01.09.2022
ABSTAND/ZOOM

Filmalphabet: X_VARIABLE/ UNBEKANNTE

Zero Fucks Given
Zeichensprache ersetzt viele Worte und ist irgendwie auch ein Platzhalter
(Foto: Mubi)

Ich lege ein neues Kühlpad unter meinen Laptop und trenne, so gut es geht, Autorin und Buch, Wirklichkeit und Fiktion und schaue mir den Trailer an

Von Nora Moschuering

Man soll kleinen, gestri­chelten Linien zum X folgen. Da wird schon was sein, am Besten ein Gold­schatz. »X marks the spot«. Manchmal findet man auf Kinder­spiel­plätzen ein X im Sand, ansonsten gilt heute meist: »The blue dot marks the spot.« Dann markiert der blaue Punkt z.B. einen Ort, der einem bekannt ist, den man aber ohne Markie­rung nicht finden würde. Oder er markiert etwas Unbe­kanntes, wie auch bei Herrn Röntgen, der das X für seine Strahlung benutzt hat oder den X-Akten von »Akte X – die unheim­li­chen Fälle des FBI«. Man kann das X aber auch als Variable benutzen, die für immer als Stell­ver­treter steht oder die man durch etwas Konkretes ersetzen kann. Aber was schreibe ich da, in Wirk­lich­keit ist mein Kopf gerade, so gut es geht, im Urlaub und Glei­chungen mit Unbe­kannten zu bear­beiten, gehört eindeutig nicht dazu, dafür lese ich Texte über Stiftung-Warentest-Vergleiche, z.B. von Scho­ko­cremes, den Sinn von Zecken oder auch Romane.

Ich bin keine so gewitzte Leserin, dass ich immer die Bücher lese, deren Verfil­mung bald ins Kino kommt. Überhaupt nicht. Zufall war das, dass ich mit »Der Gesang der Fluss­krebse« punkt­genau zum Filmstart fertig war. Gesehen habe ich ihn aber noch nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich das möchte, ich komme gleich dazu, warum, vorher markiere ich hier zwei Punkte, ein Mal den Ort, an dem der Körper von Chase im Sumpf, unter einem Feuer­wach­turm, gefunden wird, das andere Mal die Hütte von Kya, Catherine, die seit ihrem siebten Lebens­jahr alleine in den Marsch­landen, einem Sumpf­ge­biet in North Carolina, lebt. Sie wird mit Anfang Zwanzig für diesen Mord angeklagt und kommt vor Gericht. Wichtig sind außerdem noch ihre große Liebe Tate, der ihr das Lesen beibringt, und Jumpin, ein Händler, der sie als Einziger aus dem nahe­ge­le­genen Ort unter­s­tützt. 2019 hat die Zoologin Delia Owens das Buch geschrieben, Reese Withers­poon hat es in ihrem Buchclub empfohlen, und sie ist nun auch Produ­zentin der Verfil­mung. Geschickt mischt Owens alles, was Erfolg verspricht: Eine Liebes­ge­schichte, ein Krimi und ein Gerichts­drama, garniert mit langen Passagen des beru­hi­genden Eins-Werdens mit der Natur. Sie wird dabei nie zu pathe­tisch und nie richtig hoff­nungslos. Die meisten, ohnehin auch eher seltenen Dialoge kann man dabei getrost schnell über­fliegen, es wird gespro­chen wie in einem Erklär­film, dagegen ist die Beschrei­bung der Natur und Kyas Leben in den Marsch­landen sehr schön, besonders, wenn man dabei selber in den Himmel schaut und die Bäume leicht schwanken und irgendwo Kinder spielen. Es ist eben auch eska­pis­tisch und das ist eine weitere Erfolgs-Ingre­dienz, denn es spielt in den 60er und 70er Jahren, da war die Welt zwar auch nicht in Ordnung, aber es ist trotzdem safe vorbei. Was nicht safe vorbei ist, sind die Vorwürfe gegen die Autorin, dass sie evtl. selber an einem Mord beteiligt gewesen sein soll und ob es, mit diesem Wissen, moralisch eigent­lich ok ist, das Buch zu lesen, das mögli­cher­weise auf mehr eigenen Erfah­rungen beruht, als man es bei diesem Thema haben möchte. Ich lege ein neues Kühlpad unter meinen Laptop und trenne so gut es geht Autorin und Buch, Wirk­lich­keit und Fiktion und schaue mir den Trailer an. Wo ist der Schlamm, der Staub, die Marsch? Der reale Dreck, der sich überall absetzt: zwischen den Zehen, den Fingern, im Haar? Wo ist die zerfal­lene, über­wu­cherte Hütte, in der es dunkel und verraucht ist und vor der Kya lieber schläft, als in ihr drin? Wo ist das Mädchen, die junge Frau, die dort jahrelang alleine lebt und sich von Muscheln ernährt, alte Kleider aufträgt und kein Handtuch benutzt. Schon im Buch ist eines ihrer am häufigsten benannten Attribute ihre Schönheit, daneben ist sie natürlich auch noch super-intel­li­gent. Eigent­lich ist sie einfach perfekt, als wäre das nötig, damit man sich ihr als Heldin zuwenden kann. Daisy Edgar-Jones, die Kya spielt, sieht dann eben auch so aus: schön und mit gut gewa­schenem Haar. Aber auch Chase und Tade sehen aus wie männliche Cheer­leader, wirken dabei aber auch abson­der­lich uncha­ris­ma­tisch. Gut, ja, mein Urteil entstammt aus dem Trailer.

Ob Withers­poon, die ja schon bei Wild (2014), der von ihr produ­ziert wurde und in dem sie auch die Haupt­rolle spielt, und Gone Girl (2014), den sie auch mitpro­du­ziert hat, auf der Suche nach komplexen Frau­en­fi­guren war, hier nun eine solche zeigt, oder ob Kya nicht viel mehr die roman­ti­sche Vorstel­lung von einer Frau ist, die mit der Natur verschmolzen und die deshalb begeh­rens­wert ist, an der aber nichts komplex und alles Fassade ist, darüber kann man nach Ansehen des Filmes disku­tieren.

Weiter mit Menschen mit XX-Chro­mo­somen: dabei scheint es manchmal noch die Ansicht zu geben, dass auf dem zweiten X irgendwo geschrieben steht, dass man auf Kleider steht, auf Nagellack, auf Perücken und darauf, kleine Bling-Bling-Täschchen herum­zu­tragen. Nichts gegen all diese Dinge, aber natürlich ist das kompli­zierter und erst recht in einem baye­ri­schen Dorf, wenn man trotz seiner XY-Chro­mo­somen einfach gerne Kleider anzieht. Uli Decker beschreibt in Anima – Die Kleider meines Vaters den unbän­digen Wunsch des Vaters danach zu traves­tieren. Schon als Kind trägt er die Kleider seiner Mutter und später dann die eigenen. In Highheels versucht er dann so gut es geht zu flanieren. All das hält er vor der Familie geheim. Die beiden Töchter, eine davon Uli, erfahren erst am Totenbett von seiner Leiden­schaft, die Mutter weiß es schon etwas länger. Decker ist eine sehr liebe­volle, detail­reiche und phan­ta­sie­volle Beschrei­bung dieses Lebens und seines Umfeldes gelungen. Sie verur­teilt dabei nicht, weil sie selbst Teil davon ist und sich nie loslöst und es aus der Distanz betrachtet. Schön ist daher auch immer ihre eigene »Kleider«-Findung, die z.B. an einem Glücksrad hängen: Papst, Cowboy, ein weißer Anzug, eine Rüstung, eine Lederhosn. Immer wieder wird reflek­tiert, was das mit einer Familie macht, wenn man ein bewusstes oder unbe­wusstes Geheimnis hat, und damit ist Familie Decker sicher nicht allein. Da fliegt Uli in einer Animation an Häuser­fronten vorbei und stellt sich vor, wie das Leben hinter den Fenstern läuft, als gäbe es da ein richtiges Leben, dem man einfach folgen könnte, aber sie weiß natürlich und aus eigener Erfahrung, dass es eben nicht so ist. Dabei nähert sie sich ihren eigenen Unsi­cher­heiten und denen der anderen. Sie verkleidet sich, wird zu ihrem Vater, erzählt aber gleich­zeitig auch davon, Teil des Ortes sein zu wollen, der Tradi­tionen. Nichts wird verur­teilt, Alles wird betrachtet und überlegt, wie und wo man sich da einordnen möchte und kann. Wichtig ist vor allen Dingen, dass man eine Entschei­dung fällen kann.

Anima lief bei den Film­kunst­wo­chen München, die Mitte August zu Ende gegangen sind, startet aber im Herbst (vorrau­sicht­lich am 20.10.) in den Kinos. Er lief Sonntag früh, und ich musste mich erst mal um abge­sperrte Straßen herum­la­vieren. Die European Cham­pi­on­ships schlän­gelten sich mit ihrer Radrenn­strecke rund um den Haupt­bahnhof. Verwirrt, etwas aufge­kratzt, aber pünktlich kam ich ins Kino. Sport inter­es­siert mich ja wenig, aber ich mag es, wenn unbe­kannte, aber positive, und über­ra­schende Variablen auftau­chen, wie in diesem Fall eben abge­sperrte Straßen, an deren Rändern Menschen stehen, winken, klatschen und Radler trinken. Ich mag es auch, wenn Boul­der­wände oder Riesen­räder auf dem Königs­platz stehen, ich die Musik von fernen Konzerten im Olym­pia­park höre, Stadt­füh­rungen, in die man stolpert oder Mittel­al­ter­märkte mit Met-Ausschank. Es ist schön, wenn der öffent­liche Raum belebt ist. Beleben tun ihn definitiv auch Gruppen von Menschen, die sich zu einem Film zusam­men­ge­funden haben und danach vor dem Kino auf der Straße oder dem kleinen Innenhof des City stehen und über den Film reden, wie nach Anima.

Genau darum ging es auch bei der Abschluss­ver­an­stal­tung der Film­kunst­wo­chen, der von der REVÜ – dem Flugblatt für Cine­philie gestaltet wurde. Gezeigt wurde der Film Zero Fucks Given des Regie-Duos Emmanuel Marre und Julie Lecoustre, im Anschluss wurde ein Text dazu vorge­lesen und ein Gespräch begonnen. Gleich zu Beginn ging es dabei um das Zusam­men­treffen im öffent­li­chen Raum und ob gerade in einer Zeit der Indi­vi­dua­li­sie­rung, der Verein­ze­lung oder wie es Andreas Reckwitz nennt: der Singu­la­ri­täten das Kino wieder ein Raum für Gemein­schaft sein kann, andere These war, dass eben jene Indi­vi­dua­li­sie­rung zu einer Durch­ka­pi­ta­li­sie­rung führt.

Bei jedem Blick in Cassandres Gesicht im Film musste ich auch an einen Titel der Band »Ja, Panik« denken: »Die Mani­fes­ta­tion des Kapi­ta­lismus in unserem Leben ist die Trau­rig­keit«. Cassandre, Adèle Exar­cho­poulos (die für ihr Spiel die Palme d’Or in Cannes bekommen hat), arbeitet für die Flug­ge­sell­schaft Wings (ein anderes Ryanair) und träumt – wobei das Wort in ihrem phleg­ma­ti­schen Fall nicht passt – davon, für Emirates zu fliegen, quasi als Aufstieg in dieser Flug­be­gleiter*innen-Hier­ar­chie. Viele der Flug­be­gleiter*innen im Film sind auch in Wirk­lich­keit Flug­be­gleiter*innen, Doku­men­ta­ri­sches mischt sich mit Spielfilm, Erfah­rungen realer Personen mit der Geschichte von Cassandre. Diese Cassandre/Kassandra scheint so müde und über­drüssig, dass sie nicht einmal mehr die Kraft hat, Dinge voraus­zu­sagen: bringt ja nichts und so antwortet sie älteren Strei­kenden, dass sie sich um sich kümmern muss. Fliegen ist ja auch nicht die beste Art, den Welt­un­ter­gang zu verhin­dern, aber diese stetige Bewegung, das nirgendwo Ankommen (wollen), aber trotzdem in Bewegung sein, scheint Cassandre zumindest zu beruhigen oder zu beschäf­tigen. Der Besuch all dieser unwirk­li­chen Orte, Nicht-Orte wie sie Marc Augé nennt, alle nur zum Transit gedacht, sind wie ein Sinnbild ihrer Gefühle. Der Film selber teilt sich in zwei Teile. Der erste Teil: sonnen­ver­brannt und heiß, sieht aus wie bewegte Foto­gra­fien des briti­schen Foto­grafen Martin Parr, in denen die Hellig­keit, das Licht und das Flimmern, etwas wie Glam verspricht, aber eigent­lich doch eher Trash ist. Dahinein nun performt Cassandra über den Wolken, mit ihrem Stewar­des­sen­kostüm, das immer ein bisschen aus der Zeit zu fallen scheint, ihr Verkaufs­ta­lent wird bewertet und sie sträubt sich gegen einen Aufstieg in der Hier­ar­chie, der dazu führt, dass ihre Kolleg*innen nicht mehr ihre Kolleg*innen sind. Der zweite Teil: Sie ist bei ihrem Vater und ihrer Schwester. Die verstor­bene Mutter steht über allem, scheint aber verun­glückt zu sein, nachdem Cassandra gegangen ist, also kann das Unglück eigent­lich nicht als Trauma gelten und ihren Weggang und ihre Trau­rig­keit recht­fer­tigen. Es ist etwas Inhä­ren­teres, gegen das sie sich auch ab und zu wehrt, z.B. indem sie den Unfallort ihrer Mutter aufsucht, der ihr im Regen und in seiner Belang­lo­sig­keit aber auch nicht hilft. Das X, also, der Punkt, den Cassandre suchen könnte oder zu dem sie zurück­kehren könnte, ist ihr völlig abhanden gekommen.

Im Anschluss an den Film las Camille Tricaud, die zusammen mit Franziska Unger 2019 das Künst­ler­video »Apoca­lypse Airlines« gedreht hat, ihren Text zum Film vor: Ein Moment der Reflexion, des Zurück­leh­nens und des Inputs der Ideen, die jemand Anderes beim Sehen des Filmes hatte, während man selber seine Gedanken ordnet. Im Anschluss dann das Gespräch, das, wie schon wie bei Anima, gut funk­tio­nierte, Spaß machte und sich seinen Weg in die Gespräche vor dem Kino und in den öffent­li­chen Raum bahnte.

Apoca­lypse Airlines ist übrigens ein Werbespot einer fiktiven Airline, die uns mit einem Popsong einlädt, einzu­steigen, bzw. darüber nach­zu­denken, welchen Preis wir und die Umwelt für unser indi­vi­du­elles Vergnügen zahlen. Auch sie tragen diese Uniformen und versuchen uns etwas zu verkaufen, gehen aber dann auch so weit, uns irgend­wann die Gasmasken aufzu­setzen: Enjoy! Das ist sowohl akti­vis­tisch, als auch poppig und ein anderer Ansatz als Zero Fucks Given. Auch eine Gene­ra­tion besteht eben aus unter­schied­lich zu beset­zenden Variablen.