davon entfernt, das alles drama­tisch zu sehen), die Empfeh­lung Seeßlens, das Dogma-Manifest als Scherz, nämlich „im Kontext des Pop“ zu lesen, und nicht im „Kontext der Filmkunst“, als versuchten Kunstraub aus der Gegen­kirche betrachten. Stellen wir die Filme und ihr Manifest also wieder dorthin zurück, wo sie entstanden sind, und wohin sie folglich auch gehören, nicht in dem „Kontext des Pop“, sondern in dem „Kontext der Filmkunst“.

Und siehe da: Stellt man das (Gründungs-) Manifest wieder zurück in den Bereich der Kunst – und der Filme von Lars von Triers, gewinnen die zunächst reichlich dunklen, der Natur nach apodik­ti­schen Verlaut­ba­rungen auf einmal eine Klarheit und Durch­sich­tig­keit, die nichts zu wünschen übrig lassen. Wir können uns daher der zunächst dunklen Sätze wie eines Reise- oder Frem­den­füh­rers bei der Begehung des Films Dogville bedienen, und im „Kontext des Films“ und seiner Dorf­kirche in Dogville werden sie aufleuchten wie Fackeln, die uns die wich­tigsten Bausteine dieser Archi­tektur zu unserer Ansicht freigeben werden.

»TOM DOGMA 95 the movie is no illusion!« Dies ist zwei­fels­ohne ein dunkler Satz, der über die Pforte des Eingangs gemeißelt steht, und der sich erst erhellen wird, wenn wir durch das Kirchen­in­nere durch­ge­gangen sind. Aber nicht nur als Spruch, sondern als Anspruch durch­zieht er das Manifest, wie auch den Film Dogville selbst. Zumindest lesen wir daraus den Anspruch auf eine Wahr­haf­tig­keit heraus, der die Dogma-Filmer dazu bringt, sich sowohl gegen das Hollywood-Kino wie auch gegen den Autoren­film zu wenden. Um den Anspruch klarer zu verstehen, gehen wir wie bei Kill Bill zunächst schul­buch­mäßig vor, verweilen noch ein wenig an der Pforte, und fragen uns nach der Absicht, aus der heraus das Gebäude entstanden ist. Taran­tinos Absicht (der ja wohl tatsäch­lich „Pop“ perso­ni­fi­ziert) besteht darin, ein möglichst starkes, beein­dru­ckendes, filmi­sches Ereignis zu schaffen, und möglichst viel bauliche Elemente aus einem als bekannt voraus­ge­setztem cine­as­ti­schen Fundus einzu­ar­beiten. Für Lars von Trier, so deuten es die Sätze aus dem Manifest, geht es aber um die Erfahrung von etwas Wirk­li­chem, einem außer­fil­mi­schen Inhalt: In Interview-Äuße­rungen zu Filmen befragt, die ihn geprägt haben (zual­ler­erst Carl Theodor Dreyer, Andrei Tarkovsky, Ingmar Bergmann) sagt Lars von Trier: »Ich möchte behaupten, dass jeder Film, den ich mag, auf einer Art wahr­haf­tigem Gefühl basiert, dass er – aber das ist sehr abstrakt, im Kern eine Wahrheit enthält, sogar ein Hitchcock-Film. Mein Lieblings-Hitchcock ist natürlich Vertigo, und obwohl dieser Film sehr, sehr sophisti­cated ist, habe ich doch das Gefühl, dass er sehr genau von einem bestimmten Gefühl erzählt.« Konkret zu seinem Film Dogville befragt, und ob er gerne provo­ziere, erklärte Lars von Trier: »Ich mache nicht dieses Fuck-you-thing, sondern mich inter­es­siert der Inhalt, der Diskurs über Vergebung und die Notwen­dig­keit von Rache.«

Halten wir also fest, dass Lars von Triers Film, im Unter­schied zu dem Film von Tarantino die Außer­or­dent­lich­keit eines Inhalt bean­sprucht, ein Inhalt, der notwen­di­ger­weise abstrakt bleiben muss, daher aber des Mediums bedarf, um erfahrbar werden zu können. Erst dieses Interesse an einem Inhalt – an einem, wohl­ge­merkt, außer­fil­mi­schen Inhalt – setzt das Kino als ein ästhe­ti­sches Medium wieder in Funktion, bzw. – um in der reli­giösen Meta­phorik zu verbleiben – in Amt und Würden. Es ist das Interesse an diesen Inhalt, das den eigent­liche Grund darstellt, dem Prunk der Hollywood-Kirche zu entsagen, den Regiegott-Talar abzu­streifen, und sich ironisch das einfache Gewand des Mystikers über­zu­streifen. Nicht das Kino selbst ist das Ziel, das Kino selbst ist nur das Mittel, diesen Inhalt sichtbar zu machen.

Einige Film­kri­tiker haben insbe­son­dere die Abgren­zung der Dogma-Filmer von der Nouvelle Vague als voll­kommen unglaub­haft kriti­siert, aber auch wenn es unüber­seh­bare Gemein­sam­keiten gibt, etwa den Impuls zur Revolte, oder aber die Verwen­dung der Hand­ka­mera, könnte die Ausrich­tung, zumindest was die Nouvelle Vagues Godards betrifft, gegen­sätz­li­cher nicht sein. Suchten die Nouvelle-Vague-Filmer den Inhalt im Persön­li­chen und Auto­bio­gra­phi­schen, und betrach­teten Filme als Artefakte ihrer persön­li­chen Stim­mungen und Ansichten (wie auch Tarantino die Filme als Mix seiner persön­li­chen Vorlieben ansieht), so suchen die Dogma-Filmer die Wahrheit außen. Sicht­barstes Zeichen dafür ist, dass bisher alle Dogma-Filme eine Geschichte, einen durch­kom­po­nierten „Plot“ haben. Haben Tarantino und Godard, letzterer um dem Story-Diktat des Hollywood-Kino zu entfliehen, den Plot ausge­kippt, und ersterer damit aber auch jeglichen Inhalt gleich mitaus­ge­schüttet, so reha­bi­li­tieren Lars von Trier und die anderen Filmer die Bedeutung der Geschichte wieder im Avant­gar­de­kino. In dieser Hinsicht erweist sich Lars von Trier, wie auch schon Kubrick vor ihm, als Tradi­tio­na­list, und in mehrerer Hinsicht als dessen Nach­folger. Die Abgren­zung zur Nouvelle Vague (Manifest: The auteur concept was bourgeois roman­ti­cism from the very start and therby ...false!) ist absolut klar und voll­kommen einleuch­tend, macht man sich nur bewusst, dass „Dogma“ nichts weniger als den Versuch eines neuen Realismus im Film darstellt. Verkennten wir diese Absicht, würde die gesamte Dogma-Bewegung so unklar und unver­s­tänd­lich wie eine Reise bleiben, von der wir nur die verwen­deten Fahrzeuge, die An- und Abfahrts­zeiten, die Zwischen­sta­tionen, aber weder die Absicht noch das eigent­liche Reiseziel wüssten.

Natürlich müssen wir noch heraus­finden, wo der Realismus zu finden ist, und welche Wirk­lich­keit er uns von der Geschichte Dogville zeigt. Betreten wir zunächst nicht die Haupt­pforte, sondern den Neben­ein­gang – die in Dogville erzählte Story –, so finden wir eine Geschichte vor, die noch mehr als in den Vorgän­ger­filmen Breaking the Waves und Dancer in the Dark völlig einfach und märchen­haft kompo­niert ist: Eine junge Frau kommt auf der Flucht vor Gangstern in ein Dorf, trifft auf den jungen Möch­te­gern-Schrift­steller und Moral­pre­diger Tom, der seiner­seits Grace dazu benutzt, ein mora­li­sches Expe­ri­ment mit den Bewohner von Dogville zu veran­stalten. Er überredet die Bewohner, Grace bei sich aufzu­nehmen, und überredet Grace, sich bei den Bewohnern mit kleinen Hilfe­leis­tungen zu bedanken. Als Grace von der Polizei gesucht wird, entscheiden sich die Bewohner in einer Abstim­mung, dass Grace dennoch bei ihnen bleiben darf, wenn sie sich zu den vorher frei­wil­ligen Hilfs­leis­tungen nun verpflichtet. Das ist der Beginn ihrer Verskla­vung. Am Ende ist Grace in Ketten gelegt, und von allen Männern verge­wal­tigt worden, außer von Tom zu dessen empfun­denen Leidwesen. Als Tom Grace verrät, und die Gangster anruft, stellt sich heraus, dass der Gangster der Vater von Grace ist, und Grace nutzt die Gele­gen­heit, sich an allen Bewohnern zu rächen, und sie töten zu lassen.

Die Geschichte ist vorbild­lich gebaut, sie verfügt muster­gültig wie jeder Hollywood-Film über drei Akte und zwei Wende­punkte. Aber dieser Rach­ein­halt ist nur der Inhalt auf der Hand­lungs­ebene, der, wenn man ihn noch knapper wieder­geben würde – eine junge Frau kommt in ein Dorf, wird von den Bewohner ausge­nutzt und versklavt, und rächt sich am Ende – der Inhalt eines jeden belie­bigen Rache­films sein könnte.

Völlig zurecht ist die Geschichte als eine Versuchs­an­ord­nung beschrieben worden, ohne dass wir uns schon über die Absichten dieser Versuchs­an­ord­nung im Klaren wären, was aber schon deutlich macht, das der erzählte Inhalt, anders als im plot­fi­xiertem Hollywood-Kino und seinem miss­ra­tenden Stiefkind, dem Kunstkino, noch nicht der Inhalt des Films ist. Entzünden wir eine weitere Fackel aus dem Manifest: »Having the charakter´s inner lives justify the plot is too compli­cated, and not „high art“« (»Wenn das Innen­leben die Handlung recht­fer­tigt, ist das zu kompli­ziert und keine „hohe Kunst“«). Dass der Inhalt nicht in der Handlung zu suchen ist, zeigt sich schon in der Zurück­hal­tung gegenüber dessen sensa­tio­nellen Momenten: Die drama­ti­schen Ereig­nisse, die Verge­wal­ti­gungen und Ernied­ri­gungen sind fast nur ange­deutet, und die weiteren Mittel – die ironisch gebro­chenene, an Barry Lyndon erin­nernde, märchen­haften Erzähl­stimme, die Kapi­tel­un­ter­bre­chung mit der wunder­baren Barock-Musik von Antonio Vivaldi – entrücken die Dinge in eine weitere Distanz und verhin­dern, dass unsere emotio­nale Teilhabe auf der Ebene einer banalen psycho­lo­gi­sche Iden­ti­fi­ka­tion mit der Heldin ablaufen könnte. Auch hat der Film auf der reinen Hand­lungs­ebene relativ wenige Span­nungs­mo­mente: Abgesehen von der über­ra­schenden Wende im dritten Akt wissen wir nach einer halben Stunde, dass die Entwick­lung der Figuren immer mehr in ihr anthro­po­lo­gisch Böses verläuft (nicht umsonst fühlen wir uns an Thornton Wilders »Unsere kleine Stadt« erinnert, man könnte auch noch Dürren­matts ebenfalls verfilmtes Thea­ter­s­tück „Der Besuch der alten Dame“ hinzu­fügen), wir wissen also ungefähr, wie der Hase läuft, wir wissen nur noch nicht, dass wir selbst dieser Hase sind, die schein­baren Beob­achter dieses Expe­ri­ments, selbst eigent­lich die Probanden dieser ästhe­ti­schen Versuchs­an­ord­nung sind, und auf eine Reise geschickt werden, an deren Ende wir uns als moderne Menschen mit moralisch korrekter Anschau­ungs­weise nicht mehr wieder erkennen werden.

Um hinter der Handlung des Films zu dessen Inhalt, und damit auch zu unserem eigenen Erfah­rungs­in­halt zu gelangen, müssen wir uns fragen, was von der Geschichte der Film Dogville uns zeigt, mit welchen Innen­seiten dieser Geschichte er uns konfron­tiert. Dieselbe Geschichte bereits durch die Prosa­baum­stämme eines Roman hindurch gesehen, würde gänzlich andere Seiten und Aspekte der Geschichte zum Vorschein bringen, als durch das lichte Geäst eines Gedichts gesehen.

»The basic purpose of a film is one of illu­mi­na­tion showing the viewer something he can´t see in any other ways« (Der alleinige Zweck des Films besteht darin, etwas zu beleuchten, was der Zuschauer auf keine andere Weise zu sehen bekommen kann). Dies stammt zwar nicht aus dem Fundus der Sätze aus dem Manifest, sondern aus einem der seltenen Inter­views von Stanley Kubrick, aber dieser Über­zeu­gungs­satz könnte auch für den ästhe­ti­schen Authen­ti­zi­täts­an­spruch der Dogma-Regis­seure glei­cher­maßen gelten. Man kann ihn in eine Frageform, zu einer Such-Fackel, umfunk­tio­nieren: Was zeigt uns der Film Dogville von der Geschichte Dogville, was wir ohne den Film nicht gesehen und erfahren hätten? Betreten wir also mit dieser Fackel nun den Haupt­ein­gang des Films, hinein in ein ästhe­ti­sches Gebäude, das zur Erkundung eines Gefühls errichtet worden ist, und versuchen wir zu verstehen, was er uns auf seine filmische Weise von der Geschichte zu sehen gibt, und was wir ohne diesen Film nicht zu sehen bekämen.

Und schon müssten wir unsere Besich­ti­gung des Films beenden, und unsere Fackel konster­niert nieder­sinken lassen, wenn wir den (sinn­ge­mäßen) Ruf des Kritikers von Spiegel-Online ungeprüft Glauben schenken wollten: »Das ist ja gar kein Film, das ist ja abge­filmtes Theater!« Tatsäch­lich: Statt auf ein „richtiges“ Dorf schauen wir auf eine Thea­ter­ku­lisse. Der Eingangs­satz, der über das Portal gemeißelt steht – »TO DOGMA 95 the movie is no illusion« – hätte uns warnen müssen, aber mit dem gänz­li­chen Entzug des illu­sio­nis­ti­schen Film-Natu­ra­lismus hätten wir nicht gerechnet. Aller­dings gucken wir nicht vom erdachten Parkett, oder vom Balkon, oder von einer der handelnden Personen aus, sondern wir gucken von der (gedachten) Decke senkrecht auf ein Bühnen­bild – ein Ausblick, von dem jeder zugeben muss, dass dies selbst im Zeital­ters des Thea­ter­e­vents eine eher unge­wohnte, und von daher nämlich atem­be­rau­bende Perspek­tive ist.

Es wäre ein Leichtes, weitere tech­ni­sche Belege, dass es sich beim Film Dogville um einen richtigen echten Film handelt, aufzu­zählen (Frag­men­ta­ri­sie­rung des Raums, Close ups u.s.w.). Aber der bloße Beweis, dass der Film ein Film ist, bringt uns auf unserem Weg, den Film Dogville in seiner ästhe­ti­schen Bauweise zu verstehen und daraus auch Erkennt­nisse für das Medium zu gewinnen, kein Stück weiter, weil wir allein mit diesen Beharren die Absicht hinter dem Kunst­griff nicht begreifen könnten, worin wirklich der Sinn liegen sollte, statt die Geschichte in einem „richtigen“ Dorfes in einem Bühnen­bild spielen zu lassen. Daher wollen wir den schon im Grunde als unsinnig erkannten Einwurf des Kultur­re­dak­teurs, es handele sich bloß um ein „aufge­zeich­netes Thea­ter­s­tück“, als einen Ausdruck unseres eigenen Erstau­nens umdeuten, und ihm dorthin folgen, woher er in Wahrheit entfleuchte, nämlich nicht aus dem Verlags­ge­bäude des „Spiegels“, sondern aus den unbe­wussten (inneren) Vorur­teilen unseres eigenen Innen-Kinos heraus.

Betrachten wir noch mal dieses Innen-Kino: Im Hollywood-Kino haben wir, wie schon eingangs erwähnt, eine Ästhetik, die technisch in der Lage ist, uns unsere Welt als ziemlich real vor Augen erscheinen zu lassen. Dabei ist die Welt natürlich nicht real, aber zumindest filmreal, d.h. der Hollywood-Film unter­nimmt alles, um uns den Film nicht mehr spüren und merken zu lassen, das Ästhe­ti­sche selbst zum Verschwinden zu bringen – „unsichtbar“ zu machen – um uns das Gefühl zu geben, uns mitten in einem Hand­lungs­ge­schehen zu wähnen (Stichwort: unsicht­barer Schnitt). Die Story ist bekann­ter­maßen nach den ästhe­ti­schen Grund­sätzen des Aris­to­teles gebaut, einer Drama­turgie also, die für das Theater gedacht war. Was also ist nun filmisch am Hollywood-Kino? Die Antwort ist notwendig paradox: Es ist die Drama­turgie, und man muss betonen, es ist nur die Drama­turgie. Der Hollywood-Film entnimmt all seine Ausdrucks­mittel einer Theater-Drama­turgie, und bedient sich des Films und seiner tech­ni­schen Mittel wie eines technisch perfekta­bleren Thea­ter­ap­pa­rats, was zur Folge hat, dass der Film auch selbst gar nicht mehr als ein eigenes Ausdrucks­mittel zu Tage treten kann. Pathe­tisch gespro­chen: Der Hollywood-Film gleicht einem Dampfer, der sich die filmi­schen Mitteln versklavt hat, um uns das Bewus­stein, dass wir uns einem Schiff befinden, und nur dank des Dampfers durch einen Hand­lungs­ab­lauf steuern, zum Verschwinden zu bringen. Wonach wir in unserem Innen-Kino also unsere Vorstel­lung vom Inbegriff des Films und vom »Kino« gebildet haben, nämlich dem Hollywood-Kino, bezeigt sich nun bei weiterem Hinsehen ironi­scher­weise selbst als das abge­filmte Theater, das sich nur äußerlich, dank seines tech­ni­schen Illu­sio­nismus als ein Film auszu­geben trachtet. Was sich als Kino ausgibt, ist Theater, und was wie Theater aussieht, durch den verfrem­deten Blick, ist in Wahrheit der Film. Dieser Verkeh­rung entspre­chend hat der Spiegel-Online-Redakteur das Drehbuch von Dogville, das ja in der Tat klassisch nach der aris­to­te­li­schen 3-Akt-Struktur geformt ist, als »großartig« gelobt, weil es das ist, was ihm von der Hollywood-Ästhetik vertraut vorkam, und die filmische Umsetzung beklagt, die ihm von der Hollywood-Ästhetik unver­traut war. Es ist schon inter­es­sant zu sehen, wie schnell die Abkehr von der gewohnten Hollywood-Ästhetik dessen unbe­wussten Dogmen in uns zum Vorschein zu bringt.

Es geht nun nicht darum, den Spieß umzu­drehen, sondern es geht darum, aufzu­zeigen, wie Lars von Trier den Spieß umdreht. Der Effekt des Kunst­griffs, uns eben keinem Film-Natu­ra­lismus auszu­setzen, liegt, wie bei jedem Genie­streich, auf der Hand, aber natürlich erkennt man ihn wie bei jedem Genie­streich erst hinterher: Indem von Trier nämlich das Theater wieder in den Film hinein­nimmt, und damit jegliche »Kinoil­lu­sion« verun­mög­licht, nimmt er das (versteckte) Theater wieder aus dem Film heraus. Das hört sich zwar wie ein Taschen­spie­ler­trick an, ist aber keiner: Entbunden von der skla­vi­schen Aufgabe, uns die äußere Welt so täuschend echt wie nur möglich erscheinen zu lassen, treten die filmi­schen Sicht­weisen wieder in Erschei­nung, und damit wieder in ihre ursprüng­liche künst­le­ri­sche Funktion: nicht nämlich als ein tech­ni­sches Mittel zur Erzeugung der Film-Illusion, sondern als ein Ausdrucks­mittel.

Nun hat ja, wie von Trier, auch Tarantino dem Abbild­cha­rakter entsagt, und uns einen Schritt in unser Innen-Kino in ein cine­philes Puber­täts­zimmer zurück­führen wollen, wo wir unschuldig Kino geguckt haben (was schon deswegen nicht funk­tio­nierte, weil es diesen Ort vermeint­lich unschul­digen Sehens niemals gegeben hat). Lars von Trier führt uns noch weiter zurück, in die Zeit, als das Kino eben noch nicht über die tech­ni­sche Möglich­keit verfügte, uns in einen Abbild-Illu­sio­nismus zu versetzen, und als es tatsäch­lich noch selbst wie »Theater« aussah, und eine ihm eigene Film­sprache entwi­ckeln musste, um sich vom Theater abzu­setzen und sich als eine eigene Kunstform zu etablieren. Indem Lars von Trier uns zu diesen Anfängen zurück­führt, wirft er uns aus unserer post­mo­dernen »Kenn-wir-schon-ham-wir-schon-ham-wir-schon-gesehen«-Satu­riert­heit heraus und lässt uns wie weiland Robinson Crusoe auf einem prämo­dernen Eiland stranden, um uns dem Erst­lings­zauber der Geburt des Mediums als eine Kunstform wie neu erleben zu lassen. Im Prinzip sehen wir durch die Kamera, wie die »ersten Menschen« durch die Kamera geschaut haben. Er setzt uns also in ästhe­ti­scher Hinsicht einer anthro­po­lo­gi­schen Situation aus, indem wir uns im Bannraum des Films die Welt vermit­tels des Films wie neu erschließen müssen. Vor der Folie des Theaters treten die filmi­schen Sicht­weisen hervor und werden wieder erlebbar.

Um das schon jetzt in allem ange­mes­senen Pathos zu sagen: Lars von Trier ist kein „Kino­zer­störer“, wie es oft auch bewun­dernd behauptet wird, er ist vielmehr der sieg­reiche dani­els­hafte Spartakus über das scheinbar allmächtig römische Goliath-Hollywood-Kino, dem es gelingt, die versklavten filmi­schen Mitteln aus dem Bauch des plot­fi­xierten Kinos zu befreien, und sie wieder ihrer subver­siven Natur gemäß zur ihrer surrealen Entfal­tung kommen zu lassen (worin dessen eigent­li­cher „Anti­ame­ri­ka­nismus“ liegen dürfte).

Um die zaube­ri­sche Wirkung der Wieder­fin­dung des Filmi­schen als Sicht­weise und Ausdrucks­mittel exem­pla­risch aufzu­zeigen, sollten wir kurz noch mal zur opening scene zurück­kehren. Für die »e„rsten Menschen“« war, wie uns die Theo­re­tiker unter ihnen versi­chern, das Vermögen des Films, den Zuschauer von seinem Platz wegführen zu können, und durch die Kamera (als unseren Stell­ver­treter) in den Filmraum immer wech­selnde Posi­tionen einnehmen zu lassen (die sog. „Ent-Arri­tie­rung“), einer der wesent­li­chen, neuesten und aben­teu­er­li­chen Eigen­schaften des neuen Mediums.

Durch die Konfron­ta­tion des Filmi­schen mit der Thea­ter­bühne lässt uns von Trier durch eine für das Theater »surreale« Plat­zie­rung dieses Mittel der Ent-Arri­tie­rung deutlich wie neu erleben. Hätte Lars von Trier, wie ursprüng­lich geplant, statt in einer Thea­ter­bühne in einem „wirk­li­chen“ Dorf in Schott­land gedreht, und hätte er eine ähnliche Einstel­lung aus einem Hubschrauber gefilmt, wäre das zwar auch „filmisch“ gewesen, aber wir würden diese Einstel­lung gar nicht mehr als filmisch bemerken, weil wir sie schon gewohnt sind. Auch würde uns die Kulisse von Dogville kaum über­ra­schen, wenn wir sie vom Parkett oder vom Sitzplatz oder Balkon eines wirk­li­chen Theaters aus betrachten würden, sie wäre sozusagen thea­ter­na­tu­ra­lis­tisch. Der Eindruck aber, der von einigen schon als „gottähn­liche Perspek­tive“ beschrieben wurde, wird ja nicht durch den rein räum­li­chen Abstand erweckt, sondern weil wir durch die exor­bi­tant nur dem Film mögliche Perspek­tive auf eine Theater-Welt gucken, die dieser selbst nicht angehört und daher ungewohnt ist. Durch die Einstel­lung von der Decke aus wird uns schlag­artig bewusst, dass wir einer anderen Sphäre angehören, als die Menschen, die wir unten auf der Bühne erblicken, die sich zwischen Mauern bewegen, obwohl da keine sind, Türen öffnen, die nicht vorhanden sind (aber wer weiß, viel­leicht sind da doch Türen? Wir sehen zwar keine Türen, aber hören die Türschläge ...), und dass wir einer von den Menschen da unten ganz und gar verschie­dene, nämlich der filmi­schen Sphäre angehören.

Von dieser ersten Einstel­lung an ist klar, dass wir nicht einfach einer Geschichte folgen, deren Inhalt entlang den Höhe- und Wende­punkten auffindbar wäre, sondern einer ästhe­ti­schen und mora­li­schen Versuchs­an­ord­nung, bei der nicht der äußer­liche Gescheh­nis­ab­lauf entschei­dend ist, sondern die mensch­liche Gefühls­dra­matik. Aus dem Bewus­stein, dass wir einen Film sehen, werden wir über die Dauer des Films nicht entlassen. Es ist das Fremde des Raums, in die wir uns bewegen, die uns die Welt so vorführt, als sähen wir sie zum ersten Mal.

Man hat ganz richtig wegen der Ähnlich­keit der Bühne mit einer Brecht-Bühne und der motiv­li­chen Anlehnung an die Brecht´sche „Seeräuber-Jenny“ von einem V-Effekt gespro­chen, wobei sich in diesem Kürzel ein etwas zu großes Bescheid­wissen spreizt, das im Grunde selbst wieder des verfrem­denden Verfah­rens bedürfte, weil hier wieder das der Wahr­neh­mung voraus­ei­lende Wissen (ah, ja Brecht) die Wahr­neh­mung verstellt. Es ist keine Verfrem­dung mit der Brecht­schen Absicht, eine gesell­schaft­lich verwert­bare Erkenntnis zu gewinnen, sondern eine Verfrem­dung nach Tolstoi (von dem Brecht seine Idee auch entnommen hat), die im Unter­schied zu Brecht auf den indi­vi­du­ellen Akt des Bewusst­wer­dens der Wahr­neh­mung zielt. Bewusst­wer­dung und Erspüren der künst­le­ri­schen Mittel und Verfrem­dung führen zu dem Effekt des »Sehens-wie-zum-ersten-Mal«, was eigent­li­cher Sinn und Zweck dieses Verfah­rens ist. Um an die eingangs schon zitierte Defi­ni­tion des russi­schen Forma­listen Sklovskij zu erinnern, die dieser eng an Tolstoi formu­liert hat: Um die Wahr­neh­mung des Lebens wieder herzu­stellen, die Dinge wieder fühlbar zu machen, nutzt die Kunst das Verfahren der Verfrem­dung: Die »Verfrem­dung der Dinge und Kompli­zie­rung der Dinge, um die Wahr­neh­mung zu erschweren und ihre Dauer zu verlän­gern. Denn in der Kunst ist der Wahr­neh­mungs­pro­zess ein Ziel in sich und muss verlän­gert werden.«

Der Verfrem­dungs­zauber in Dogville wäre unvoll­s­tändig beschrieben, wenn wir nicht genau gewahr würden, was wir zu sehen bekommen, und wie wir es zu sehen bekommen. Dafür müssen wir uns des zweiten wichtigen Bausteins dieser ästhe­ti­schen Archi­tektur des Films betrachten, nämlich der Hand­ka­mera, die schon zum Marken­zei­chen der Filme Lars von Triers und der Dogma-Filmer geworden ist; es ist ein schönes, weil wahres, aber etwas beschwer­li­ches Paradox, dass ein Film und eine ästhe­ti­sche Richtung, die sich all des tech­ni­schen Ballastes entledigt hat, um direkt zum erzäh­le­ri­schen Kern vorzu­dringen, uns in der Beschrei­bung dazu zwingt, sich erst über dessen filmische Mittel zu verge­wis­sern, um zum erzäh­le­ri­schen Kern vordringen zu können – wobei es hingegen bei dem technisch ungleich aufwen­di­geren Hollywood-Kino genügt, einfach nur den Inhalt zu refe­rieren, weil all diese filmi­schen Mittel für den Erfah­rungs­in­halt der Geschichte voll­kommen belanglos und ohne jede Bedeutung sind.

Die Hand­ka­mera ist das Kunst­mittel, das am meisten in der Dogma-Debatte die Gemüter erregt, und man kann schon sagen, dass es der eigent­liche skan­dal­träch­tige Kunst­griff ist. Es ist eines der Merk­wür­dig­keiten der Dogma-Debatte hier­zu­lande, dass über das »Gewackel« der Hand­ka­mera mehr geschrieben wird, als über das, was man durch sie zu sehen bekommt, und das mag an dem selbst schon ziemlich verwa­ckelten, nämlich unscharfen Authen­ti­zi­täts­be­griff liegen, der mit der Hand­ka­mera verbunden ist, nämlich der ständigen Vermi­schung zwischen einer jour­na­lis­ti­schen Authen­ti­zi­täts­vor­stel­lung (Über­ein­stim­mung mit der Wirk­lich­keit) und einer künst­le­ri­schen Auffas­sung von Authen­ti­zität (Über­ein­sti­mung von Inhalt und Form). Nun trifft man diese Vermi­schung von Künst­le­ri­schen und Doku­men­ta­ri­schem eben in Hollywood-Spiel­filmen und ameri­ka­ni­schen Fern­seh­se­rien oft selbst an, wenn nämlich die Hand­ka­mera als eine Konven­tion des Doku­men­tar­films einge­setzt wird, so etwa in Soder­berghs Traffic, oder in der Fern­seh­serie „24“, um den Eindruck von Unmit­tel­bar­keit entstehen zu lassen. Aber die Verwen­dung der Hand­ka­mera im Hollywood-Kino hat mit der künst­le­ri­schen Anwendung der Hand­ka­mera Lars von Triers nicht das Geringste zu schaffen. Wenn Seeßlen Lars von Trier „Fake-Doku­men­ta­rismus“ vorwirft, dann befindet er sich genau auf nämlichem Dampfer, nämlich dem Hollywood-Film-Dampfer, in dem die Hand­ka­mera nur ein weiteres in dem Dienst des Plots versklavtes filmi­sches Mittel ist, die Tatsache zu vernebeln, dass wir einen Film sehen, und dadurch die Illusion der Unmit­tel­bar­keit um ein weiteres zu vers­tärken. Dass Seeßlen im gleichen Dogma-Brand­ar­tikel auf der anderen Seite Lars von Trier Verach­tung und seelische Entblößung vorwirft, womit ja unter­stellt ist, dass die Hand­ka­mera etwas zeigt, was offen­sicht­lich nicht »Fake« ist, zeigt wiederum, dass Seeßlen Lars von Trier von beiden Authen­ti­zi­täts­la­gern aus angreifen möchte, was aber selbst für einen Begriffs-Virtuosen wie Seeßlen ein Ding der Unmög­lich­keit ist.

Bei Lars von Trier hingegen führt die Hand­ka­mera zu dem genau entge­gen­setzten Effekt, nämlich nicht zu der illu­si­onären Erzeugung der Unmit­tel­bar­keit, sondern zunächst zu dem Bewusst­werden des Vermit­telten, und damit zur Wieder­ge­win­nung des filmi­schen Wahr­neh­mungs­or­gans. Man hat von der Hand­ka­mera als Nach­ah­mung des kind­li­chen Blicks gespro­chen, aber dieser Effekt kommt nicht aus der Nach­ah­mung, sondern im Gegenteil, aus dem surrealen Un-Natu­ra­lismus dieser Bewe­gungen. Auch Kinder sehen die Welt nicht wie durch eine Hand­ka­mera, auch ihnen ist schon die Vorrich­tung von Mutter Natur mitge­geben, die dafür sorgt, dass die mit dem Sehen gekop­pelten Auf- und Abbe­we­gungen des Kopfes aus der Wahr­neh­mung ausge­blendet bleiben. Es ist das Unge­wohnte der Hand­ka­mera, dass diese Schutz­vor­rich­tung unter­bro­chen wird, wodurch erst das Neue, das Bewusst­werden der Wahr­neh­mung sich wieder einstellt, und wir durch die Welt gucken, als sähen wir sie zum ersten Mal.

Die Welt von Dogville ist eine doppelt verfrem­dete Welt, verfremdet durch die Art, wie sie erscheint, und durch die Weise, wie wir in sie hinein­schauen. Diese doppelte Verfrem­dung sorgt dafür, dass wir in der Tat die Welt so erblicken, als sähen wir sie zum ersten Mal. Es ist, als würden wir uns durch einen herme­tisch geschlos­senen ästhe­ti­schen Raum bewegen, mit ganz eigenen Gesetzen und eigenem Zeiter­leben. Weil das Erleben, einen Kindes­blick auf eine fremd­ar­tige Welt werfen zu lassen, mit erwach­senen Begriffen so schwer zu fassen ist (der dafür ansonsten verwen­dete Begriff der Tran­szen­denz erscheint abgenutzt, und daher für unseren Verste­hens­pro­zess wie ein Placebo-Begriff), könnte man die Art und Weise, wie wir ästhe­tisch durch den Raum geführt werden, viel­leicht nicht mit einem Schiff, aber mit einem Raum­schiff verglei­chen, aus dem wir die Welt in noch nie gesehener Art zu sehen bekommen. Denn wie in einem Raum­schiff rasen wir durch eine fremd­ar­tige Welt im Innern dieser Kathe­drale, und schauen in die Welt mit einem dem normalen Sehen entho­benen Blick (der Raum ist der ästhe­ti­sche Raum, das Raum­schiff ist der Kinosaal, und die Hand­ka­mera-Luke zeigt uns die Auf- und Abbe­we­gungen des Raum­schiffes an). Dieser doppelte Effekt der Verfrem­dung des Innen wie des Außen führt uns in der Tat in eine anthro­po­lo­gi­sche Situation zurück, in der wir uns die Welt sehend erschließen mussten.

Indem der Film seine »tech­ni­schen« Mittel nicht verschleiert (also das Raum­schiff ruckeln und zuckeln lässt), sehen wir aus dem Raum­schiff nicht nur was wir sehen, sondern wir erleben uns in dem, was wir sehen, mit. Was die Hand­ka­mera also doku­men­tiert, ist das spontane Spiel der Schau­spieler, und die dem Film eigene Bewegung und Betrach­tung, wodurch das Gemachte sichtbar bleibt. Hierdurch erst erleben wir uns als Wahr­neh­mende, und als Wahr­neh­mende sind wir mit »drin« in den Bildern, genauer: »mit drin« im Film. Sogar den im Hollywood-Kino unsichtbar gewor­denen Schnitt sehen wir wieder, wenn etwa in vielen Einstel­lungen das Bild nach vorne springt (der Schau­spieler ganz woanders steht, als er vorher stand, während die Tonspur aber Konti­nuität sugge­riert). Viel­leicht wäre es besser zu sagen, ohne weitere Begrün­dung, der Stein wird uns steinig gemacht, und wir spüren den Schnitt wieder, wie man seine Hände erst wieder spürt, wenn sie etwas zu ertasten bekommen. Gerade indem der Film sich nicht unsichtbar macht, erwächst er uns wieder zu unserem eigenen Wahr­neh­mungs­organ.

Auch in Tarantino Kino sitzen wir in einer fremd­ar­tigen, ebenfalls ästhe­tisch geschlos­senen Welt, aber es ist wie in einem Raum­schiff­si­mu­lator, in dem wir uns darüber zu freuen haben, dass alle Knöpfe so herrlich blinken, dass alle Bilder, die man zu sehen bekommt, nur simuliert sind, dass wir Filme sehen, die doch nur Filme sind, und daher wir von diesen Bildern von vorn­herein ausge­schlossen sind, weil wir die Bilder, die wir sehen, alle schon von früheren Raum­schiff-Erleb­nissen her kennen, und sie daher aus einer ganz anderen Zeit zu stammen scheinen. Wer würde dem gegenüber aber das richtige Raum­schiff-Abenteuer nicht vorziehen?

Wie aber kommt es nun zu dem seltsamen und wunder­baren Effekt, auf den im Grunde alles ankommt, und auf den auch alles Weitere beruht, und ohne den all das nichts wäre: nämlich dass das Bewusst­sein einen Film zu sehen, eben nicht wie im post­mo­dernen Kino zur Abwertung der Authen­ti­zität der Bilder führt (das Blut ist ja kein richtiges Blut, die-und-die Einstel­lung ist ja nur aus dem-und-dem Film), sondern im genauen Gegenteil, die Wahr­haf­tig­keit der Bilder erst steigern macht?

Der Grund liegt nicht allein darin, dass wir uns als Wahr­neh­mende wieder entdecken und erspüren, sondern in dem, was wir durch die Raum­schif­f­luke wahr­zu­nehmen bekommen, und zwar so, dass wir es auch für wahr nehmen können. Wenn wir noch mal die Kubrick-Fackel hoch­halten und gucken, was wir eigent­lich von der Geschichte zu sehen bekommen, was wir ohne den Film nicht zu sehen bekämen, fällt die Antwort sowohl technisch, wie auch naiv aus: was wir zu sehen bekommen, sind Gesichter in einer unend­li­chen Fülle von Halb- und Groß­auf­nahmen.

Wenn wir eben sagten, dass das Gewackel der Hand­ka­mera in der elendigen Authen­ti­zi­täts­de­batte mehr Interesse findet, als das, was wir durch die Hand­ka­mera zu sehen bekommen, war das in der Formu­lie­rung weniger die Aufde­ckung, als vielmehr die Vertu­schung eines Skandals. Über das Eigent­liche wird tatsäch­lich nicht gespro­chen, und falls doch mal, wird die Fülle an Groß­auf­nahmen mit der tech­ni­schen Eigen­schaft der Hand­ka­mera »erklärt«, weil, so die gewitzte Begrün­dung, »eine Hand­ka­mera sich kaum für die Halb­to­tale und Totale eigne« (Sudermann, „Dogma 95“). Diese Erklärung ist fast so wunder­schön wie die eines Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lers, der sich den Kunst­griff von Fontane, Brief­stellen in seinem Roman einzu­mon­tieren, mit der zur Fontanes Zeit sprung­haft ange­stie­genen Brief­kästen in Berlin zu erklären suchte. Viel­leicht bedürfen, wem die geheime Folge­rich­tig­keit künst­le­ri­scher Prozesse eher fremd sind, solcher »natür­li­chen« Erklärungen. Aber diese Erklärungen erklären überhaupt nichts, sie verstellen nur den Blick darauf, worauf es dem jewei­ligen Kunstwerk ankommt, und was es in seiner Gesamt­heit ausmacht.

Natürlich ist die Groß­auf­nahme auch in Dogville nicht die billi­gende Inkauf­nahme des Zwangs eines tech­ni­schen Aufnah­me­gerätes (was wohl nur Amateuren oder den Hollywood-Spektakel -Filmer vom Schlage Cecil DeMilles passieren würde, aber doch wohl kaum den Dogma-Filmern, deren Absicht der frei­wil­ligen Beschrän­kung es ja ist, sich aus den tech­ni­schen Zwängen des Filme­ma­chens zu befreien), sondern deren eigent­li­ches und gewolltes und wich­tigstes Ausdrucks­mittel. Die Groß- und Halb­auf­nahmen, die wir durch die Hand­ka­mera zu sehen bekommen, sind die filmische Sonde, mit wir in das Innere der Geschichte von Dogville zu sehen bekommen, es ist das Filmische, durch das wir einen ganz spezi­ellen und nur diesem Medium zuge­neigten Einblick in das Innere der Bewohner von Dogville und das seiner Haupt­figur Grace bekommen.

Von Beginn an sind es nicht die äußeren, sondern inneren Span­nungs­mo­mente, mit denen wir in den Bann gezogen werden: es sind ja zunächst wunder­same Augen­blicke, betrachtet durch unsere Raum­schif­f­luke, wenn wir den Gesich­tern der Bewohner von Dogville schüch­tern die Lebens­geister erwachen zu sehen, wenn diese sich gerührt und ungläubig aus ihrem zweck­be­haf­teten Dasein wie aus einem tiefen Winter­schlaf erheben, und auf Graces Aner­bieten, ihnen zu helfen, erst verwun­dert antworten, es gäbe eigent­lich nichts zu tun, aber ihnen dann vorsichtig doch Dinge einzu­fallen beginnen, die es zu tun gibt, die ihr Leben mit ein wenig Sinn und Schönheit erhellen können: bei Ma Ginger, die sich von Grace das Beet vom Unkraut befreien lässt; bei der gebil­deten Vera, der Mutter der sieben Kinder und Frau des prole­ta­ri­schen Apfel­bauern, die zu dem Vortrag eines Profes­sors fährt, während Grace auf ihre sieben Kinder aufpasst; und schließ­lich dem blinden Jack Machay (gespielt von dem groß­ar­tigen Ben Gazarra, berühmt durch seine Rollen bei Cassa­vetes), der glaubt, seine Blindheit vor anderen verbergen zu können, und es sich gefallen lässt, das Grace zur Zuhörerin seiner Apologien auf die Schönheit des Lichtes wird.

Bevor wir uns aber sagen könnten, was es ist, was wir von der Geschichte von Dogville zu sehen bekommen, und weil es unser Interesse ist, über Dogville auch ein Vers­tändnis für das Medium des Films zu gewinnen, könnten wir noch mal inne­halten und uns grund­sätz­lich fragen, welchen Stel­len­wert die Groß­auf­nahme in der Film­sprache einnimmt, um damit auch besser heraus­finden zu können, welche Ansicht der Geschichte in Dogville es ist, die wir durch die Groß­auf­nahme zu sehen bekommen. Was sehen wir nun in den Groß- und Halb­auf­nahmen in Dogville?

Betreiben wir kurz Grund­la­gen­for­schung, legen das Dogma-Manifest beiseite, und schlagen wir bei einem anderem Frem­den­führer nach, bei Bela Balázs, einen der bedeu­tendsten Erkunder und Geburts­helfer des Films als neue Kunstform, dessen beide in den 20er und 30er Jahren geschrie­bene Bücher „Der sichtbare Mensch“ und „Der Geist des Films“ Schatz­truhen sind, die heute noch unschätz­bare Kleinode bereit­halten, die uns zum Verstehen bringen, worin die Natur des filmi­schen Erlebens liegt; die Begeis­te­rungs­fähig­keit und die gedank­li­chen Einsichten von Balázs sind heute noch frap­pie­rend, und über­steigen das meiste, was wir ansonsten über Kunst und Film lesen können.

Die Groß­auf­nahme war für Balázs neben der Ent-Arri­tie­rung und der Montage das filmische Mittel, mit dem das Medium des Films eigent­li­ches Neuland in den Künsten betrat, und in dem sich das Gefühl fokus­siert, weswegen Balázs die Groß­auf­nahme die „Lyrik“ des Films nannte. Die Beson­der­heit der Groß­auf­nahme liegt, folgen wir Balázs, darin, dass in der Groß­auf­nahme die Gesichter vom Raum isoliert werden können (im Unter­schied zum Theater), und in der Groß­auf­nahme nicht nur Gefühle darstellbar sind, sondern auch Gefühls­ent­wick­lungen (im Unter­schied zur Porträt­ma­lerei). Aber über diese Eigen­schaften hinaus liegt das Besondere dieses filmi­schen Gestal­tungs­mittel darin, dass es die von allen anderen Künsten sich unter­schei­dende Fähigkeit besitzt, die Ambi­va­lenz von Gefühlen gleich­zeitig darzu­stellen. Während etwa in der Sprache die Verschie­den­heit der sich wider­spre­chenden Gefühle erst im Nach­ein­ander möglich ist, ist das Beiein­ander von Gut und Böse, Güte und Verschla­gen­heit, Schläue und Naivität (Balázs sprach von einer Poly­phonie des Gesichts­aus­drucks) in einem einzigen Moment gleich­zeitig möglich, wobei das nicht bedeutet, dass die Gefühle gleich­zeitig abge­bildet werden, aber dass sie auch in dem Wandel der Gefühle gleich­zeitig „erklingen“, wie in der Musik einzelne Töne zusammen einen Akkord ergeben. Balázs fand für diese Gefühls­dar­stel­lung entspre­chend den schönen Ausdruck des »Gefühls­ak­kords«. Mit diesem Mittel der Groß­auf­nahme, die Gefühle der Menschen erfassen und abbilden zu können, unter­scheidet sich der Film grund­le­gend zu den anderen Künsten.

Es ist ein inter­es­santer Zufall (aber vermut­lich ist das auch wieder kein Zufall), dass Balázs in seinem Buch „Der Geist des Films“ in seiner Beschrei­bung der Groß­auf­nahme auf den Film Die Jungfrau von Orléans von Carl Theodor Dreyer zu sprechen kommt; Carl Theodor von Dreyer, zugleich eines von Lars von Triers großen Vorbil­dern, dessen Drehbuch Medea er sogar selbst verfilmt hat. Johanna von Orléans besteht nur aus der Montage von Groß­auf­nahmen, in dem kein Raum vorhanden ist, der Raum auch nicht gegen­wärtig ist, »wozu auch«, fragt Balázs. »Hier wird nicht geritten und geboxt. Diese tobenden Leiden­schaften, Gedanken, Über­zeu­gungen prallen nicht im Raum aufein­ander. Und doch ist dieses gefähr­liche Duell, in dem sich nicht Klingen, sondern Blicke kreuzen, von atem­be­rau­bender Spannung, zwei Stunden lang. Denn wir sehen jeden Angriff und jede Parade, jede Finte, jeden Stoß des Geistes, und wir sehen jede Wunde, die die Seele bekommt. Dieser Film spielt sich in einer anderen Dimension ab, als die Cowboy und die Alpen­filme. Das macht die Nähe der Kamera möglich.«

Balázs sah die Bedeutung der Groß­auf­nahme nicht als ein Mittel unter vielen, sondern als den eigent­li­chen Schau­platz der filmi­schen Handlung, und den Nachweis dieser Behaup­tung fand Balázs bei einem Film, den ich ebenfalls anführen will, weil er uns das Verhältnis von äußerer Handlung und dem inneren Geschehen für den Film Dogville veran­schau­li­chen kann. In dem Beispiel geht es um einen fran­zö­si­schen Film ohne Titel­an­gabe mit folgender Versuchs­an­ord­nung: Einer Mutter, die am Ster­be­bett ihres Kindes sitzt, tritt der Tod ins Zimmer, und unter­breitet ihr den Handel, sich das vorher­stimmte Leben ihres Kindes anzusehen, und falls sie danach immer noch wolle, dass ihr Kind leben solle, so würde dies geschehen. Der Kunst­griff besteht nun darin, dass während diese Abenteuer passieren, das Gesicht der Mutter die gesamte Zeit einge­blendet bleibt, obwohl sie im Drama selbst gar nicht mitspielt. »Wir sehen«, schreibt Balazc, »andert­halb Stunden lang dem Spiel eines Gesichtes zu, in dem Hoffnung, Angst, Freude, Rührung, Trauer, Mut, weiß­glühender Glaube und schwarze Verzweif­lung flackern. Auf diesem Gesicht spielt sich das eigent­liche Drama ab, der wesent­liche Inhalt des Films. Die ›Geschichte‹ gab nur den Anlass dazu. Und das Publikum, ein ganz primi­tives Publikum, wurde nicht müde, andert­halb Stunden lang diesem Mienen­spiel zuzu­schauen.« Und er fügt hinzu: »Die Gaumont-Gesell­schaft (die Produk­ti­ons­ge­sell­schaft) wusste, warum sie Suzanne Despres für diese Rolle die große Gage zahlte. Denn das Publikum und die Film­ge­schäfts­leute haben es schon heraus, was unsere Ästheten und Literaten noch nicht bemerkt haben, daß es im Film nicht auf das Epische, sondern auf das Lyrische ankommt (Hervorh. von Balázs).«

Es scheint, als wüssten wir nun auch schlag­licht­artig, warum Lars von Trier Nicole Kidman und all die anderen wunder­baren Schau­spieler brauchte, aber das erscheint ja ange­sichts der Zeit­spanne und der filmi­schen Entwick­lungen von den 20er Jahren bis heute zunächst etwas seltsam. Balázs ging vom Stummfilm aus, in dem der Film wegen seiner „Armut“, also etwa ohne Ton auskommen zu müssen, auch auf den visuellen Ausdruck viel stärker ange­wiesen war, als später im Tonfilm. Im Hollywood-Film, wie er uns heute vor Augen tritt, steht die Groß­auf­nahme wie ein bekanntes Möbels­tück herum, das wir wie in einem uns bekannten Zimmer gewöhn­lich in unserer Wahr­neh­mung blind umgehen: d.h. wir sehen sie nicht, wie wir ja auch den Film nicht mehr sehen. Funk­tio­nell steht sie im Sklaven-Dienst der Story-Bebil­de­rung, ein kurzer Unter­bre­chungs­mo­ment der Handlung, ein kurzes Inne­halten, bis die Handlung dann weiter­läuft. Um mit den Worten Balázs zu sprechen: Im heutigen Holly­wood­film hat das Epische über das Lyrische gesiegt. Aber auch Balázs konnte, da er vom gewöhn­li­chen Stummfilm und dem frühen Tonfilm ausgehen musste, der Groß­auf­nahme, so sehr er diese auch als das eigent­liche neue Gebiet des Films schätzte, nicht mehr als ein „Beto­nungs­mo­ment“ zuspre­chen.

Das Inter­es­sante ist nun, dass Balázs die Entde­ckung, dass es dem Film nicht auf das Epische, sondern allein auf das Lyrische ankommt, bei einem Film machte, bei dem unge­wöhn­li­cher­weise ein Gesicht in Groß­auf­nahme zu sehen war, und damit das Lyrische den epischen Rahmen komplett ausfüllt. Balázs machte hier eine Entde­ckung über eine Möglich­keit des Films, die erst später, bei John Cassavates und eben bei Lars von Trier offen zu Tage tritt: Nämlich die Möglich­keit, auf den Vorwand einer Story verzichten zu können, lediglich einer Grund­si­tua­tion zu folgen, und das Lyrische – das Gefühl und das Innen­leben der Figuren – durch glaub­wür­diges Schau­spie­lern in einer glaub­wür­digen Situation – in den allei­nigen Mittel­punkt zu stellen. Die künst­le­ri­sche Verwen­dung der Hand­ka­mera, wie Cassa­vetes sie als einer der ersten verwendet hat, reha­bi­li­tiert nicht nur die Groß­auf­nahme wieder als Schau­platz des (filmi­schen) Gesche­hens, sondern kehrt das Verhältnis vom Epischen und Lyrischen zugunsten des Lyrischen wieder um. Es braucht wie zu Balázs´ Zeiten keine Fabel mehr als bloßen, banalen Vorwand, die Geschichte selbst braucht nur eine Ausgangs­si­tua­tion, weil die Groß­auf­nahme nicht mehr wie im Stummfilm nur ein „Beto­nungs­mo­ment“ ist, sondern geradezu unab­lässig die Zeit und Raum des Films ausfüllt. Wie in seinem Meis­ter­werk A Woman under Influence: Das Epische – Eine Frau kommt aus der Psych­ia­trie und wird von ihrem Mann, ihrer Familien und Freunde empfangen – genügt, um zwei Stunden die Gefühle aller Betei­ligten in den Gesich­tern der Schau­spieler zu beob­achten. Das Meiste, was wir davon zu sehen bekommen, ist unaus­sprech­lich.

Nun wird auch deutlich, was der Begriff der Versuchs­an­ord­nung meinen könnte: Die Geschichte von Dogvillee ist nicht der Vorwand zur Hervor­brin­gung von Groß­auf­nahmen (lyrischer Momente), er ist vielmehr die Staffelei, die eine Vielzahl von Gefühls­dar­stel­lungen trägt. Die Wand­lungs­breite der Bewohner von Dogville, die sich, ohne dem Einhalt bieten zu können, zum Bösen wandeln, ist spie­gel­bild­lich so groß, wie die Wandlung von Grace von einer jungen, gütigen Frau mit ihrem Glauben an das Gute im Menschen zu einer rächenden Frau. Die Hand­lungs­um­schwünge reprä­sen­tieren nicht das Innere der Figuren (was, wir erinnern uns aus dem Manifest, „no high art“ ist), sondern sollen diese vielmehr zum Vorschein bringen. Das Aner­bieten von Grace lässt den Bewohnern von Dogville ihr Böses hervor­treten, und die fort­füh­rende Spirale der Demü­ti­gungen bringt bei Grace Gefühle bis hin zur Rachsucht hervor. Es spricht für Lars von Triers Anspruch auf Wahr­haf­tig­keit vor seinem eigenem Medium, dass er das latent Sadis­ti­sche und Frag­wür­dige der Versuchs­an­ord­nung durch die Figur des Möch­te­gern­schrift­stel­lers und Moral­phi­lo­so­phen selbst in den Film hinein­nimmt und dadurch mit sichtbar werden lässt.

Wenn Balázs Recht hat, dass das Mienen­spiel in der Groß­auf­nahme besonders geeignet ist, die Natur des Menschen in seinen wider­sprüch­li­chen Gefühle einzu­fangen (und spätes­tens seit Dogville zweifeln wir nicht an der Rich­tig­keit dieser Behaup­tung), dann erscheint die Versuchs­an­ord­nung von Dogville, die darauf zielt, das Neben­ein­ander von Gut und Böse, von Güte und Tücke, von Erbarmen und Erbar­mungs­lo­sig­keit hervor­zu­holen, als dem Medium des Films voll­kommen adäquat, weil der Film die hierdurch hervor­ge­ru­fene Gefühls­am­bi­va­lenz von Gut und Böse in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck bringen kann. Verall­ge­mei­nert würde dies bedeuten, dass das Medium des Films nach einem solchen Inhalt verlangt. Erinnern wir uns kurz noch mal an das hilflose Spiel der Schau­spie­lerin Uma Thurman in Kill Bill. Begreifen wir, was in der Groß­auf­nahme passiert, als den eigent­li­chen Inhalt des Films, findet unsere anfäng­liche Mutmaßung, dass Taran­tinos Film keinen Inhalt hat, und Dogville wohl, hierin seine Bestä­ti­gung. Auch Kill Bill hat eine Fülle von Groß­auf­nahmen; Kill Bill beginnt ja sogar mit einer Groß­auf­nahme. Aber Tarantino genügt sich mit dem Instru­ment als solchem. In seinem Kino, in dem jede Ambi­va­lenz heraus­ge­fil­tert ist, gleichen seine aufwendig arran­gierten Groß­auf­nahmen – um an Balázs groß­ar­tigen und fein­füh­ligem Wort des „Gefühls­ak­kords“ anzu­knüpfen – pompösen glit­zernden, auf der Bühne gestellten Klavieren, in denen nichts heraus­kommt, weil auch nichts hinein­geben wird. Das heißt: Wir hören schon mal einen einzelnen Ton, Wut etwa, oder Trauer, aber ein Ton, auch wenn er mit der Faust auf den Tasten heraus­ge­presst wird, ergibt noch keine Melodie. In Lars von Triers Film ist die Ambi­va­lenz bis zu keiner Stei­ge­rung mehr fähig, und so genügt schon die flüch­tigste Aufnahme der mal unruhigen, dann verwei­lenden, dann wieder herum­reißenden Kamera, um ein ganzes viel­stim­miges Orchester an Empfin­dungen in uns zum Erklingen zu bringen.

Und so beginnen wir immer tiefer in diesem Raum­schiff in den Gefühls­raum der Figuren hinein­zu­tau­chen, und sehen durch die Hand­ka­mera-Luke zu, wie das Böse aus den guten Menschen von Dogville kriecht. Derselbe Leben­sü­ber­schuss, den Grace geweckt hat, und der vorher die Freund­lich­keit und der Sinn des Schönen hervor­ge­bracht hat, bringt nun das Andere, das Böse hervor: neben der Kinder­liebe und dem Sinn für Bildung tritt der unver­hoh­lene Sadismus Veras zu Tage; hinter dem Sinn für das schöne Licht des Blinden die unver­hoh­lene Geilheit; neben dem tumben und naiven Lebens­ver­s­tändnis des Dorf­trot­tels die Skru­pel­lo­sig­keit eines erfah­renen Betrügers, und schließ­lich neben den Mut des Liebhaber und Moral­pre­diger die Feigheit und den Kleinmut des Verräters. Am stärksten hat Trier das Neben­ein­ander des Guten, Unschul­digen und des Dunklen und Trieb­haften in der Figur des Kindes Jasons vorge­führt, der sich als ausge­reifter Masochist entpuppt, und Grace dazu zwingt, ihm Schläge zu geben, ansonsten würde er erzählen, dass sie ihn geschlagen hätte. In der Figur des Jason, dem erst freund­li­chen Kind, und dem Offen­bar­werden seiner maso­chis­ti­schen Triebe, zeigt von Trier den Abgrund von Dogville auf, noch bevor Grace von Jasons Vater verge­wal­tigt, und noch bevor dessen Mutter, die sanfte Vera, Grace mit höchsten Sadismus gequält hat. Allein diese Neben­figur ist etwas völlig Neues, noch nie Gesehenes im Kino.

Mit der Zeit erweist sich der Umstand, dass da keine wirk­li­chen Häuser, keine wirk­li­chen Türen sind, als eine direkt folge­rich­tige Konse­quenz der durch die Hand­ka­mera gesehenen Groß­auf­nahmen, und der damit verbun­denen Absicht, ausschließ­lich nur dieses innere Geschehen abzu­filmen. Der eben von uns geschol­tene Sudmann hat in seinem Buch die richtige Beob­ach­tung gemacht, dass die Vielzahl von Groß­auf­nahmen auch in dem Film Das Fest zu einem »Schwinden der Bedeutung von Dekor und Requisite« führt. Aber auf magische Weise verläuft der Effekt auch in die umge­kehrte Richtung: Desto mehr wir den Menschen ihre Gefühle in ihrem verschat­teten Dasein glauben (die wir ja auch nicht sehen, sondern wir sehen nur den Gefühls­aus­druck auf ihrem Gesicht), desto mehr glauben wir ihnen auch die Türen, die wir nur hören und die Mauern, die wir nicht sehen. Da für die Menschen von Dogville all das existiert, beginnen diese Dinge auch für uns Realität anzu­nehmen. Diese innere Realität wächst aus den Figuren so stark heraus, dass sie sich auf die äußere Realität mit überträgt und sie über­strahlt (auch der Erzähler dient dazu, über­flüs­sige „erklä­rende“ Hand­lungen zu vermeiden, und die Aufmerk­sam­keit ganz auf das innere Geschehen zu lenken). Hier zeigt sich auch, wie richtig es ist, vom kind­li­chen Blick zu sprechen: wie Kinder nicht zuerst die Umgebung wahr­nehmen, sondern die Gesichter, und Dinge isoliert betrachten, so verharrt auch die Kamera auf den Gesich­tern, darauf erpicht, die leiseste sichtbare Gefühls­re­gung aufzu­nehmen. Dass der Verlust des Raums auch zum Verlust des Zeit­ge­fühls führt, ist eine der scheinbar tech­ni­schen, in Wahrheit aber meta­phy­si­schen Gründe, warum, wie einige Kritiker verwun­dernd bemerkten, der Film trotz seiner Länge von drei Stunden nicht eine Sekunde zu lang erscheint. Die Wahrheit ist: er wäre auch länger nicht zu lang erschienen.

Den eigent­li­chen Inhalt des Films, die eigent­liche und wahre Tragödie von Dogville, die wir durch das Medium des Films zu sehen bekommen (und wir ohne das die „filmische“ Groß­auf­nahme sonst nicht zu sehen bekämen) bekommen wir aller­dings erst in der Figur Grace zu Gesicht, die von Nicole Kidman in der bis dahin größten Rolle ihres Lebens gespielt wird. Das Drama, dem wir in Dogville ansichtig werden, ist ihr Drama. Ihr Erstaunen, der Schatten des Zweifels, die Wieder­erlan­gung der Hoffnung, und der Anflug von Zweifeln, bis hin zur völligen Resi­gna­tion ist das, was wir von ihrer Tragödie zu sehen bekommen.

Das am meisten Befremd­liche an Grace ist, wie schon bei den Frau­en­fi­guren in Lars von Triers vorhe­rigen Filmen, ihre über­mensch­liche Duld­sam­keit gegenüber ihren Peinigern, trotz Verge­wal­ti­gungen und Quäle­reien, was schon bei den vorhe­rigen Filmen zur Kritik an dem vorgeb­li­chen Frau­en­ver­s­tändnis von Lars von Triers einge­laden hat. Aber natürlich ist Grace nicht die Verkör­pe­rung einer jungen »Power-Frau«, wie etwa in der grie­chi­schen Tragödie oder eben auch in Taran­tinos „Die Braut“, die den Kampf gegen die bösen Mächte der Gesell­schaft zu bestehen hat, und schon damit zur wohl­feilen Iden­ti­fi­ka­tion einlädt. Wie schon der ironisch gebro­chene Märchen­hafte des Erzähl­tons verrät, ist Grace überhaupt nicht die Verkör­pe­rung einer erwach­senen, modernen Frau; in Wahrheit ist sie die poetische Verkör­pe­rung unserer eigenen kind­li­chen, von Krän­kungen erfüllten Seele.

Denn mindes­tens ja so befremd­lich wie Graces Duld­sam­keit gegenüber ihren Peinigern ist ja unsere eigene Duld­sam­keit gegenüber der von Grace. Wenn wir uns fragen, woher diese unsere Duld­sam­keit rührt, dann werden wir fest­stellen, dass die Lage, in die Grace geworfen ist, nicht die Lage einer jungen Frau ist, sondern vielmehr der Lage von Kindern entspricht. Jedes Kind wird in die Welt geworfen, und harrt in dem Glauben, dass die, denen es auf Gedeih und Verderben ausge­lie­fert ist, es gut mit ihnen meinen. Wenn Grace die Porzel­lan­fi­guren schön findet, die ihr vorhe­riger Sinn fürs Erwach­sen­sein abgelehnt hätte, dann ist das ihr Versuch, die Welt, der sie ausge­lie­fert ist, sich einzu­ver­leiben und schön zu finden.

Lars von Trier setzt uns also nicht nur ästhe­tisch und formal einem anthro­po­lo­gi­schen Eiland aus, wo wir die Welt wie-zum-ersten-Mal durch die Augen eines Kindes betrachten können, sondern er gibt uns auch die dazu­gehö­rige Welt: nicht idea­li­siert als ein riesiges, buntes Spiel­zimmer, in dem nichts eine Bedeutung hat und daher auch gar nichts passieren kann, so wie es sich der infantile Erwach­se­nen­ver­stand zusam­men­träumt, sondern eine Welt voller Ambi­va­lenzen, einen Ort unter­grün­diger Strö­mungen, voll von Verlet­zungen und Krän­kungen. Er erinnert uns daran, dass wir unsere Kindheit nicht nur im Kino, sondern auch noch in der wirk­li­chen Welt verbracht haben.

In Grace sehen wir nun die ganze Tragödie, und was wir in ihr und durch sie erleben, ist nicht die Tragödie der Verlet­zungen und Krän­kungen, diese sind nur drama­tur­gi­sche Mittel zum Zweck. Die Tragödie, die wir in Dogville durch sie zu sehen bekommen, ist vielmehr die Zers­törung eines Glaubens, nämlich des kind­li­chen Glaubens des Aufge­ho­ben­seins und des Guten der Menschen, von denen wir abhängig sind. In ihrem Mienen­spiel erleben wir den Kampf um den Erhalt dieses inneren Glaubens: Wenn sie voller Bewun­de­rung die Porzel­lan­fi­guren strei­chelt (zu deren Zers­törung sie später von Vera gezwungen wird); wenn Schatten ersten Zweifels sie befallen, wenn der Apfel­bauer seine ersten körper­li­chen Begehr­lich­keiten an sie richtet, und diese Schatten wiederum von einer tiefen Ruhe verdrängt werden, wenn Tom sie zu beruhigen versteht – es ist immer das plötz­liche Verschwinden von Hoffnung und dunklem Entsetzen, wenn die Schraube der Versuchs­an­ord­nung weiter gedreht wird, und eine neue, weitere Stufe des Bösen sichtbar geworden ist. Ihr immer wieder Zurück­wollen in den Glauben an das Gute in ihren Peinigern – das ist die verzwei­felte Duldung von Kindern, ihr Klammern an der Hoffnung, dass dieje­nigen, die Böses tun, nicht wirklich böse sind. Der Kampf um dieses Glauben, und die allmäh­liche Zers­törung dieses Glaubens ist der eigent­liche Inhalt des Films Dogville, es ist das, was wir von der Geschichte zu sehen bekommen, und den wir ohne genuinen Mitteln des Films – der Groß­auf­nahme – nicht zu sehen bekommen würden.

Wenn wir Grace sehen, wie sie erst von den Bewohner von Dogville als Geschenk ange­nommen wird, wie sie alsdann aber lernen muss, dass deren Zuwendung nicht umsonst zu haben ist, und wenn sie dann wieder Hoffnung zu schöpfen beginnt, erleben wir die rührende Momente des Kampfes um ihren Glauben.

Den Werdegang ins Unver­meid­liche haben wir in Breaking the Waves und Dancer in the Dark gesehen. Die Kinder­seelen mit ihrem Kinder­glauben an das Gute im Menschen müssen sterben, damit wir erwachsen werden können, und wofür wir die gekränkten Kinder­seelen den verfüh­re­ri­schen Mächten der Verdrän­gung auslie­fern müssen. Der Umschwung im dritten Akt, als der Gangster sich als Vater von Grace heraus­stellt (er ist weniger der biolo­gi­sche Vater, als vielmehr der Gott der Tragödie, die diabo­li­sche Verkör­pe­rung der poeti­schen Gerech­tig­keit), und die Macht­ver­hält­nisse sich plötzlich ins Gegenteil verkehren, ist daher nicht so sehr die Rettung, sondern vielmehr ein weiterer, letzter Anschlag auf ihren Glauben. Grace kann sich rächen, aber dafür muss sie ihren Glauben opfern. Der moral­theo­lo­gi­sche Disput des Gangster-Vaters, (nicht weniger genial von James Caan verkör­pert) zwingt Grace, sich entweder für das eine, oder für das andere zu entscheiden.

An dieser Stelle erhebt sich nun das größte Tabu, das jedem Rache­gelüst entge­gen­steht, und das unseres Wissens nach noch kein vorhe­riger Rachefilm in seinem Kosmos aufge­nommen hat. Jeder Rachefilm basiert auf einem moralisch gerechten und eindeu­tigen Empfinden, dass die, an denen sich gerächt wird, die Rache auch verdient haben. Auch Kill Bill hat, wie wir jetzt im Kino sehen konnten, trotz der sympa­thi­schen Zügen des bösen Bill, diese beru­hi­gende Gewiss­heit. Aber im richtigen Leben, wie Grace in Dogville, sind wir mit der Tatsache konfron­tiert, dass zwar Menschen Böses tun, aber nicht das Böse meinen. Jedes Kind ist auf dem langen Weg ins Erwach­se­nen­werden gezwungen, seinen Wohl­tä­tern, die immer zugleich auch seine Peiniger sind, verzeihen zu müssen, weil sie es letztlich nicht so gemeint haben (um dann die Rache­gelüsten im Hollywood-Kino auszu­leben, wo die, die Böses tun, auch dankens­wer­ter­weise in der Fratze böser Teufel herum­laufen).

Das Un-Bewusst­sein ihrer bösen Taten trifft auch auf die Menschen von Dogville zu. Das Böse geschieht sozusagen hinter ihren Rücken, und wenn es heraus und da ist, über­steigt es ihren mora­li­schen Horizont. Am deut­lichsten und am stärksten tritt das Böse – das Böses tut, aber nicht Böses meint – in der Szene zutage, als Grace versucht zu fliehen und der vermeint­liche Flucht­helfer Ben als weitere Bezahlung für seine Dienste sich im Planwagen über sie wälzt. Wenn er ihr zuflüs­tert: »Bitte Grace, es ist nicht persön­lich«, dann ist das voll­kommen ernst gemeint. Es ist das Bild, das sich am stärksten in die Seele brennen wird: Die Kamera hat das Leintuch der Lade­fläche trans­pa­rent gemacht, aber es bleibt als Hinter­grund des Bildes erhalten, und Grace liegt zwischen den Apfel­kisten und herum­rol­lenden Äpfeln, und erscheint darin in der Schönheit eines Renais­sance-Gemälde, als Ben sich anschickt, sich auf sie schiebt, ob seine Bezahlung abzuholen, und Grace die Augen schließt, und das Bild ausge­blendet wird. Es war wohl selten ein Bild im Kino zu sehen, in dem die empfun­dene Schönheit der Seele und der Schrecken der Welt sich so zusam­men­ge­funden haben, wie in diesem Bild, es ist: Ambi­va­lenz!

Der betrüb­liche Umstand, dass die Menschen nicht wirklich böse sind, sondern nur unfähig zum Guten (was im übrigen einer realis­tisch psycho­lo­gi­schen wie augus­ti­ni­schen Vorstel­lung über das Böse in der Welt entspricht), dass zwar die Menschen Böses tun, aber dennoch meinen, zugleich noch die märchen­haft guten Bewohner von Dogville zu sein, die sie wohl auch noch tatsäch­lich sind, ist der größte denkbare Wider­stand gegen jedem Rache­gelüst. Der Film Dogville über­schreitet dieses Tabu, das hebt ihn aus der Reihe der Rache­filme heraus, weil er, nicht trotz, sondern im Rahmen seiner ästhe­ti­schen Abge­schlos­sen­heit, damit auch die Grenze hin zum wirk­li­chen Leben über­schreitet.

Entschei­dend für die Glaub­haf­tig­keit und die Voll­endung des Films ist, dass Lars von Trier die Rache hier nicht verschenkt, oder in irgend­einer Weise durch eine mora­li­sche Recht­fer­ti­gung verbrämt. Graces erste Begrün­dung, nachdem sie sich zur Rache entschlossen hat, lautet: Dogville müsse von der Erde verschwinden, damit die Welt besser würde. Das ist eine Begrün­dung, die noch ganz im Geist ihres Idea­lismus gehalten ist, ein Versuch, ihre Tat moralisch zu legi­ti­mieren, wodurch, wenn es dabei geblieben wäre, der Racheakt zu einem idea­lis­tisch verbrämten Gemetzel a´ la Pol Pot verkommen wäre. Aber Grace vollzieht den notwen­digen Schritt, den Akt der Dorf­aus­lö­schung von einer idea­lis­ti­schen Großtat zu einem rein persön­li­chen Akt, wodurch dieser ja erst zur Rache wird: Bevor die Gangster zur Ausübung der Tat schreiten, Dogville und seine Bewohner auszu­lö­schen, hält Grace den Ober-Gangster mit der Anweisung zurück, die Kinder Veras vor ihren eigenen Augen zu erschießen und erst damit aufzu­hören, wenn die Mutter der Kinder ihre Tränen zurück­halten kann, was sie wohl nicht könne, sagt Grace, und lässt sich in das Leder des Wagens fallen, weil sie weint so leicht. In dem Moment, wo die Rache wirklich zur Rache wird und sich vom ideellen Akt zur bitteren, persön­li­chen Revanche steigert (Vera hatte zuvor Grace gezwungen, ihre lieb­ge­wor­denen sieben Porzel­lan­fi­guren zu zerstören, womit sie erst hätte aufhören dürfen, wenn Grace aufgehört hätte, zu weinen) kommt der Film zu sich selbst, und geht ein Ruck durch das Publikum. Im Unter­schied zu Kill Bill spüren wir, dass wir eine Mauer durch­stoßen, und eine Terrain (wieder-) betreten haben, das wir zumindest eine lange Zeit nicht einmal in uns gespürt haben.

Und Lars von Trier setzt noch einen letzten Wider­stand ein: Als alle Menschen, alle Kinder erschossen sind (wir haben ein Maschi­nen­ge­wehr­feuer auf ein Baby losgehen gesehen, auch das ein Bild, das so noch nicht auf der Leinwand zu sehen war) und alle Häuser nieder­ge­brannt sind, sieht Grace durch die Rauch­schwaden Tom als einzig Über­le­benden. Ohne eine Sekunde des Zögerns greift sich Grace, die mit fließenden Tränen in den Augen das Gemetzel aus dem Fond ihres Wagens zugesehen hat, eine Pistole, und steigt aus der Limousine aus. Tom, wie immer nicht um einen Spruch verlegen, sagt: »Gratu­liere Grace, Deine Illus­tra­tionen sind besser als meine!«, und Grace sagt nur »Good-bye, Tom!« drückt Tom die Pistole an den Kopf, wendet das Gesicht immer noch mit Tränen ab, und schießt ihn nieder. Sie steigt ins Auto, und sagt sinngemäß: »Es gibt Dinge, die man selbst tun muss«.

Im Racheakt trium­phiert der kindliche Wille nach Vergel­tung und das Beharren auf eine Welt, die besser zu sein habe. Die sonore Erzähl­stimme entlässt uns mit den Worten aus dem Film: »Es war, als hätten Schmerz und Kränkung wieder ihren ange­stammten Platz einge­nommen.« Gerade weil die Menschen von Dogville nicht wirklich böse sind, müssen wir uns an ihnen rächen, um das Bewus­stein unsers eigenen Schmerzes wieder zurück in unser Leben zu holen, und das ist der tiefere Grund, warum wir unsere Rache­ge­fühle von dem Film haben wieder erspüren lassen. Der Preis für den Racheakt von Grace ist aller­dings die Zers­törung ihres Glaubens an das Gute im Menschen, und deswegen wird die Tragödie weiter gehen und zwei weitere Teile folgen.

Der Film ist ein Anschlag auf unser gewöhn­li­ches mora­li­sches Empfinden von Gut und Böse, wie es ihn viel­leicht seit Kubricks Verfil­mung von Anthony Burgess´ Roman „A Clockwork Orange“ nicht mehr im Kino zu erleben gab. Nicht nur, dass alles, was Tarantino uns voll­mundig verspro­chen hat – nie gesehene Bilder, unglaub­liche Gewalt, eine Sogwir­kung, der man sich nicht entziehen könnte etc.p.p. – von Dogville scheinbar mühelos und mit zaube­ri­scher Selbst­ver­s­tänd­lich­keit erfüllt wird, sondern ihm gelingt noch, was jedem normalen Rachefilm zur Ehre gereichen würde: aus einem intel­lek­tu­ellen, cine­as­ti­schen meist sittsamen Publikum, das mehr­heit­lich wohl aus Anhängern von Amnesty Inter­na­tional und Gegnern der Todes­strafe besteht, grimmige Bejaher der Auslö­schung eines ganzen Dorfes und ihrer Bewohner werden zu lassen, die wir überdies in fast drei Stunden in intimer Nähe haben kennen gelernt.

Nochmal: Kein Zweifel, welches der bessere Rachefilm ist.