03.03.2022
Cinema Moralia – Folge 266

Der Doku­men­tar­film und die Wirk­lich­keit

Maidan Sergei Loznitsa
Ein Volk kommt nicht zur Ruhe: Sergej Loznitsas Maidan (2014)
(Foto: Grandfilm)

Zur Lage: Vergessen wir bitte die Russen nicht! Und wie Bilder unseren Verstand aus den Angeln heben – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 266. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»so haben sie einen steck­brief hinter mir herge­sandt
der mich niedriger gesinnung beschul­digt, das ist
der gesinnung der niedrigen.
wo ich hinkomme, bin ich gebrannt­markt
vor allen besit­zenden, aber die besitz­losen
lesen den steck­brief und
gewähren mir unter­schlupf, dich, höre ich da
haben sie verfolgt mit
gutem grund«
Bertolt Brecht, 1939

»Im Poli­zei­wagen. Sie haben uns in den 78. Abschnitt gebracht /// vielen Dank an alle für ihre Unter­s­tüt­zung! Hier ist es ruhig, wir sitzen auf einer Bank mit jungen Leuten und warten. Wärme, Berge von Essen und Wasser, man braucht nichts mitzu­bringen, danke!«

Vor drei Stunden kam diese Nachricht. Sie stammt von Daria Belova, einer jungen Filme­ma­cherin, die sich gerade in St. Peters­burg aufhält. Daria Belova studiert an der Berliner dffb. Ihr Studen­ten­film Komm und Spiel war 2013 ein großer Erfolg und schaffte es auf eine ganze Reihe heraus­ra­gender Film­fes­ti­vals. In Cannes gewann sie den Preis der Cine­fon­da­tion.
Während der letzten Tage hat sie an ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine keinen Zweifel gelassen. Aus öffent­li­chen und halböf­fent­li­chen State­ments konnte jeder erfahren, was sie denkt.

Die oben zitierte Nachricht, die wohl keiner, der genau liest, miss­ver­stehen kann, hat sie selbst öffent­lich gepostet. Sie will, dass es öffent­lich ist. Nur deswegen mache ich hier stell­ver­tre­tend auf dieses Einzel­er­eignis, auf das Schicksal einer deutsch-russi­schen Regis­seurin aufmerksam, einer Studentin an einer Film­hoch­schule in Deutsch­land, die hoffent­lich von den Insti­tu­tionen und Behörden unseres Landes genauso wenig vergessen wird wie andere. Sie verdient unsere Hilfe da, wo sie möglich ist.
Damit ist Daria Belova nur eine der ersten, die sie in den nächsten Monaten und Jahren brauchen werden, die sie – seien wir ehrlich – eigent­lich schon längst gebraucht haben. Und wenn wir, wie das ja gerade Mode ist, unsere Fehler und Versäum­nisse während der letzten Jahre aufzählen, vor allem die der anderen, dann können wir aus meiner Sicht mal bei den Fehlern anfangen, die wir im Umgang mit der russi­schen Zivil­ge­sell­schaft an den Tag gelegt haben. Wir haben nur dann hinge­schaut, wenn wir nicht wegsehen konnten, und wir haben immer nur auf die schrillen, exzen­tri­schen, besonders medi­en­wirk­samen Ereig­nisse geschaut, die viel­leicht nicht die waren, die Aufmerk­sam­keit vor allem verdient gehabt hätten.

+ + +

Vergessen wir bitte die Russen nicht! In jedem Fall all die Russen, die nicht auf der Seite eines Präsi­denten stehen, dessen Partei auch nach ganz offi­zi­ellen Ergeb­nissen bei der letzten Wahl keine 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte. Trotz alldem, was Russland an Mani­pu­la­tionen nach­ge­sagt wird.

Das bedeutet: Jeder zweite Russe hat Putin nicht gewählt. Kaum einer der russi­schen Filme, die ich in den letzten Jahren auf inter­na­tio­nalen Festivals zu sehen bekam, hat irgend­etwas mit dieser Regierung gemein. Es sind dissi­dente Filme. Filme, die von indi­rekter Regime­kritik nur so strotzen und manchmal den direkten Angriff nicht scheuen.

Es ist an den Deutschen, mehr als jedem anderen Volk dieser Erde ange­messen, die Russen nicht zu vergessen und sich mit plumpen Affekten gegenüber Russland zurück­zu­halten. Auch wenn es ihnen schwer­fällt.

+ + +

Es ist wieder mal die Stunde der Verein­fa­cher und des allge­meinen Bekennt­nis­zwangs. Facebook-Profile werden blaugelb einge­färbt, Worte werden geboten oder verboten. Allge­meine Erregung, wenig genaues Hinsehen und Diffe­ren­zie­rung und noch weniger Wünsche nach Diffe­ren­zie­rung. »Es wird verschoben und es wird verdrängt.« (B.B.)

+ + +

Die Medien, die deutschen zumal, erscheinen als Chor, der in einen Entrüs­tungs- und Empörungs­wett­be­werb einge­treten ist, in den sich nur wenige moderate oder gar dissi­dente Stimmen mischen.

Wo bleibt die Distanz? Wo bleibt die Kritik? Und wenn die deutschen Medien mal irgend­etwas an der deutschen Regierung zu kriti­sieren haben, dann natürlich das Falsche, nämlich das, was angeblich gestern versäumt wurde.
Warum das Bedürfnis nach Part­ei­nahme? Nach Bekenntnis? Nach Entschie­den­heit? Man kann jetzt nicht antworten: Wegen der Bilder im Fernsehen. Nicht etwa, weil diese Bilder kaum ein zutref­fendes, ange­mes­senes Bild der Lage zeichnen. Sondern, weil die Bilder nicht etwas wieder­geben, kreieren, produ­zieren, was neu ist, etwas schaffen, was vorher nicht da war. Sondern weil sie etwas triggern, was schon lange exis­tierte und jetzt endlich einen Grund bekommt, ans Licht zu treten.

+ + +

Mir erscheinen viele einzelne Phänomene, die sich zur Zeit beob­achten lassen, als zivi­li­sa­to­ri­scher Rück­schritt, der uns vor uns selbst erschre­cken lassen müsste, anstatt vor anderen.
Zum Beispiel die Tendenz, Russen in kultu­relle oder mora­li­sche Sippen­haft für ihren Präsi­denten zu nehmen. Zum Beispiel die Erwartung, Künstler sollten durch öffent­liche State­ments ihre Miss­bil­li­gung des russi­schen Angriffs äußern, oder sie werden mit dem Entzug öffent­li­cher Gelder bestraft. Dies ist nicht weiter entfernt von allem, was wir aus den Zeiten der maois­ti­schen Kultur­re­vo­lu­tion und dem Stali­nismus kennen.
Die Sperrung russi­scher Medien durch die europäi­sche Union zum Beispiel. Ohne Not begeben wir uns auf ein Niveau mit den Herr­schern in Russland. Machen den Vorwurf überhaupt möglich und plausibel, in Europa gebe es poli­ti­sche Zensur. Und das nur, weil unsere Regie­renden glauben, man könne den Bürgern nicht »RT« und »Sputnik« zumuten, die Wähler würden am Ende auf plumpe Propa­ganda herein­fallen.

+ + +

Auch das Film­fes­tival von Cannes geht weit, sehr weit in seiner Part­ei­nahme:

»During this winter of 2022, the Festival de Cannes and the Marché du Film have entered their prepa­ra­tion phase. Unless the war of assault ends in condi­tions that will satisfy the Ukrainian people, it has been decided that we will not welcome official Russian dele­ga­tions nor accept the presence of anyone linked to the Russian govern­ment.
However, we would like to salute the courage of all those in Russia who have taken risks to protest against the assault and invasion of Ukraine. Among them are artists and film profes­sio­nals who have never ceased to fight against the contem­po­rary regime, who cannot be asso­ciated with these unbe­arable actions, and those who are bombing Ukraine.
Loyal to its history that started in 1939 in resis­tance to the fascist and Nazi dicta­tor­ship, the Festival de Cannes will always serve artists and industry profes­sio­nals that raise their voices to denounce violence, repres­sion, and injus­tices, for the main purpose to defend peace and liberty.«

Der ukrai­ni­sche Regisseur Sergeij Loznitsa, der einen Film über stali­nis­ti­sche Schau­pro­zesse gemacht hat, hat jetzt groß­ar­tige Zivil­cou­rage gezeigt: Gegen den voll­idio­ti­schen Schritt der soge­nannten Europäi­schen Film­aka­demie, pauschal keine russi­schen Filme bei den Europäi­schen Film­preisen zuzu­lassen, reagiert er mit einer Protest­note: »What is happening before our eyes is horrible, but I’m asking you to not fall into craziness. We must not judge people based on their passports. We can judge them on their acts«, sagte Loznitsa.

Zuvor hatte Loznitsa die unver­bind­liche »Soli­da­ri­sie­rung« (»we stay alert and are in touch«) der Akademie mit den ukrai­ni­schen Filme­ma­chern kriti­siert und war als Reaktion auf die seiner Ansicht nach verharm­lo­sende Darstel­lung des Ukraine-Kriegs aus der Akademie ausge­treten.

+ + +

Eigent­lich wollte ich heute über den Doku­men­tar­film schreiben. Über die bevor­ste­hende Mitglie­der­ver­samm­lung der AG Dok, und über jene merk­wür­digen Vorschläge, die unter dem irre­füh­renden Titel »Docs for democracy« rubri­zieren. Die Wirk­lich­keit hat über den Doku­men­tar­film gesiegt.

Darum bleibt ihr nur der Verweis auf zwei Stel­lung­nahmen der beiden Seiten, die am Freitag hoffent­lich argu­men­tativ mitein­ander ringen werden.

Vor einiger Zeit hat der BVR, mit benach­barten Verbänden, eine Stel­lung­nahme zu den Projekt­ideen von Docs for Democracy veröf­fent­licht.

Diese haben nun eine Erwi­de­rung vorgelegt.

Jeder kann sich selbst ein Urteil bilden

+ + +

Mir fällt tatsäch­lich zur Lage gerade niemand besserer ein, als Brecht: »Man sagt mir, zu euch muß man primitiv reden./ Will ich nicht./ Wie mir der Schnabel gewachsen ist – nicht wie euch die Ohren gewachsen sind./ Dialektik.«

(to be continued)