78. Filmfestspiele Cannes 2025
Herbst der Matriarchinnen |
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Ein gründlich misslungener Film: Lynne Ramsays Die My Love | ||
(Foto: Black Label Media / Cannes Press Service) |
»Film is a disease. When it infects your bloodstream, it takes over as the number one hormone; it bosses the enzymes; directs the pineal gland; plays Iago to your psyche. As with heroin, the antidote to film is more film.« – Frank Capra
Cannes wartet immer noch auf sein diesjähriges Meisterwerk. Auch der neue Film von Titane-Regisseurin Julia Ducournau ist trotz manch' erkennbarer Stärken eine Enttäuschung mehr. Man darf sich da nicht blenden lassen von einzelnen Marktschreiern!
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Eines der endemischen Übel des Gegenwartskinos im letzten Jahrzehnt ist der Exzess. Es gibt eine neue Ästhetik des Exzesses, die fern der der einstigen B-Movies und Midnightmovies liegt, denen es darum ging, mit grellen Effekten das »épater le bourgeois« der alten Avantgarde zu wiederholen. Dazu benutzte man die Stereotypen des Horrorfilms und des Pornos, man entwickelte den Splatterfilm, man drehte die Schraube des Tabubruchs immer weiter. Auch das war ein Exzess, aber er war gewissermaßen zielgerichtet und er hatte seine Gründe. Es war keine bloße Geste, um die eigene Radikalität narzisstisch zu bestätigen.
Genauso kommt einem jene neue Exzessivität vor, die von Opulenz und Manierismen in der Ausstattung begleitet wird, wenn das Budget aufgebläht genug ist, von Exzessen des – wahlweise – Schnittgewitters der Blockbuster oder der betonten Langsamkeit des Stillstandskinos. Beides wird vom Wunsch und Bedürfnis bestimmt, sich von der Ästhetik der Fernsehserien zu distanzieren, und vom Wunsch, das Nostalgiebedürfnis des Publikums zu enttäuschen und mit jenem klassischen Erzählkino zu brechen, das heute gern als altmodisch, reaktionär und jedenfalls überholt markiert wird.
Beispiele für die von mir gemeinte Exzessivität sind Winkelzüge der Handlung von Babylon von Damien Chazelle ebenso, wie die betonte – und darum unechte – Grandiosität von The Brutalist von Brady Corbet, der psychotisch – aber dem Publikum zum Verständnis nahegelegte –
Trip von Beau Is Afraid, dem Film von Ari Aster, den er nach dem denkwürdigen Midsommar (2019) gedreht hatte.
Sein neuestes Werk, Eddington, gestern hier besprochen, ist ein Film, der vom Chaos der Vereinigten
Staaten erzählt – und dabei aber dieses Chaos zur stilistischen Ausdrucksform erhebt. Zugleich steht der Film exemplarisch für das Chaos, das einen Teil des amerikanischen Kinos heimsucht, das seit der Postmoderne nicht aus der ästhetischen Krise herausfand und keinen klaren Kurs mehr findet. Der Grundeindruck von Unordnung und Ungleichgewicht ist dessen größter Mangel – aber womöglich auch seine große Stärke.
Die Desorientierung in Eddingtion ist nicht größer und wahnwitziger als in der aktuellen amerikanischen Politik.
Aber auch das europäische Kunst- und Autorenkino flieht zur Zeit gerne in den unmotivierten Exzess, in manierierte, auf Ausstattung und Effekthascherei konzentrierte Filme. Man könnte hier Poor Things und überhaupt das Kino von Yorgos Lanthimos ebenso nennen, wie zumindest ansatzweise den letzten Film von Ruben Östlund. Oder wie eben Titane von Julia Ducournau.
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Der Frühling war kurz, der Herbst wird lang: Regisseurinnen wie Lynne Ramsey und seit einigen Jahren auch Julia Ducournau haben viele Fans. Aber Fanhaltung ist, wenn auch nie ganz zu vermeiden, falsch für Festivals wie für Filmkritik. Zu befürchten ist in beiden Fällen, dass die Lobpreisung ins Gegenteil umschlägt.
Ich habe jedenfalls viele Leute getroffen, die nach den Premieren gerade über diese beiden Filme richtig wütend waren und ungehalten auf sie reagierten – und das
waren nicht nur ältere Männer.
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Zunächst einmal ist festzustellen: Alpha ist keineswegs ein schlechter Film. Es ist dies einer jener Fälle, so habe ich es dem Kollegen von critic.de auch geschrieben, wo ich in deren Kritikerspiegel eine Wertungsmöglichkeit stark vermisse: Es gibt nämlich Filme, die sind gleichzeitig stark, bzw. »sehr gut« und »zwiespältig«; man müsste in diesem Fall »++-« geben können. Das ist eine Wertung, die ich sogar über sehr viele Filme treffen könnte: Dass sie sehenswert sind, dass sie viele gute Seiten haben und dass trotzdem etwas in ihnen grundsätzlich missglückt ist. Genau so ist Alpha korrekt beschrieben.
Dies ist in vielem von großer Souveränität inszeniert. Montiert ist der Film allerdings so, dass das Ergebnis ziemlich konfus ist; und das liegt auch an einem Drehbuch, das offensichtlich nicht ausgereift war, das gleichzeitig zu viel will und zu wenig und das viel zu viele Themen miteinander vermengt.
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Der Film ist interessant und hat Stärken, aber er ist nicht gelungen, egal welche Kriterien man anlegt.
Es beginnt mit Bildern von Feuer und Hitze. Die Titel sind als Risse auf getrockneter Sand-Kruste zu lesen, Wüste, trockene Erde.
Dann ein Mann, der sich Heroin spritzt, ein Kind, ein etwa 5-jähriges Mädchen mit Brille, das neben ihm liegt und einen Marienkäfer geschenkt bekommt.
Dann Musik von Portishead: »Roads«. Wir befinden uns irgendwann in den 80er, 90er Jahren. Eine Jugendparty, ein etwa 14-jähriges Mädchen mit Brille – wir ahnen, dass sie die gleiche der vorherigen Szene ist, nun älter – bekommt ein Tattoo gestochen: Ein großes A auf die linke Schulter. Es wird sich als verschmutzte Nadel
herausstellen, denn das Tattoo entzündet sich, und bald ist von einem Virus – »dem« Virus – die Rede, der Alpha womöglich infiziert hat.
Für diesen Virus findet der Film ziemlich coole Bilder: Die Menschen versteinern, verwandeln sich in sehr schöne, aber tote Marmorbüsten. Das zeigt, dass diese Welt des Films nicht ganz von unserer ist, dass sie Sozialrealismus und Phantasie auf ungewöhnliche, faszinierende, aber auch schwer verständliche, konfuse (?) Weise mischt.
Im Unterricht bekommt Alpha Gedicht-Lektionen: Edgar Allan Poe: »In a night, or in a day, In a vision, or in none, Is it therefore the less gone? All that we see or seem. Is but a dream within a dream.«
A dream within a dream – vielleicht legt der Film hier ja auch schon sehr früh eine bestimmte Art von Interpretation nahe. Will auch das, was wir auf der Leinwand sehen, als ein Traum in einem Traum verstanden werden?
Zugleich Ekelästhetik, man kann das »Body Horror« nennen, einmal ein kurzer Ausschnitt aus einem »Münchhausen«-Film, den ich nicht absolut sicher erkennen konnte, ob es der von den Nazis war oder der von Terry Gilliam.
So kullern die Verweise sehr gelehrt, aber arg planlos durch den Film, und geben ihm auch nach längerem Nachdenken keinen zusätzlichen, gar tieferen Sinn.
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Was bleibt, ist die auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter, die einander lieben, es ist aber doch ein konfliktbehaftetes Verhältnis. Und dazu dann der Bruder der Mutter, das schwarze Schaf einer arabischen Familie, die sonst fast nur aus Frauen besteht. Aber gleichzeitig die größte Liebe der Mutter – neben der Tochter.
Vom Vater hören wir übrigens nie etwas. Der Bruder wird eher zum Teil zu einer Art von Ersatzvater. Dann ist da aber die
Drogensucht des Bruders: Dies ist allerdings der schwächste Teil des Films: Sie ermüdet, man hat dies alles, dunkle Seiten und Bar und Drogenabhängigkeits-Filme schon so oft und zu oft gesehen.
Wichtiger ist der Inszenierungsstil: Souverän, einfallsreich, massiver Musikeinsatz,
Das führt zu tollen Szenen: Eine arabische Großfamilie plappert und isst durcheinander, und dazu gibt es das Beethoven-Klavierkonzert No.17, D Moll.
Oder ein Schwimmbad, in dem sich eine große Blutlache ausbreitet. Die Marmor gewordenen Toten. Versehrte Körper von seltsamer Schönheit.
Große Bilder, voller Pathos und tiefer Humanität, eine doppelte Passionsgeschichte,
Aber wie ehrlich gesagt schon in Titane ist hier das Ganze weniger als die Summe seiner Teile.
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Alpha ist ein guter, vielleicht sogar sehr guter Film. Zugleich konfus. In seiner Werthaltung ein konservativer Film. Aber er ist in keiner Weise außergewöhnlich, sondern bedrückend konventionell. Vor allem in seinem Festhalten an der Kernfamilie – die in Titane auch irgendwie gesucht, aber gleichzeitig zumindest auch zerstört wurde.
Ein sehr guter
Film, aber er ist zugleich eine Enttäuschung, denn er erfüllt nicht die Erwartungen, die man mit Titane verbinden durfte, und er ist in keiner Weise das »Meisterwerk«, auf das man in Cannes mit gutem Recht wartet.
So schlecht, wie ihn die Franzosen jetzt machen, ist der Film aber am Ende auch wieder nicht. Ich glaube allerdings, dass man der Regisseurin, die ohne Frage ungemein begabt ist und sehr virtuos mit den filmischen Mitteln umgeht, dass man dieser Regisseurin keinen Gefallen tut, wenn man sie in diesen Wettbewerb hineinwirft – ob das allerdings in der Verantwortung des Festivals liegt, oder ob es nicht viel mehr vom Weltvertrieb oder von den Produzenten oder gar der Regisseurin selbst entschieden wurde, das wissen wir alle nicht.
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Ich habe noch nie verstanden, was an Lynne Ramsay so toll sein soll, aber viele andere Leute, die ich mag und die etwas vom Kino verstehen, die mögen sie sehr.
Die Kamera ihres neuen Films ist großartig, genauso wie der Musikeinsatz. Aber umso mehr denkt man: Schade, da haben wir so tolle Schauspieler und dann haben wir eine Regisseurin, die es total versemmelt.
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Die argentinische Schriftstellerin Ariana Harwicz veröffentlichte 2012 einen Roman mit dem Titel »Mátame amor«, in dem es darum geht, was passiert, wenn Mutterschaft zum Gefängnis für eine Frau wird, und ihre Liebe tötet, und der einzige Zufluchtsort dieser Frau sie selbst ist. Ihre Entfremdung dient als Ausgangspunkt für Fluchtfantasien, die eine Identität jenseits des ehelichen Lebens einfordern.
Die schottische Filmemacherin Lynne Ramsay nimmt diesen intimen Roman zum
Ausgangspunkt, um einen Ich-Film über das Trauma einer Frau zu drehen, die sich selbst allein im Wald richtig fühlt und ihre Vorstellungskraft in turbulente Gefilde abdriften lässt. Ramsay stützt ihren gesamten Film auf die Darbietung von Jennifer Lawrence, die dabei leider leider an ihren vollkommen missglückten Auftritt in Mother! von Darren Aronofsky (2017) anknüpft.
Die Regisseurin
gibt ihrer Protagonistin freien Lauf für alle nur denkbaren selbstzerstörerischen Ausbrüche. In ihrer eklektischen Inszenierung wird Sex zur gewalttätigen Auseinandersetzung, die Natur zum brennenden Wald, die Ehe zur Hölle und das Zeitgefühl zu einer Schleife, die Vergangenheit und Gegenwart in dem gleichen Chaos vermischt, das angeblich im Kopf der Frau herrscht – einer Frau, der Jennifer Lawrence durch ihr körperliches Spiel Glaubwürdigkeit
verleiht.
Ramsay will vom Wunsch nach Selbstzerstörung und dem radikalen Bruch mit den vergifteten Überresten einer Ehe und des Lebens an der Seite ihres Mannes Jackson (Robert Pattinson in einem sehr guten Auftritt) zu erzählen.
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Ramsays Werk ist von Effekthascherei bestimmt: Es setzt auf dauernde Irreführungen des Zuschauers, sinnlose Schocks, Verschiebungen vom Realen ins Traumhafte und unsichere Zeitsprünge. Das Endergebnis ist ein gründlich misslungener Film, dessen größter Anreiz in einem angekündigten Chaos liegt, das die Bilder mehr als deutlich werden lassen.
Alles wird bis zum Äußersten getrieben, einschließlich einer Filmmusik, die fast durchweg mit den üblichen illustrativen Codes bricht,
um der Mutter die Hauptrolle streitig zu machen.
Formell ist der Film mehr schrill als berührend, mehr willkürlich als ehrlich – und landet dabei immer wieder in inszenatorischen Sackgassen.
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Wenn das ein weiblicher Blick sein soll, dann Gute Nacht! Ein Mann hätte diesen Film so nicht machen dürfen, ohne in einen Shitstorm-Tornado zu geraten.
Nüchtern betrachtet erzählt Die my love vor allem davon, dass Lynne Ramsey gerne Sex mit Jennifer Lawrence hätte. Dazu wird dieser Film nicht viel beitragen.