27.09.2020
68. Festival de Cine de San Sebastián 2020

Nette Mädchen in aussichts­loser Lage

Akelarre
Brandaktueller Historienfilm: Akelarre
(Foto: Press Service SSIFF 2020)

Don’t look at me: 1000 Augen, 1001 Geschichten: Iberoamerikanisches an der Concha – Notizen aus San Sebastián, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Wenn das nur ein Traum ist, warum träumen dann alle Frauen den selben Traum?«
Der Inqui­sitor in: »Akelarre«

Heute in einer neuen Bar, gut hundert Meter stadt­ein­wärts vom modernen »Kursaal«, wie hier – der Ausdruck ist ein Über­bleibsel des 19.Jahr­hun­derts – tatsäch­lich das große Haupt­ge­bäude des Festivals mit zwei Kinos, Räumen für Markt, Pres­se­kon­fe­renzen und Akkre­di­tie­rungen heißt.
Das Bier schmeckt hier leicht säuerlich, aber gut, frisch, kühl – wieder mal etwas anderes. In der knalligen Sonne ist das eigent­lich ein sehr sehr guter Platz gegenüber vom Hotel Maria Cristina.

Wenn man mir morgen sagen würde, dass ich noch ein Jahr oder nur ein halbes zu leben habe, dann würde ich in dieser Stadt zumindest einen gößeren Teil dieser mir verblei­benden Zeit verbringen wollen. Dann ginge das auch, denn dann würde man einfach das Geld raus­werfen, das man hat, und dann Schulden machen. Aber warum muss man eigent­lich erst sterben, um so leben zu können? Ein Nacht­ge­danke bei strah­lendem Sonnen­schein.

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Beim Frühstück traf ich über­ra­schen­der­weise José Louis, der norma­ler­weise bereits in die frühe Presse-Vorstel­lung um 8:30 Uhr oder 9 Uhr geht – was ich kein einziges Mal geschafft habe, auch gar nicht versuche, dafür schaue ich dann abends etwas mehr. Als ich ihn ganz über­rascht grüße und frage, was passiert ist, sagt er: »Today is the first time I am a bourgeois«, ansonsten fühle er sich als Arbeiter, der auch zur Arbei­ter­zeit ins Kino gehe. Meine Antwort: »Welcome to the club.«

So wie es eine beliebte Diskus­sion ist, ob es katho­li­sches und protes­tan­ti­sches Filme­ma­chen gibt und auch Film­kritik, könnte man auch fragen, ob es bour­geoise und prole­ta­ri­sche Film­kritik gibt? Und welche eigent­lich besser ist? Die protes­tan­ti­sche Film­kritik sieht das Ganze zwei­fellos als Arbeit an: Man geht ins Kino, so wie man in die Fabrik geht, dort führt man dann die immer­glei­chen Hand- und Sehbe­we­gungen aus, und produ­ziert fordis­tisch Texte oder Film­be­trach­tungen. Dies ist natürlich ein pole­mi­scher Blick. Der den Prole­ta­rier mit dem Fabrik­ar­beiter gleich­setzt. Also versuchen wir es noch einmal anders: Prole­ta­ri­sche Film­kritik sieht das Ganze als Pflicht und Fron.
Bour­geoise Film­kritik wäre selbst­ver­s­tänd­lich einer­seits – das ist die positive und Narzissmus-affine Variante – eine Form, nicht zu arbeiten, also dem Boheme-Dasein verwandt, und insofern eine gehobene Form der Faulheit und der Arbeits­ver­mei­dung, jeden­falls der Vermei­dung schwerer Arbeit. Negativer darge­stellt geht es bei der bürger­li­chen Film­kritik um den Prestige-Faktor, das Ansehen, das man als Film­kri­tiker zumindest einmal genoss, heute nicht mehr genießt. Aber es geht eben schon um gesell­schaft­liche Aner­ken­nung, darum, sich Bedeutung anzu­schminken, wo sie gar nicht da ist. An beiden Distink­ti­ons­ge­winnen, dem Prestige-Faktor und der Bedeu­tungs­an­schmin­kung, hat der prole­ta­ri­sche Film­kri­tiker natur­gemäß kein Interesse.

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Viel­leicht müsste man hinzu­fügen, dass auch Filme­ma­chen oft genug einer der beiden Varianten entspricht. Es gibt Filme­ma­cher, die machen ihre Filme wie Bauar­beiter, oder Fabrik­ar­beiter, dann gibt es klein­bür­ger­liche Kran­ken­kassen-Beamte – gerade in Deutsch­land habe ich dafür konkrete Beispiele – und dann gibt es andere, die machen Filme, wie ewige Studenten, oder wie Groß­bürger, die sich lang­weilen, immer auf die Jagd oder auf ihre Segel­yacht zu gehen, und die ihr neues Hobby gefunden haben.
Man sollte auch das nicht verachten, denn Filme­ma­chen ist jeden­falls viel sympa­thi­scher als Groß­wild­jagd. Manche der Filme sind aller­dings so, dass man denkt, der Mensch­heit wäre besser gedient, der Mann hätte ein paar Antilopen erschossen.

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Die Eintritts­preise beim Festival sind nicht hoch: Eine normale Karte kostet zwischen 7,90 € und 9 €. 9 € aller­dings nur, wenn man sich den Wett­be­werb anschaut. Aller­dings kosten einige Veran­stal­tungen eine ganze Menge mehr, so zum Beispiel die Eröffnung. Sie kostet 70 € im billigen, rund 95 € im teuren Kino, die Preis­ver­an­stal­tungen des Premio Donnerstag kosten zwischen 45 und 55 Euro, die Abschluss­ver­an­stal­tung wieder 95 oder 70 €.

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Seine besondere Stärke besitzt San Sebastián seit jeher auch dadurch, dass man hier nahezu die komplette Jahres­pro­duk­tion des ibero­ame­ri­ka­ni­schen und spani­schen Kinos sehen kann. Auf diesem Kino­kon­ti­nent spielt immer schon Argen­ti­nien eine Haupt­rolle. Auch in diesem Jahr kamen zwei der besten Filme des Festivals von dort.
Der argen­ti­ni­sche Regisseur Pablo Agüero (Eva no duerme), der in Paris lebt, hat an der baski­schen Küste gedreht. Sein Film Akkelare, der im Wett­be­werb lief, war eine positive Über­ra­schung im Wett­be­werb. Er erzählt von der Hexen­ver­fol­gung durch die Inqui­si­tion im durchaus hexen-affinen Basken­land. Hier steht das spanische Pendant zum deutschen »Blocks­berg«: Zugar­ra­murdi in Navarra. Noch heute treffen sich dort »Hexen« zum Feiern.

Im Jahr 1609 drang­sa­liert die Kirche die baski­schen Fischer­dörfer, weil die Männer auf See sind, droht kein Wider­stand. Sechs Mädchen werden von Nachbarn denun­ziert, gefangen und sehen dem sicheren Tod auf dem Schei­ter­haufen ins Auge – da beschließen sie, anstatt wie alle anderen den Kontakt mit dem Teufel zu bestreiten, dem Inqui­sitor zu geben, wonach er sich offen­kundig sehnt: Infor­ma­tionen über den Teufel, saftige Geschichten von Hexen­sa­batt und Satan, lüsterne Gesänge und Tänze – und siehe da: Wie Sche­he­ra­zade im Märchen von 1001 Nacht schmücken die sechs ihre Erzäh­lungen aus, verlän­gern sie ins Endlose und bezirzen so ihr Gegenüber. So erkaufen sie sich immer weitere Zeit.

Der für Netflix produ­zierte Film lebt von seinen Darstel­lern (der Deutsche Alex Bren­de­mühl als Inqui­sitor) und einem tradi­tio­nellen baski­schen Gesang, der tatsäch­lich verzau­bernde Wirkung entfaltet.

Und dieser Histo­ri­en­film ist brand­ak­tuell. Als erstes bekommen die gefan­genen Mädchen eine Kapuze über den Kopf gezogen, und ihre Augen verbunden. Immer wieder bekommen sie zu hören: »Don’t look at me!« Dass sie die Männer nicht anblicken sollen.
Dazu kommt das Thema Hexenjagd, mit seinen sehr konkreten Entschei­dungs­si­tua­tionen: Wie verhält man sich vor einem allmäch­tigen Verfolger, dessen Urteil schon vor Prozess­be­ginn feststeht? Wie begegnet man seinen tenden­ziösen, inqui­si­to­ri­schen Fragen, den Moral­ur­teilen der anderen zu Sex und Gewalt? Seinem Verlangen nach öffent­li­cher Buße und zur Schau getra­gener Beschei­den­heit? Wie groß ist die Macht der Blicke? Sie wirken vor dem Hinter­grund unserer heutigen Debatten extrem zeit­genös­sisch.

Der Großin­qui­sitor ist heute der tausen­däu­gige neue Leviathan der sozialen Netzwerke. Der neue Schei­ter­haufen ist der Moral­pranger des Internet.

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Ob dem nun Absicht zugrunde liegt, oder es nur der Zufall in der Program­mie­rung ist: Man kann nicht übersehen, dass es sehr oft in den latein­ame­ri­ka­ni­schen Filmen junge Frauen sind, die Regie führen. Ein Film, den ich bereits in Venedig gesehen hatte, und über den ich nur im Podcast gespro­chen hatte, aber nicht geschrieben, konnte man hier wieder sehen: Selva Trágica (»Tragic Jungle«) aus Mexiko.

Hier steht das Schicksal einer jungen Frau, fast eines Mädchens noch, in der Männer­welt im Zentrum. Denn sie ist die einzige, die eine in sich sehr heterogen zusam­men­ge­setzte Männer­gruppe durch den Dschungel begleitet. Sie ist beides: Realität, aber auch Phantasma, eine Sehn­suchts-Phantasie und ein Objekt sexueller Begierde, aber auch Bedrohung, ein Medium, ein Geist, ein magne­ti­scher Pol des Verder­bens. Voller Anzie­hungs­kraft, der sich keiner der Männer entziehen kann, und der diese notwendig einen nach dem anderen ins Verderben führt. Schnee­witt­chen und die sieben Zwerge, noch einmal im weißen Kleid, aber für Erwach­sene.

Für alle, die Gele­gen­heit haben, in der kommenden Woche das Filmfest Hamburg zu besuchen, sei gesagt, dass dieser Film dort seine Deutsch­land­pre­miere haben wird.

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Auch einen der schönsten Filme der Berlinale habe ich in San Sebastián gesehen. Er lief dieses Jahr in der Sektion »Gene­ra­tion«, auch noch Kplus, und es ist ein bisschen schade, weil er dort nicht von allen wahr­ge­nommen wurde, die ihn hätten sehen müssen. So auch von mir. Ich lerne daraus, dass ich mir am Ende doch am besten jeden argen­ti­ni­schen Film anschaue, egal in welcher Sektion er läuft.

Wie soll man Mamá Mamá Mamá, das Debüt von Sol Berruezo Pichon-Rivière beschreiben? Ein Film, der traurig ist und schön. Ein Film, der verträumt ist und verspielt; der kindlich ist und trotzdem realis­tisch, und der unglaub­lich plotlos ist. Es ist etwas schade, dass die eigent­lich ziemlich gute Kriti­kerin Lida Bach gerade das in ihrer Rezension nicht gesehen hat. Dass sie schreibt, das Ganze sei zu schwach, weil nichts passiere.
Aber gerade die Tatsache, dass nichts passiert, ist ja der Clou des Ganzen. Bezie­hungs­weise, dass ja alles passiert, während scheinbar nichts passiert.

Sie erzählt von einer Zwölf­jäh­rigen, deren Schwester ertrunken ist, und den Tagen der Trauer nach der Kata­strophe, die sie gemeinsam mit drei Cousinen und der Tante verbringt – das unbe­wusste Wissen dominiert alles in diesem hervor­ra­genden Film, der wie ein Echo von Sofia Coppolas The Virgin Suicides wirkt, und über den ich bei aller­nächster Gele­gen­heit noch ausführ­li­cher schreiben werde.

(to be continued)