10.03.2022
Cinema Moralia – Folge 267

Tage der Jugend

Tage der Jugend
Jugendwalzer: Yulia Lokshinas Tage der Jugend (2016)
(Foto: Wirfilm)

Aber der Krieg verjüngt uns nicht – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 267. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Man sagt, wer auf dünnem Eis Schlitt­schuh läuft, wird nur dann nicht einbre­chen, wenn er so schnell wie möglich weiter­läuft. Wir leben in verschie­denen Reali­täten, und die sind brüchig zu einander. Es ist ein schieres Unglück, dass hier ein offener Krieg statt­findet. Das heißt nicht Pazi­fismus, ich bin kein Frie­dens­pre­diger. Aber der Krieg ist unbe­re­chenbar. Das Einzige, was absolut unbe­herrschbar bleibt, ist Krieg. Krankheit kann man heilen, Krieg nicht.«
Alexander Kluge

Archai­sche Musik. Wir sehen Wald, Natur, wir sehen Kämpfe. Boxen, andere Kampf­kunst. Kinder fast, die mit nackten Hintern auf einem Amei­sen­hügel sitzen – das sind so die Mutproben dieser Welt.
Wir sehen, wie sie alle in einem Zelt schlafen gehen. Ich denke: Unsere Art, mit den Russen umzugehen, unser Blick auf Russland ist so ungemein borniert und ist naiv. Er ist naiv in der Hinsicht, hier einen Dämon zu konstru­ieren, wo es sich einfach um einen Macht­po­li­tiker handelt, und er ist naiv in manchem Vers­tändnis für das, was man nicht verstehen soll und auch nicht verstehen kann.
Dies alles kommt erstaun­lich gut heraus in Yulia Lokshinas Film Tage der Jugend über ein militär-patrio­ti­sches Jugend­camp auf der Insel Sachalin. Die russische Insel Sachalin liegt 8000 km östlich von Moskau. Jeden Sommer findet dort mit staat­li­cher Unter­s­tüt­zung ein militär-patrio­ti­sches Lager für Jugend­liche statt. Die Kinder üben den bewaff­neten Kampf, lernen patrio­ti­sche Lieder und werden im ortho­doxen Glauben unter­richtet. Im Sommer 2015 feierte das Jugend­lager den 70. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über die Nazi-Wehrmacht mit der Rekon­struk­tion einer histo­ri­schen Schlacht, bei der die Kinder die Rollen der Soldaten annehmen und die Erwach­senen ihnen erklären, wie das Sterben auf dem Schlacht­feld am besten aussieht.

Außer­or­dent­lich nahe kommt Yulia Lokshina ihren Prot­ago­nisten; etwa beim gemein­samen Essen, bei Gesprächen, bei Übungen im Camou­flage-Anzug im Wald. Es sind doch Jungs und es sind doch recht durch­schau­bare Männ­lich­keits­ri­tuale. Als Rituale und in ihrer univer­salen Form reichen sie weit über das hinaus, was wir heute als »Ukraine« zu vertei­digen gewohnt sind und als »Russland« zu hassen, sie reichen weit über das hinaus, was, wie manche denken, der Ort ist, an dem die Freiheit und die Demo­kratie vertei­digt wird.

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Guckt bitte diesen Film! Sagt mir gern, wie ihr ihn seht, was ihr anders seht! Ich sehe junge Menschen. Manche dumm, manche schön, manche schlau, manche liebens­wert, manche möchte ich nie wieder sehen. Es sind diese Menschen, die vor fünf Jahren auf der Insel Sachalin gedreht wurden und von denen manche viel­leicht gerade heute im Feldzug der Russen verheizt werden. So wie andere auf der anderen Seite verheizt werden. Sollen wir mit den einen mehr Mitleid haben als mit den anderen? Ich habe es nicht. Ich möchte gerne wissen, was mit diesem Jungen, diesen jungen Männern geschehen ist, was sie heute machen. Yulia Lokshinas heraus­ra­gender, sehr subjek­tiver Doku­men­tar­film Tage der Jugend schafft es, dass wir in wenigen Minuten Empathie entwi­ckeln für sie, dass wir sie kennen­lernen, dass wir manche von ihnen hassen und andere lieben.

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Yulia Lokshina ist in Moskau geboren, hat in München an der HFF studiert und mit diesem Film den »Starter-Filmpreis« gewonnen und lebt seit vielen Jahren in Deutsch­land. Heute erreichte uns von ihr dieser Aufruf:

»In Reaktion auf die unhalt­baren Ereig­nisse der Invasion in der Ukraine möchten wir den Zugang zu unserem kurzen Doku­men­tar­film Tage der Jugend (2016) öffnen, der wie aus einer anderen Zeit auf die Vorzei­chen von heute blickt. Nein zum Krieg.
Wir bitten um Spenden zur Unter­s­tüt­zung der Ukraine, sowie weiterhin aktiver unab­hän­giger zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tionen in Russland, zur kriti­schen Bericht­erstat­tung und recht­li­chen Unter­s­tüt­zung von Demons­trie­renden und politisch Verfolgten.«

Alle weiteren Infor­ma­tionen finden sich unter dem Link zum Film mit deutschen UT oder mit Engli­schen UT.

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Der Münchner Regisseur Alexander Kluge, gerade erst 90 geworden, kam in der »Zeit« zu Wort.

Es ist ein heraus­ra­gendes Interview. Über Neuan­fänge, über die Ästhetik der Macht: »Aber ist es Theater, ist es Darstel­lung von Macht wie im 18. Jahr­hun­dert, ist es Verrückt­heit oder Kalkül? Das kann ich nicht beur­teilen.«
In diesem Text ist viel mehr Weisheit als in dem ganzen Gewäsch des Feuil­le­tons der letzten Woche.

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Wenn russische Kinder in der Schule von anderen Kindern gemobbt werden, dann sind die Erwach­senen schuld. Die Eltern, die Umgebung, und zu dieser Umgebung gehören auch die umge­benden Medien – der Echoraum des Poli­ti­schen, der in den letzten zwei Wochen so laut wie hohl dröhnt.
Russen-Abneigung, Russen-Feind­schaft, Russen-Hass wird geschürt – auch in den Medien, oft unfrei­willig, manchmal sehr wissent­lich in Kauf genommen. Und bei einigen hat man den Eindruck, sie haben nur darauf gewartet, endlich wieder einen Feind zu haben und eine Feind­er­klärung formu­lieren zu dürfen.

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Jetzt ist man plötzlich offenbar völlig konform mit der unhin­ter­fragten Aussage, dass jeder Mann zwischen 16 und 60 kämpfen muss. Jeden­falls in der Ukraine. Dass es dort ein Ausrei­se­verbot für Männer gibt. Das wird überhaupt nicht hinter­fragt.
Was ist denn das eigent­lich für ein Konzept von Männ­lich­keit, von Patri­ar­chat im 21. Jahr­hun­dert?
Was habe ich verpasst?

Ich finde es voll­kommen verfehlt, dass in unserer angeblich aufge­klärten Gesell­schaft die Forderung nach Kampf, aussichts­losem, von der Regierung befoh­lenem Kampf, und Heldentod und Waffen­lie­fe­rungen hinge­nommen wird. Hinge­nommen mindes­tens, oft gefordert. Es wider­spricht niemand aus dem gesamten linken und links­li­be­ralen Spektrum.

Ange­nommen, es wird dort tatsäch­lich »unsere Freiheit« vertei­digt: Wieviele Menschen­leben ist diese Freiheit wert? 1000, 10.000, 100.000? Wie viele dürfen sterben, weil unsere Freiheit vertei­digt wird und wir »den Preis für die Russen« hoch­schrauben?

Ebenso absurd ist das plötz­liche Exper­tentum. Die vielen Menschen, die den post­so­wje­ti­schen Raum plötzlich wie ihre Westen­ta­sche kennen – so wie vor zwei Jahren alle plötzlich über Spalt-Proteine Bescheid wussten.

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Wir werden uns nach diesem Krieg viel verzeihen müssen.

(to be continued)