28.10.2004
Dogville Kills Bill

I. Nach dem Kino

Szenenbild KILL BILL
Auf zum Duell
(Foto: Buena Vista)

Dogville Kills Bill – Frank Müllers' umfang­reiche Ausein­an­der­set­zung mit Kill Bill und Dogville

Zwei Ansichten Amerikas, zwei rächende Frauen im Zentrum, zwei eigen­wil­lige Regie­leis­tungen, in sich grund­ver­schieden.

Einsichten über das Kino und den gegenwärtigen Zustand des Mediums

Von Frank Müllers

Warum, so fragte ich mich, als ich den ersten Teil von Kill Bill und Lars von Triers ersten Teil der Amerika-Trilogie gesehen hatte, und beide Filme in mir zu rumoren und zu streiten begannen, sollte ich beide Filme nicht den inneren Wettkampf auch öffent­lich austragen lassen, wobei es dann auch nichts ausmacht, den Ausgang im Titel schon zu verraten. Denn wie im Leben, so ist auch in der Kunst der Weg das Ziel, und was wir erhoffen, ist nicht die Bestä­ti­gung dessen, was unser Geschmacks­sinn, oder unser Instinkt uns verrät, sondern Einsichten über das Kino, und den gegen­wär­tigen Zustand des Mediums.

Aber hier, schon bevor es überhaupt richtig losgehen kann, stößt man schon höchst unan­ge­nehm an ein starkes Hindernis, nämlich dem Umstand, dass über Filme sich heute eigent­lich nicht mehr gestritten wird, dass es für einen solch öffent­li­chen Wett­streit eigent­lich keine Arena mehr gibt, keine zeit­ge­mäße jeden­falls. Vermut­lich aber ist dies schon die erste, wertvolle Einsicht auf unserem Wettlauf, die wir über den gegen­wär­tigen Zustand des Mediums gewinnen können: Wir sehen viele Filme, wir sprechen viel über Filme, und wir schreiben und lesen viel über Filme, aber das Medium des Films ist dabei in eine seltsame Verges­sen­heit geraten. Die Filme lagern in uns, einsor­tiert wie in den Rubri­ken­käst­chen unserer Stadt­ma­ga­zine, mit dem jewei­ligen Ranking der Stadt­ma­ga­zine, nivel­liert (na klar, alles Filme) zugleich aber auch isoliert, so als hätten sie sich, und sie uns nichts mehr weiteres zu sagen. Die Filme sind uns intus, und was uns intus ist, ist gefeit gegen jede äußere Anfech­tung. Das ist wohl der Grund, warum uns Debatten über den Sinn­ge­halt des Films, der verschie­denen ästhe­ti­schen Rich­tungen und der Zukunft des Mediums so irgendwie unan­sehn­lich geworden ist: diese erinnern an verwa­ckelte Schwarz-Weiß-Bilder, voll­ge­qualmten Räumen, und uns, zumindest ideell Nicht­rau­cher, erschien eine solche Debatte als so über­flüssig und veraltet, wie wenn man sich im Zeitalter der Digi­tal­technik noch über die Kolben­stoß­fre­quenz der Dampf­ma­schine die Köpfe heiß reden würde. Fast scheint es, als ob jeder über ein unter­ir­di­sches Wissen verfügte, wie ein guter Film auszu­sehen hätte, und dieses vermeint­liche Wissen verhin­dert jede offene Wahr­neh­mung, und unter­bindet jeden offenen Dialog.

Was ist der Grund? Natürlich wissen wir immer, dass wir ein Bild sehen. Aber das Entschei­dende ist: wir spüren es nicht mehr. Die konven­tio­na­li­sierten Bilder gleiten durch den Bewusst­seins­kanal, den eine vorherige Flut an anderen Filmen mit ähnlich konfek­tio­nierten Bildern in uns frei­ge­graben hat, als eine vertraute Wahr­neh­mung an uns vorüber, dass es uns als Wahr­neh­mung schon gar nicht mehr bewusst wird. Das Bild stößt nichts mehr an, es versetzt uns nicht mehr an einem anderen Punkt.

Die Folge ist: Wir sehen zwar den Film, aber wir sehen den Film nicht mehr. Entspre­chend reden wir, wenn wir über Filme reden, bloß über den erzählten Inhalt der Filme: Was da an Tragödien passiert, warum eine Gestalt so und nicht anders gehandelt hat u.s.w. Wir wissen die Filme, und die Filme wissen uns, und so wird, wie in jeder anderen vernünf­tigen Ehe auch, der Dialog mehr und mehr durch das lieb­ge­wor­dene Ritual des Ins-Kino­ge­hens, des über des Film-Erzählens ersetzt. Wenn mal über die Zukunft des Kinos nach­ge­dacht wird (um sich ihm als Medium auf diesem Weg wieder bewusst zu werden), dann geht es um seine tech­ni­schen Möglich­keiten, und zwar in einer derart schwär­me­ri­schen Weise, als würde der erwart­bare Reichtum tech­ni­scher Möglich­keiten zugleich auch auto­ma­tisch einen Reichtum ästhe­ti­scher Möglich­keiten nach sich ziehen – als wären Technik und Ästhetik eins.

1999 gab der damalige Kritiker der »Berliner Zeitung« unter der Über­schrift »Vom höheren Zugang zum Niederen« folgende Sätze zu Papier: »Der Zuschauer ist dem Film nicht länger untertan. Er wehrt sich gegen wahllose Unter­hal­tung ebenso wie gegen wahllose Unter­rich­tung (...) Der selbst­be­stimmte Kopf dient zual­ler­erst dem Selbst und dieses Selbst möchte sich viel­leicht von Zeit zu Zeit ganz herkömm­lich über­wäl­tigen lassen. Das bedeutet keines­falls den Rückfall in die Vorzeit. Der selbst­be­stimmte Zuschauer weiß die Über­wäl­ti­gung zu dosieren. Er lässt sich problemlos Tränchen oder atem­be­rau­bende Augen­blicke abhandeln, anschließend macht er coole Miene dazu, und könnte die filmische Verfüh­rungs­stra­tegie genau erläutern, der zu folgen er ein Stück weit bereit war.«

Was gegen diese Vorstel­lung des »selbst­be­stimmten« Konsu­menten rebel­liert, ist der allen Theorien, Ästhe­tiken, Kunstrich­tungen, Ansichten tief verwur­zelte Glaube an das Potential der Kunst, eine Erfahrung zu ermög­li­chen, die sich auf das Leben, oder nur das Lebens­ge­fühl verän­dernd auswirkt. Die hier unter­brei­tete Vorstel­lung eines dosier­baren Erleb­nisses wider­spricht nicht nur der Kunst, sondern auch jeder vitalen Vorstel­lung vom Leben. Mal auf den Bereich der Liebe über­tragen, die mit der Kunst ja das Potential eint, die Parameter unserer inneren Einstel­lung ein wenig verschieben zu können, entspräche das Verhältnis des selbst­be­stimmten Kino­zu­schauers zum Kino etwa dem Verhältnis des Typus des narziss­ti­schen Bordell­be­su­chers zur Liebe, der ja auch die Zeit der Über­wäl­ti­gung zu dosieren weiß, und anschließend als Fachmann der Materie die Verfüh­rungs­stra­te­gien zu erläutern wüsste, die er sich eine Zeitlang hat ange­deihen lassen. Dessen Ansichten zur Liebe sind daher so wenig zu trauen, wie der theo­re­ti­schen Kenner­schaft manches Cineasten, der mit seinem Ruf »Alles Ketchup« dem Geheimnis des Kino­er­leb­nisses auf die Schliche gekommen zu sein meint, aber über die Natur der Erfahrung voll­kommen ahnungslos ist (in der Liebe ist nur der Liebende der Sehende, und alle anderen notwendig blind).

So sind wir nun auch im Kino Pauschal­tou­risten geworden: die zwar hungrig nach immer neuen Bildern sind, und immer häufiger ins Kino gehen, aber nicht, um etwas Neues, sondern um das Vertraute zu erblicken, die Muster unserer Konven­tion bestätigt zu bekommen. Was wir mit diesem Bild des Kino­kon­su­menten konsta­tieren müssen, ist die bestehende Absage an die Kunst­mög­lich­keit des Films. Am deut­lichsten zeigt sich diese Distanz wieder an dem Film selbst, nämlich der Tatsache, dass Kunst im Film zu einem eigenen Genre mutiert ist – dem Kunstfilm. Beim näherem Hinsehen zeigt sich aber das Kunstkino nicht als eine Alter­na­tive zu Hollywood-Kino, sondern vielmehr als dessen miss­ra­tendes Stiefkind. Wie das Hollywood-Kino setzt auch das Kunst-Kino nicht auf den Film, sondern auf den Inhalt. Indem aber das Kunstkino macht, was das Hollywood-Kino auch macht, nämlich das Thema, oder die Story als den eigent­li­chen Inhalt zu setzen, zugleich aber das Hollywood-Kino in dessen Rudi­men­ta­ri­sie­rung der Film­sprache und in Abgren­zung zu diesem zu über­treffen versucht, desavou­iert es das Filmische, und unsere Lust, die Welt neu sehen zu können, noch mehr als es das Hollywood-Kino schon unter­nimmt. Es ist ein Kino, das uns in unserem Hunger auf eine visuelle Erfahrung auf Diät setzt. An diesem Merkmal des Verzichts auf eine visuelle Erfahrung lässt sich diese Art von Kunst­filmen von wirk­li­chen künst­le­ri­schen Filmen unter­scheiden. Die meisten dieser Filme leben – wenn sie überhaupt dies tun – von etwas anderem, von inter­es­santen Schau­spie­lern, einem gewissen Charme der Naivität, ein für ein inter­es­sant gehal­tenes Thema (persön­li­ches Schicksal, soziale und poli­ti­sche Themen), aber sie leben nicht aus sich selbst, aus ihrem Medium heraus. Deshalb können uns diese Filme viel­leicht unter­halten, und durchaus können diese Filme einen eigenen Reiz haben, aber diese Filme werden nicht unsere Wahr­neh­mung auf die Welt beein­flussen können, und deshalb haben sie ihren Anspruch, Kunst sein zu wollen, im Grunde schon verfehlt; die Devise dieses durch­schnitt­li­chen Kunst­kinos lautet: desto weniger Kino, desto mehr Kunst.

Da ich mich aber hier von den voran­ge­gangen Über­le­gungen des Forma­listen Sklovskij stark habe leiten lassen, möchte ich den vorge­tra­genen Sach­ver­halt noch mal in seinen Worten verdeut­li­chen. Sklovskij schreibt in seiner berühmt gewor­denen Defi­ni­tion von Kunst: Um für uns die Wahr­neh­mung des Lebens wieder­her­zu­stellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Ziel der Kunst ist es, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur ein Wieder­erkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Verfahren: Verfrem­dung der Dinge und Kompli­zie­rung der Form, um die Wahr­neh­mung zu erschweren und ihre Dauer zu verlän­gern. Denn in der Kunst ist der Wahr­neh­mungs­prozeß ein Ziel in sich und muß verlän­gert werden. Die Kunst ist ein Mittel, das Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist für die Kunst unwichtig.

Desto mehr Kino, desto mehr Kunst! So müsste die Devise des künst­le­ri­schen Films lauten: Ein »ästhe­ti­sches Medium« zeigt und bewahr­heit seine Exis­tenz­be­rech­ti­gung, insofern es zur Vermitt­lung einer solcher Erfahrung sich befähigt zeigt.

Betrachten wir diesen wünschens­werten Soll-Zustand, nämlich eines Kinos, das zu solchen Erfah­rungen in der Lage ist, und dem heutigen Ist-Zustand, in dem wir nur noch die Wahl haben zwischen einem Kino, das uns nicht richtig nährt, und eines Kunst­kinos, das uns nur auf Diät setzt, stellt sich die Frage – wenn wir nach der Zukunft des Kinos fragen – nicht nach seiner tech­ni­schen, sondern nach seinen ästhe­ti­schen Zukunft. Dieses Kino müsste eine Antwort auf unsere Satu­riert­heit finden, es müsste uns an einem Punkt führen, von dem aus wieder eine Erfahrung möglich wird.