02.07.2020
Cinema Moralia – Folge 221

Erhel­lende Dunkel­heit

Ostkreuz
Ostkreuz: Ein Filmfilm aus Berlin, 35mm, kommt auch von DVD gut
(Foto: Filmgalerie 451)

Gegen die Vorstellung vom apokalyptischen Zustand des Kinos: Begegnungen mit Assayas, Herzog, Klier, und die Rückkehr des Kinos auf allen Ebenen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 221. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»I have some good news, for everyone: cinema is in crisis.«
Olivier Assayas, 2020

»I’m fasci­nated by trash TV. The poet must not avert his eyes«
Werner Herzog, Guardian, 19.06.2020

»Who explores the disparity between the open, free field of novel or modern-theatre writing and the narrow limits of the conven­tions governing the work of commit­tees and commis­sions holding the power of life and death over cine­ma­to­gra­phic works? Not to mention series, whose standard-bearers seem all too happy to have a go at applying the tissue of conven­tions and plati­tudes from American screen­wri­ting textbooks.«
Olivier Assayas, 2020

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Vor ein paar Tagen habe ich den fast 30 Jahre alten, ganz wunder­baren Film Ostkreuz von Michael Klier wieder­ge­sehen. Nicht im Kino, sondern auf einer ganz normalen DVD, in guter Qualität zugegeben, heraus­ge­bracht von der »film­ga­lerie 451«, wo alle Werke Michael Kliers zu sehen sind. Ich war beein­druckt, wie gut sich dieser Film gehalten hat, der das Berlin unmit­telbar nach dem Mauerfall als wüstes Land, eine Art Mond­land­schaft zeigt: Futu­ris­tisch wie in einem Science-Fiction-Film, aber einem schmut­zigen sowje­ti­schen Science-Fiction-Film, Stalker oder Solaris zum Beispiel. Laura Tonke dazwi­schen wie ein Engel, die an einem fremden Ort, viel­leicht unter der Erde oder im Himmel, überlebt hat, und jetzt nach Berlin gekommen ist. Tatsäch­lich ist dieser Film eine Art Brücken­stein zwischen Wenders' Der Himmel über Berlin, den man genauso als Film über eine Mond­land­schaft beschreiben könnte, und Lola rennt neun Jahre später. Auch dort steht eine Frau im Zentrum, die sich durch Berlin bewegt, die selbst­be­wusst ist und zugleich seltsam distan­ziert von dem Geschehen um sie herum.

Aber was das eigent­lich Erstaun­liche für mich am Wieder­sehen mit »Ostkreuz« war, das war die extrem gute Qualität dieses Films: Auf 35 Milli­meter gedreht, mit oft nur natür­li­chem, manchmal aber auch wohl­ge­setztem künst­li­chen Licht von der Kame­ra­frau Sophie Main­ti­gneux, ist dies einfach ein extrem schöner Film, der manchmal Momente hat, die den Betrachter einfach nur glücklich machen.

Diesen Film zu sehen, inmitten der Debatte, die gerade geführt wird zwischen denje­nigen, die scheinbar nach wie vor ernsthaft und wie ich finde ein bisschen über­trieben nost­al­gisch glauben, Kino könne nur ausschließ­lich im Kino selbst statt­finden, und anderen, die scheinbar enthu­si­as­tisch das Kino in die virtu­ellen Welten des Streaming verlagern wollen, diesen Film gerade jetzt zu sehen, und davor und danach die Texte der Freunde und Bekannten zu lesen, hat einen beson­deren Effekt. Denn auf der einen Seite zeigt Ostkreuz, dass der analoge, auf 35mm Milli­meter gedrehte Film eine Schönheit hat, eine Inten­sität, eine Leben­dig­keit und ein Leuchten, das nur dieses Material haben kann, und das von digitalen Bildern noch lange nicht eingeholt werden wird. Auf der anderen Seite erlebte ich, dass man diese Schönheit auch noch erfahren kann, wenn man einen Film einfach auf DVD und auf einem halbwegs guten Flach­bild­schirm sieht. Sofern der Film gut ist.

Dann sieht man die Differenz zwischen 35mm und Digital-Material sofort. Es kann keinen Zweifel geben: Auch der Laie wird sie sehen. Und ich bin überzeugt, dass auch der Laie viel­leicht nicht genau weiß, warum, aber doch empfinden wird: hier ist etwas nicht nur anders, hier ist etwas schöner und besonders gegenüber dem flachen toten Digi­tal­bild­welt. Um diese Erfahrung geht es. Um keine andere. Und alles, was diesen Erfah­rungen dient, ob digitales oder analoges Material, ob dunkler Kinosaal oder flacher Bild­schirm, ist erst einmal sekundär und Mittel zum Zweck der Erfahrung.

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Viel zu lange haben wir gewartet. Jetzt geht es endlich wieder los: Die Kinos machen auf! Auch in Berlin und Bran­den­burg, nachdem sie im größten Teil der Republik – sogar im Sonderweg-Land Bayern – schon längst geöffnet sind.

Die Kultur, man muss das noch einmal sagen, wurde als erstes zugemacht und als letztes wird sie jetzt wieder geöffnet. Aber immerhin sie wird geöffnet. Nachdem Anfang März die Kinos zur Schließung gezwungen worden und drei­ein­halb Monate lang Unkosten ange­sam­melt haben, ohne Geld verdienen zu können, nachdem sich so nicht nur die Schulden gestaut haben, sondern auch die Filme, auch die Ungeduld des Publikums und der Filme­ma­cher, auch der Hundert­tau­sende, die von der Film­in­dus­trie leben, nachdem all das geschehen ist und nur mehr oder weniger schlechte Streams mit herun­ter­ge­rech­neten Daten­sätzen die Kino­er­fah­rung mehr schlecht als recht ersetzen mussten, ist es endlich so weit.
Aber besser spät als nie – darum wollen wir heute nicht meckern, sondern uns freuen.

Wir freuen uns auf ein paar Filme die lange aufge­schoben, jetzt endlich bald ins Kino kommen: Zum Beispiel Berlin Alex­an­der­platz – die Aktua­li­sie­rung des berühmten Döblin-Romans, die im Berlin der Gegenwart spielt, auf der Berlinale ein Renner war, und fünf deutsche Film­preise gewann – ein Wahn­sinns­film.
Und noch wahn­sin­niger im besten Sinn wird bestimmt Tenetder Hollywood-Renner des Sommers. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn dem briti­schen Kino­mas­ter­mind Chris­to­pher Nolan hier nicht wieder ein Genie­streich gelingt. Der Trailer verrät nicht viel, aber zumindest eines: in groß­ar­tigen eleganten Bildern gerät die Welt und die Ordnung der Dinge aus den Fugen.

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Dies sind nur zwei von vielen Filmen, die beweisen werden: es gibt Dinge, die muss man auf großer Leinwand im Kino sehen, in der erhel­lenden Dunkel­heit eines großen Saals, gemeinsam mit anderen, fremden Mitmen­schen.

Das Kino an sich, ein Ort der Kunst und des Sozialen, jene 125 Jahre alte Kultur­technik, ist durch keinen noch so ruck­el­freien Stream und noch so flachen Flach­bild­schirm zu ersetzen – das erfährt jeder, der sich nur einmal hinein­fallen lässt. Wer einmal einen richtigen Film, nicht digital, sondern auf Celluloid gedreht, gesehen hat, weiß, was gemeint ist: echte Filme sehen auch auf DVD besser aus.

Wir freuen uns auf die erhel­lende Dunkel­heit. Darauf, endlich wieder mitten in der Sommer­hitze in einem kühlen Kinoraum sitzen zu können. Endlich wieder inmitten blendend-gleißendem Sonnen­licht uns in die Dunkel­heit flüchten zu können. Eine Dunkel­heit, die die Phantasie anregt, und die Sinne.

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Die wahre Dunkel­heit des Kinos ist aber nicht einmal der dunkle Kinoraum selbst, sondern es ist das Schwarz zwischen den Bildern.
Kino, das sei »Wahrheit 24 Mal in der Sekunde«, hat der fran­zö­si­sche Filme­ma­cher Jean-Luc Godard gesagt. Aber Kino – das ist auch Dunkel­heit 24 Mal in der Sekunde. Denn kurz zwischen den Bildern ist die Leinwand schwarz. 24 Mal in der Sekunde klappt zu, wie unser Augenlid kurz zuklappt, um sich zu erholen, um zu phan­ta­sieren und zu träumen (zumindest war dies in der Analog­bild-Projek­tion genau der Fall).
Kino, das ist nämlich mehr als alles andere Traum­fa­brik und Ort der Fantasie. Es ist ein Asso­zia­ti­ons­raum, ein Raum, in dem wir frei unsere Gedanken schweifen lassen können, unsere Gefühle, in der wir auch an Dinge denken können, Gelüste und Ängste, wohlige Gefühle und schlimme, ausleben können, ein Ort, an dem wir lachen und weinen.
Das alles geht jetzt wieder los. Wie schön!

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Die digitale Welt sei ein fabel­hafter Ort, erklärt Werner Herzog im briti­schen Guardian, »nerven­auf­rei­bend und gefah­ren­be­haftet, zugleich erfüllt mit Möglich­keiten«.
Nur dank der digitalen Techniken könne er seine Filme zu Zuschauern in Afrika und Asien streamen und Tausende könnten die Filme sehen, obwohl dort die Film­theater alle geschlossen sind – dank des Digitalen. Nur dank der digitalen Techniken könne er eine E-Mail von einem Studenten in Montana bekommen und innerhalb von weniger als einer Minute auf die Frage antworten. Dank der digitalen Techniken könne er dem »Guardian« ein Interview über Skype geben, das 5000 Meilen Distanz über­brückt – »das ist wunder­voll!«, schreit er, »wunder­voll, wunder­voll!!«
Und dann erzählt er vom Internet. Dort lebe er die Leben von 20 oder 30 verschie­denen Herzogs. Alle seien Hoch­stapler, andere, die sich als »Werner Herzog« ausgeben: »Wenn sie mich auf Facebook oder Instagram und Twitter finden, dann ist es in jedem Fall Betrug, eine erfundene Persona. Einige davon sind großartig, einige sind richtig idiotisch, einige sehr durch­schnitt­lich.«

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Den neuen Film von Herzog kann man an diesem Freitag – nur an diesem Freitag – auf Mubi kostenlos sehen und gleich auch noch an einem Regie­ge­spräch mit Herzog teil­nehmen. Nach Anmeldung.

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Heute morgen habe ich einen Kasten »Spree­quell«-Mine­ral­wasser gekauft. Erst zu Hause merke ich, dass oben drauf auf dem Deckel jeder Flasche »Kino­ti­cket im Deckel« steht. Zusammen mit einem roten Kleeblatt-Symbol. Nichts gegen zu sagen. Spree­quell ist keine Trash-Marke. Solche Marke­ting­maß­nahmen wurden wahr­schein­lich von einem öffent­lich gut unter­s­tützten Kino­ver­band ins Leben gerufen wurden, um die »Lust am Kino« zu fördern. Unvor­stellbar ist es aller­dings, dass auf der Spree­quell-Flasche stünde: »Opern-Ticket in Deckel« oder »Theater-Ticket im Deckel«. Genauso unvor­stellbar aller­dings ist die Aufschrift: »Hertha-Ticket im Deckel« oder »Union-Ticket im Deckel«. Fußball und Oper – nein, das eine ist ein breites Unter­hal­tungs-Vergnügen, das andere ein elitäres Reprä­sen­ta­tions-Ding.
Inter­es­sant war schon, wie sich die armen Kinos so wahn­sinnig wehrten, während der Pandemie mit den Bordellen behörd­lich auf eine Stufe gestellt zu werden, und dagegen pole­mi­sierten, dass die Fußball-Bundes­liga früher öffnen durfte als das Kino – aller­dings hätte Kino ohne Zuschauer ja auch weniger Sinn gemacht, und gestreamtes Kino hätte wieder andere auf die Palme gebracht… aber das ist eine Debatte, die wir jetzt nicht führen wollen – dabei ist doch das Kino auch ein Vergnü­gungs­be­trieb, und könnte froh sein, wenn ähnlich viele Leute ähnlich viel Geld fürs Kino bezahlen würden, wie für Bordelle oder Fußball.
Bemer­kens­wert war die Empörung, mit der noch das sozial-neidische Argument dazu kam, beim Fußball würde es sich doch um Millionäre handeln, die hier subven­tio­niert würden, und unaus­ge­spro­chen dazu: Bei den Kino­be­trei­bern handle es sich dagegen doch um arme Leute.

Es gab einmal eine Zeit, da waren Kino­be­treiber noch Millionäre. Sie konnten sich Villen in Grünwald leisten, und ich kenne aus aller­erster Hand Geschichten über die legendäre Ilse »Kuba« Kubaschewski (1907-2001), die, was es heute auch nur noch selten gibt, Kino­be­trei­berin und Produ­zentin war, und eine mächtige Frau in der deutschen Film­land­schaft zu einer Zeit, als die meisten heutigen Proquote-Frauen noch gar nicht auf der Welt waren. Junge Männer wurden von »Kuba« auf die Beset­zungs­couch gebeten, und es hieß, sie würde darüber entscheiden, wer ein Star wird. Das waren mal Kino­be­treiber in Deutsch­land.
Natürlich ist heute alles besser. Es gibt keine Kubaschewski mehr, keine Beset­zungs­couch, dafür Pro Quote und das Wort Miss­brauch.

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Dem Kino geht es nicht schlecht. Denn es ist in der Krise. Und dieser Zustand ist produktiv.

Eine wunder­bare, sehr hörens­werte Master­class hat der fran­zö­si­sche Regisseur Olivier Assayas jetzt gegeben: »I have some good news, for everyone: cinema is in crisis. Which is hardly news, in a way, for it has conti­nuously been in crisis throug­hout its existence. It is not a sign of future danger either – the future is an enigma, and it takes a lot of irre­spon­si­bi­lity to speculate about it.«

Assayas plädiert für etwas, nicht gegen etwas. Er plädiert für ein Kino der perma­nenten Neuer­fin­dung und Neude­fi­ni­tion, der perma­nenten Revo­lu­tion. Kino habe heute die Verbin­dung zwischen Praxis und Theorie verloren, es sei »der Fehler einer Gene­ra­tion« gewesen, das Reflek­tieren über Film zu akade­mi­sieren, »lebendige Theorie« sei zu einer »toten Ideologie« geronnen.

An diesem Punkt fängt Assayas erst an. Hört es Euch an, die Argumente könnte ich hier nur schlechter reka­pi­tu­lieren, als Assayas selbst. Ich finde jeden­falls, er hat komplett recht in seiner Verab­schie­dung der Nostalgie. Und dass dies zum Besten gehört, das in den letzten Jahren übers Kino gesagt wurde.

(to be continued)