22.05.2025
78. Filmfestspiele Cannes 2025

Herbst der Matriarchinnen

Die My Love
Ein gründlich misslungener Film: Lynne Ramsays Die My Love
(Foto: Black Label Media / Cannes Press Service)

Cannes wartet immer noch auf sein Meisterwerk: Weder Julia Ducournau noch Lynne Ramsay erfüllen die Erwartungen – Cannes-Tagebuch, 03. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Film is a disease. When it infects your blood­stream, it takes over as the number one hormone; it bosses the enzymes; directs the pineal gland; plays Iago to your psyche. As with heroin, the antidote to film is more film.« – Frank Capra

Cannes wartet immer noch auf sein dies­jäh­riges Meis­ter­werk. Auch der neue Film von Titane-Regis­seurin Julia Ducournau ist trotz manch' erkenn­barer Stärken eine Enttäu­schung mehr. Man darf sich da nicht blenden lassen von einzelnen Markt­schreiern!

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Eines der ende­mi­schen Übel des Gegen­warts­kinos im letzten Jahrzehnt ist der Exzess. Es gibt eine neue Ästhetik des Exzesses, die fern der der einstigen B-Movies und Midnight­mo­vies liegt, denen es darum ging, mit grellen Effekten das »épater le bourgeois« der alten Avant­garde zu wieder­holen. Dazu benutzte man die Stereo­typen des Horror­films und des Pornos, man entwi­ckelte den Splat­ter­film, man drehte die Schraube des Tabu­bruchs immer weiter. Auch das war ein Exzess, aber er war gewis­ser­maßen ziel­ge­richtet und er hatte seine Gründe. Es war keine bloße Geste, um die eigene Radi­ka­lität narziss­tisch zu bestä­tigen.

Genauso kommt einem jene neue Exzes­si­vität vor, die von Opulenz und Manie­rismen in der Ausstat­tung begleitet wird, wenn das Budget aufge­bläht genug ist, von Exzessen des – wahlweise – Schnitt­ge­wit­ters der Block­buster oder der betonten Lang­sam­keit des Still­stands­kinos. Beides wird vom Wunsch und Bedürfnis bestimmt, sich von der Ästhetik der Fern­seh­se­rien zu distan­zieren, und vom Wunsch, das Nost­al­gie­be­dürfnis des Publikums zu enttäu­schen und mit jenem klas­si­schen Erzähl­kino zu brechen, das heute gern als altmo­disch, reak­ti­onär und jeden­falls überholt markiert wird.

Beispiele für die von mir gemeinte Exzes­si­vität sind Winkel­züge der Handlung von Babylon von Damien Chazelle ebenso, wie die betonte – und darum unechte – Gran­dio­sität von The Brutalist von Brady Corbet, der psycho­tisch – aber dem Publikum zum Vers­tändnis nahe­ge­legte – Trip von Beau Is Afraid, dem Film von Ari Aster, den er nach dem denk­wür­digen Midsommar (2019) gedreht hatte.
Sein neuestes Werk, Eddington, gestern hier bespro­chen, ist ein Film, der vom Chaos der Verei­nigten Staaten erzählt – und dabei aber dieses Chaos zur stilis­ti­schen Ausdrucks­form erhebt. Zugleich steht der Film exem­pla­risch für das Chaos, das einen Teil des ameri­ka­ni­schen Kinos heimsucht, das seit der Post­mo­derne nicht aus der ästhe­ti­schen Krise heraus­fand und keinen klaren Kurs mehr findet. Der Grund­e­in­druck von Unordnung und Ungleich­ge­wicht ist dessen größter Mangel – aber womöglich auch seine große Stärke.
Die Desori­en­tie­rung in Edding­tion ist nicht größer und wahn­wit­ziger als in der aktuellen ameri­ka­ni­schen Politik.

Aber auch das europäi­sche Kunst- und Autoren­kino flieht zur Zeit gerne in den unmo­ti­vierten Exzess, in manie­rierte, auf Ausstat­tung und Effekt­ha­scherei konzen­trierte Filme. Man könnte hier Poor Things und überhaupt das Kino von Yorgos Lanthimos ebenso nennen, wie zumindest ansatz­weise den letzten Film von Ruben Östlund. Oder wie eben Titane von Julia Ducournau.

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Der Frühling war kurz, der Herbst wird lang: Regis­seu­rinnen wie Lynne Ramsey und seit einigen Jahren auch Julia Ducournau haben viele Fans. Aber Fanhal­tung ist, wenn auch nie ganz zu vermeiden, falsch für Festivals wie für Film­kritik. Zu befürchten ist in beiden Fällen, dass die Lobprei­sung ins Gegenteil umschlägt.
Ich habe jeden­falls viele Leute getroffen, die nach den Premieren gerade über diese beiden Filme richtig wütend waren und unge­halten auf sie reagierten – und das waren nicht nur ältere Männer.

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Zunächst einmal ist fest­zu­stellen: Alpha ist keines­wegs ein schlechter Film. Es ist dies einer jener Fälle, so habe ich es dem Kollegen von critic.de auch geschrieben, wo ich in deren Kriti­ker­spiegel eine Wertungs­mög­lich­keit stark vermisse: Es gibt nämlich Filme, die sind gleich­zeitig stark, bzw. »sehr gut« und »zwie­spältig«; man müsste in diesem Fall »++-« geben können. Das ist eine Wertung, die ich sogar über sehr viele Filme treffen könnte: Dass sie sehens­wert sind, dass sie viele gute Seiten haben und dass trotzdem etwas in ihnen grund­sätz­lich miss­glückt ist. Genau so ist Alpha korrekt beschrieben.

Dies ist in vielem von großer Souver­ä­nität insze­niert. Montiert ist der Film aller­dings so, dass das Ergebnis ziemlich konfus ist; und das liegt auch an einem Drehbuch, das offen­sicht­lich nicht ausge­reift war, das gleich­zeitig zu viel will und zu wenig und das viel zu viele Themen mitein­ander vermengt.

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Der Film ist inter­es­sant und hat Stärken, aber er ist nicht gelungen, egal welche Kriterien man anlegt.

Es beginnt mit Bildern von Feuer und Hitze. Die Titel sind als Risse auf getrock­neter Sand-Kruste zu lesen, Wüste, trockene Erde.

Dann ein Mann, der sich Heroin spritzt, ein Kind, ein etwa 5-jähriges Mädchen mit Brille, das neben ihm liegt und einen Mari­en­käfer geschenkt bekommt.
Dann Musik von Portis­head: »Roads«. Wir befinden uns irgend­wann in den 80er, 90er Jahren. Eine Jugend­party, ein etwa 14-jähriges Mädchen mit Brille – wir ahnen, dass sie die gleiche der vorhe­rigen Szene ist, nun älter – bekommt ein Tattoo gestochen: Ein großes A auf die linke Schulter. Es wird sich als verschmutzte Nadel heraus­stellen, denn das Tattoo entzündet sich, und bald ist von einem Virus – »dem« Virus – die Rede, der Alpha womöglich infiziert hat.

Für diesen Virus findet der Film ziemlich coole Bilder: Die Menschen verstei­nern, verwan­deln sich in sehr schöne, aber tote Marmor­büsten. Das zeigt, dass diese Welt des Films nicht ganz von unserer ist, dass sie Sozi­al­rea­lismus und Phantasie auf unge­wöhn­liche, faszi­nie­rende, aber auch schwer vers­tänd­liche, konfuse (?) Weise mischt.

Im Unter­richt bekommt Alpha Gedicht-Lektionen: Edgar Allan Poe: »In a night, or in a day, In a vision, or in none, Is it therefore the less gone? All that we see or seem. Is but a dream within a dream.«
A dream within a dream – viel­leicht legt der Film hier ja auch schon sehr früh eine bestimmte Art von Inter­pre­ta­tion nahe. Will auch das, was wir auf der Leinwand sehen, als ein Traum in einem Traum verstanden werden?

Zugleich Ekeläs­thetik, man kann das »Body Horror« nennen, einmal ein kurzer Ausschnitt aus einem »Münch­hausen«-Film, den ich nicht absolut sicher erkennen konnte, ob es der von den Nazis war oder der von Terry Gilliam.

So kullern die Verweise sehr gelehrt, aber arg planlos durch den Film, und geben ihm auch nach längerem Nach­denken keinen zusätz­li­chen, gar tieferen Sinn.

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Was bleibt, ist die auf zwei Zeit­ebenen erzählte Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter, die einander lieben, es ist aber doch ein konflikt­be­haf­tetes Verhältnis. Und dazu dann der Bruder der Mutter, das schwarze Schaf einer arabi­schen Familie, die sonst fast nur aus Frauen besteht. Aber gleich­zeitig die größte Liebe der Mutter – neben der Tochter.
Vom Vater hören wir übrigens nie etwas. Der Bruder wird eher zum Teil zu einer Art von Ersatz­vater. Dann ist da aber die Drogen­sucht des Bruders: Dies ist aller­dings der schwächste Teil des Films: Sie ermüdet, man hat dies alles, dunkle Seiten und Bar und Drogen­ab­hän­gig­keits-Filme schon so oft und zu oft gesehen.

Wichtiger ist der Insze­nie­rungs­stil: Souverän, einfalls­reich, massiver Musik­ein­satz,

Das führt zu tollen Szenen: Eine arabische Groß­fa­milie plappert und isst durch­ein­ander, und dazu gibt es das Beethoven-Klavier­kon­zert No.17, D Moll.
Oder ein Schwimmbad, in dem sich eine große Blutlache ausbreitet. Die Marmor gewor­denen Toten. Versehrte Körper von seltsamer Schönheit.

Große Bilder, voller Pathos und tiefer Humanität, eine doppelte Passi­ons­ge­schichte,

Aber wie ehrlich gesagt schon in Titane ist hier das Ganze weniger als die Summe seiner Teile.

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Alpha ist ein guter, viel­leicht sogar sehr guter Film. Zugleich konfus. In seiner Wert­hal­tung ein konser­va­tiver Film. Aber er ist in keiner Weise außer­ge­wöhn­lich, sondern bedrü­ckend konven­tio­nell. Vor allem in seinem Fest­halten an der Kern­fa­milie – die in Titane auch irgendwie gesucht, aber gleich­zeitig zumindest auch zerstört wurde.
Ein sehr guter Film, aber er ist zugleich eine Enttäu­schung, denn er erfüllt nicht die Erwar­tungen, die man mit Titane verbinden durfte, und er ist in keiner Weise das »Meis­ter­werk«, auf das man in Cannes mit gutem Recht wartet.

So schlecht, wie ihn die Franzosen jetzt machen, ist der Film aber am Ende auch wieder nicht. Ich glaube aller­dings, dass man der Regis­seurin, die ohne Frage ungemein begabt ist und sehr virtuos mit den filmi­schen Mitteln umgeht, dass man dieser Regis­seurin keinen Gefallen tut, wenn man sie in diesen Wett­be­werb hinein­wirft – ob das aller­dings in der Verant­wor­tung des Festivals liegt, oder ob es nicht viel mehr vom Welt­ver­trieb oder von den Produ­zenten oder gar der Regis­seurin selbst entschieden wurde, das wissen wir alle nicht.

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Ich habe noch nie verstanden, was an Lynne Ramsay so toll sein soll, aber viele andere Leute, die ich mag und die etwas vom Kino verstehen, die mögen sie sehr.

Die Kamera ihres neuen Films ist großartig, genauso wie der Musik­ein­satz. Aber umso mehr denkt man: Schade, da haben wir so tolle Schau­spieler und dann haben wir eine Regis­seurin, die es total versem­melt.

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Die argen­ti­ni­sche Schrift­stel­lerin Ariana Harwicz veröf­fent­lichte 2012 einen Roman mit dem Titel »Mátame amor«, in dem es darum geht, was passiert, wenn Mutter­schaft zum Gefängnis für eine Frau wird, und ihre Liebe tötet, und der einzige Zufluchtsort dieser Frau sie selbst ist. Ihre Entfrem­dung dient als Ausgangs­punkt für Flucht­fan­ta­sien, die eine Identität jenseits des ehelichen Lebens einfor­dern.
Die schot­ti­sche Filme­ma­cherin Lynne Ramsay nimmt diesen intimen Roman zum Ausgangs­punkt, um einen Ich-Film über das Trauma einer Frau zu drehen, die sich selbst allein im Wald richtig fühlt und ihre Vorstel­lungs­kraft in turbu­lente Gefilde abdriften lässt. Ramsay stützt ihren gesamten Film auf die Darbie­tung von Jennifer Lawrence, die dabei leider leider an ihren voll­kommen miss­glückten Auftritt in Mother! von Darren Aronofsky (2017) anknüpft.
Die Regis­seurin gibt ihrer Prot­ago­nistin freien Lauf für alle nur denkbaren selbst­zer­stö­re­ri­schen Ausbrüche. In ihrer eklek­ti­schen Insze­nie­rung wird Sex zur gewalt­tä­tigen Ausein­an­der­set­zung, die Natur zum bren­nenden Wald, die Ehe zur Hölle und das Zeit­ge­fühl zu einer Schleife, die Vergan­gen­heit und Gegenwart in dem gleichen Chaos vermischt, das angeblich im Kopf der Frau herrscht – einer Frau, der Jennifer Lawrence durch ihr körper­li­ches Spiel Glaub­wür­dig­keit verleiht.
Ramsay will vom Wunsch nach Selbst­zer­störung und dem radikalen Bruch mit den vergif­teten Über­resten einer Ehe und des Lebens an der Seite ihres Mannes Jackson (Robert Pattinson in einem sehr guten Auftritt) zu erzählen.

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Ramsays Werk ist von Effekt­ha­scherei bestimmt: Es setzt auf dauernde Irre­füh­rungen des Zuschauers, sinnlose Schocks, Verschie­bungen vom Realen ins Traum­hafte und unsichere Zeitsprünge. Das Ender­gebnis ist ein gründlich miss­lun­gener Film, dessen größter Anreiz in einem angekün­digten Chaos liegt, das die Bilder mehr als deutlich werden lassen.
Alles wird bis zum Äußersten getrieben, einschließ­lich einer Filmmusik, die fast durchweg mit den üblichen illus­tra­tiven Codes bricht, um der Mutter die Haupt­rolle streitig zu machen.

Formell ist der Film mehr schrill als berührend, mehr will­kür­lich als ehrlich – und landet dabei immer wieder in insze­na­to­ri­schen Sack­gassen.

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Wenn das ein weib­li­cher Blick sein soll, dann Gute Nacht! Ein Mann hätte diesen Film so nicht machen dürfen, ohne in einen Shitstorm-Tornado zu geraten.

Nüchtern betrachtet erzählt Die my love vor allem davon, dass Lynne Ramsey gerne Sex mit Jennifer Lawrence hätte. Dazu wird dieser Film nicht viel beitragen.