11.06.2020
Cinema Moralia – Folge 219

Auf der Suche nach dem »Schwarz­sein«

If Beale Street Could Talk
Barry Jenkins, einer der Autorenfilmer der Blackness: If Beale Street Could Talk
(Foto: DCM)

Lose Überlegungen zur öffentlichen Tötung von George Floyd und zur Veröffentlichung seine Sterbens, zum Topos des Black Cinema und zum Rassismus im US-Film – im Anschluss an James Baldwin – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 219. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir’ als selbst­ver­s­tänd­lich voraus­setzen.«
Susan Sontag

»Hast du was gegen meine Mutter gesagt?« war gestern. Heute heißt es: »Deine Gedichte über Gewalt tun Verge­wal­tigten weh, weg damit!« Oder: »Den Schwarzen auf diesem Bild hat ein Weißer gemalt. Abhängen!« Oder: »Die Buddhas von Bamiyan lächeln so unver­schämt mensch­lich und werden darum nach tausend Jahren gesprengt.« Ach so, nein, das war ja was ganz anderes...
Maxim Biller

Disclaimer: Graphic Content! Some of the following thoughts may hurt your feelings.

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Wer vom schwarzen Kino und von Schwarzen im Kino schreiben will, kann vom Rassismus nicht schweigen. Wie aber kann man überhaupt über die Erfahrung von Rassismus schreiben, wenn man selbst Weißer ist? Wohl nur unter Vorbehalt. Wie schreibt man als Weißer über das Kino von Schwarzen und Filme mit Schwarzen? Das kann nur gelingen, wenn man sich erst einmal der eigenen Begrenzt­heit versi­chert, sich klar macht, dass wir Weißen es nicht wirklich nach­fühlen können, wie es ist, zu den »Anderen« zu gehören und das »Anders­sein« alltäg­lich zu erfahren: Die Blicke der anderen, das Wegrücken auf der gemein­samen Wartebank, das Auswei­chen auf dem Bürger­steig – ist das überhaupt Rassismus, oder bildet man sich da viel­leicht etwas ein?

Es sind solche Über­le­gungen, die der schwarze US-Schrift­steller James Baldwin (1924-1987) in seinem Buch »The devil finds work« (1976) aufge­worfen hat. Es handelt sich um einen über hundert­sei­tigen Essay, der virtuos auto­bio­gra­phi­sche Anekdoten und proto­ty­pi­sche Erfah­rungen eines schwarzen Jungen, der in den 20er und 30er Jahren im New Yorker Stadtteil Harlem aufwuchs, mit subjek­tiven Kino­er­leb­nissen und detail­lierten Analysen bekannter Holly­wood­filme mischt. Baldwin, einem breiteren Publikum bekannt geworden durch Raoul Pecks Doku­men­tar­film »I am not your negro« (2016), war auch an mehreren Film­dreh­büchern beteiligt, und einige seiner Bücher wurden zu Film­vor­lagen, zuletzt für »Beale Street« (2018).

Baldwin, der 40 Jahre seines Lebens in Frank­reich zubrachte und zum Zirkel des Pariser Rive Gauche um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gehörte, ist ein Exis­ten­tia­list. Man sei, was man wähle, zu sein.

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Sein Buch beginnt mit der Erfahrung früher Faszi­na­tion für Joan Crawford und des Nicht-Reali­sie­rens eines sieben­jäh­rigen Jungen, dass es sich um eine weiße Frau handelt. Dann aber mit 12 in einer Verfil­mung von Dickens' Roman »Die Geschichte der zwei Städte« deutet das Kind schon die Massen der fran­zö­si­schen Revo­lu­tion auf der Straße als Bedrohung, nicht wie vom Film inten­diert als Befrei­ungs­hoff­nung. Denn es sind Weiße »und ein weißer Mob ist immer gefähr­lich.« Er weiß intuitiv, dass er seine weiße Lehrerin, eine Kommu­nistin, die das begabte Kind früh fördert, nach allem fragen kann, aber nicht nach seiner oder ihrer Hautfarbe. »Meine Lands­leute waren meine Feinde, das hatte ich schon verstanden und ich hatte schon begonnen, sie vom Grunde meines Herzens aus zu hassen.«

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Baldwins Buch vermit­telt eine Ahnung davon, wie es ist, schwarz zu sein, sich schwarz zu fühlen in einer Mehr­heits­ge­sell­schaft, die sich weiß fühlt.

Er erzählt, wie er als junger Mann Hollywood-Schau­spie­le­rinnen auf der Leinwand sieht: »Sylvia Sidney war die einzige..., die mich an ein farbiges Mädchen erinnert oder eine Frau, was bedeutet, dass sie die einzige ameri­ka­ni­sche Film­schau­spie­lerin war, die mich an die Realität erinnerte. Alle anderen ohne Ausnahme waren weiß und selbst wenn sie mich bewegten, wie Margaret Sullavan oder Bette Davis oder Carol Lombard, dann aus der Distanz. Ein Instinkt in mir saß tief und forderte mich auf, der Vorstel­lung des Lebens, die sie entwarfen, die sie darstellten, zu miss­trauen. Diese Vorstel­lung von Leben könnte ganz sicher niemals in irgend­einer Weise von mir erfüllt werden, auch wenn ich Edward G. Robinson und James Cagney und Frederick March bewun­derte.«

Von Anfang an dominiert die Frage der Hautfarbe das Kino­er­lebnis. So wie mit D.W.Griffith' »Birth of a Nation« (1915), also ein rassis­ti­scher Film über »böse« und »treue« Schwarze und den »helden­haften« Ku-Klux-Klan, der Grün­dungs­do­ku­ment des US-Kinos ist – und ein Dokument der Schande.

Schon als Heran­wach­sender klopfte der Kino­gänger Baldwin die Filme gewis­ser­maßen daraufhin ab, was sie über die zwei Gruppen erzählen, in die seine ameri­ka­ni­sche Heimat gespalten ist: In Mervyn LeRoys »They won’t forget« (1937), dem ersten Film von Lana Turner, spielt Claude Rains einen ehrgei­zigen Provinz­po­li­tiker, der den Sexu­al­mord an einer jungen Frau bewusst vom vermut­li­chen schwarzen Täter ablenkt, hin auf einen liberalen weißen Professor. Baldwin erklärt dazu, dass Rassisten den Über­läufer noch mehr hassen als die Schwarzen.
Ähnlich formu­liert Baldwin auch seine Abneigung gegen die wenigen schwarzen Darsteller im frühen Holly­wood­kino. Sie hätten eine Welt gezeigt, die er nicht kannte.

Baldwins grund­sätz­lich andere Film-Geschichte erzählt davon, wie Schwarze in Amerika Filme sehen, Filme die von Weißen für Weiße gemacht wurden. Einen markanten Unter­schied bemerkt er in Filmen von europäi­schen Emigranten. Sie erzählten von einem Amerika, wie es auch Schwarze erfuhren, auch wenn die Figuren Weiße waren. Gerade Fritz Lang war mit seinem »Sensorium für Faschismus« einer der persön­li­chen Helden für Baldwin.

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In den 50er Jahren wuchs die Aufmerk­sam­keit und die Sensi­bi­lität für die Lage der Schwarzen in der US-Öffent­lich­keit und damit auch im Kino. Plötzlich gab es schwarze Haupt­fi­guren, in Otto Premin­gers Film­ver­sion des Broadway-Hits »Carmen Jones« sogar einen fast kompletten schwarzen Cast mit Dorothy Dandridge und Harry Belafonte in den Haupt­rollen. Und es gab einen aller­ersten schwarzen Star: Sidney Poitier, der 1963 als erster Schwarzer einen Oscar für die »Beste Haupt­rolle« gewann, und in den Jahr­zehnten zwischen 1950 und 1980 konstant in bedeu­tenden Filmen wie Kassen­er­folgen Haupt­rollen spielte. Ein Meilen­stein ist »The Defiant Ones« (1958, dt. »Flucht in Ketten«): Der Rassen­kon­flikt der Gesell­schaft ist zuge­spitzt auf das Verhältnis zwischen zwei Häft­lingen – Poitier und Tony Curtis –, denen anein­an­der­ge­kettet durch Zufall die Flucht gelingt. Nach anfäng­li­cher Abneigung nähern sie sich an, bis zu dem Punkt, an dem der Schwarze auf das sichere Entkommen nicht verzichtet, weil er seinen verletzten Kameraden nicht zurück­lassen will.

Baldwin kriti­siert diese senti­men­tale weiße Utopie, entdeckt latente Homo­se­xua­lität und lobt den Film doch auch für bestimmte Szenen, etwa jene, in der das Erschre­cken eines weißen Kindes vor dem Schwarzen gezeigt wird: »Die Wurzel des Hasses der Weißen ist eine Idee im Kopf, die Wurzel des Hasses der Schwarzen ist Wut. Sie hassen die Weißen nicht so sehr, wie dass sie einfach wollen, dass sie aus ihrem Weg gehen, und vor allem aus dem Weg ihrer Kinder.«

Knapp zehn Jahre später drehte Stanley Kramer einen weiteren Film mit Poitier: »Guess who is coming to dinner« (1967), in dem zur Zeit des Höhe­punkts der schwarzen Bürger­rechts­be­we­gung die liberale Toleranz einer weißen West-Coast-Familie durch einen schwarzen Schwie­ger­sohn kurz­zeitig auf die Probe gestellt wird. Man kann in diesem Film ein Plädoyer für Offenheit ebenso entdecken wie die auftrump­fende Selbst­feier des liberalen Amerika, wie auch den Subtext, dass alle Weißen dieses Films – Familie, Freunde, Bekannte, Arbeits­welt – heilfroh sind, wenn der nicht­weiße Schwie­ger­sohn bald wieder in Richtung Ostküste abgereist ist, und man sich nicht mit ihm ausein­an­der­setzen muss.

Kurz danach setzte mit dem gleich­zei­tigen Beginn von New Hollywood, und dem kurz­zei­tigen Boom der Blax­ploita­tion-Filme eine neue Phase der Darstel­lung Schwarzer im US-Kino ein. Schwarze waren nun immerhin sicht­barer, ohne dass im Main­stream Rassismus wirklich zum Thema gemacht wurde. Seit dieser Zeit erst gibt es auch jenseits einzelner, komplett margi­na­li­sierter Künstler, eine größere Zahl schwarzer Filme­ma­cher. Nun gibt es »Black Cinema«.

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Acht quälende Minuten und 46 Sekunden lang ist das Video, das die Verhaf­tung und Ermordung des George Floyd auf den Straßen von Minnea­polis zeigt. Erschüt­ternd und widerlich, eine Zumutung. Es ist eine schlimme Erfahrung, und doch sollte man es sich ansehen, aus vielen Gründen.

Ein paar Bild­ex­perten der »New York Times« haben dieses Video, das sich aus Bildern einer Über­wa­chungs­ka­mera und mehreren privaten Smart­phone-Aufnahmen zusam­men­setzt, eingehend analy­siert, und mit Tonauf­nahmen des Poli­zei­funks kombi­niert.
Das Ergebnis ist ein Lehrstück des doku­men­ta­ri­schen Films: Wie Film unser Sehen verändert hat und ständig weiter verändert, wie Film uns überhaupt lehrt zu sehen, mehr und tiefer zu erkennen, aber auch, wo Bilder unein­deutig bleiben, und Fragen offen lassen.

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Genau­ge­nommen ist die »New York Times«- Analyse dieser Bilder [https://www.nytimes.com/video/us/100000007159353/george-floyd-arrest-death-video.html] bereits ein eigener Film, ein Film-Essay: Er kommen­tiert und subjek­ti­viert das Bild, modern gespro­chen: Er »framed« es. Das heißt, indem er erklärt, was wir sehen, uns Zusatz­in­for­ma­tionen liefert, die nicht im Bild sind, richtet er auch unseren Blick.
Der Film greift auch dann ein, wenn er scheinbar nur zusieht – das hat schon Susan Sontag in ihrem Essay »Das Leiden anderer betrachten« analy­siert. Und für gut befunden.

Die Wirkung dieser Bilder – zu der auch eine solche Analyse gehört, die bereits ein Sehen »zweiter Ordnung« ist, eine Beob­ach­tung der Beob­ach­tung –, diese Wirkung geht weit über das reine Doku­men­tieren hinaus.

Das Video über die Verhaf­tung und Ermordung des George Floyd und die Tat, es ins Netz zu stellen, ist selbst ein Stück Agitation und Akti­vismus. Und es wandert auf schmalem Grat: Denn es zeigt einen schwarzen US-Bürger, der viel­leicht persön­lich noch nicht mal besonders sympa­thisch war, als Opfer, ohne ihn zum reinen Opfer zu machen, ohne ihn zu objek­ti­vieren. Und ohne ihn auf sein Opfer-sein zu redu­zieren.

Vielmehr wird George Floyd und darin liegt seine Würde im Augen­blick des Sterbens, zum Symbol. Zum Symbol für Poli­zei­ge­walt und staat­liche Willkür, und für Rassismus – für die täglichen Erfah­rungen nicht-weißer US-Bürger.
Das Video ist zur poli­ti­schen Waffe geworden.

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Und hierin liegt es in einer langen Tradition des Kinos, die auf dessen Anfänge zurück­führt, auf die großen Meister des Stumm­films wie Dsiga Vertiov und seinen Film: »Der Mann mit der Kamera«. Und auf Sergei Eisen­stein, der noch offener mit Kino mobi­li­sieren, Propa­ganda machen wollte.

Der Film als Waffe und Mittel des Wider­stands und die Erringung der Autonomie über die Bilder ist der wesent­liche Gedanke, der das Kino der Schwarzen prägt, das seit bald 50 Jahren Gegen­bilder zum Beste­henden produ­ziert.

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Es kann nicht gelingen, die Geschichte des Kinos umzu­schreiben, oder auch nur um die Perspek­tive schwarzer Autoren zu erweitern, weil Hautfarbe kein Kriterium sein darf, so wenig wie Geschlecht, Klasse, sexuelle Orien­tie­rung. Auch nicht unter dem Banner der »Diver­sität«, des Wohl­mei­nens, der Unter­s­tüt­zung des Anliegens. Man wäre dann in der alten Falle des Rassismus. Und in der neuen, genau so schlimmen: Der Political Correct­ness.
Nein: Man soll schwarze Filme, also Filme von Schwarzen und über Schwarze nicht sehen, weil sie von Schwarzen sind. Sondern weil sie gut sind – und nur dann.

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Es wird sehr oft in den Debatten dieser Wochen, gern auch in unseren Debatten über Rassismus, davon gespro­chen, es sei wichtig, wie sich jemand »fühlt«. Oder vom Spre­chenden aus betrachtet: »Wie ich mich fühle«.
Das kommt mir viel zu kurz gedacht und gefühlt vor. Denn über Gefühle kann man nicht streiten, man kann nicht über sie argu­men­tieren. Gefühle sind wichtig. Aber sie sind keines­wegs »klüger« als der Verstand. Sie sind im Gegenteil mitunter dümmer, zumindest beschränkter, schon weil sie eine gewisse Tendenz zum Narzißmus haben. Wer von »Mitleid« redet und sagt »Ich fühle mit dir«, der sagt zunächst einmal »Ich fühle«. Und ganz zunächst sagt er »Ich«.
Gefühle haben immer recht, und darum auch immer unrecht. Sie besagen nichts – für die poli­ti­sche Debatte. Um die aber geht es hier.

Es geht um poli­ti­schen Austausch, um Kommu­ni­ka­tion. Und schon der Philosoph Ludwig Witt­gen­stein wusste: Auch wenn ich weiß, was Zahn­schmerzen sind, werde ich nie genau wissen, was es bedeutet, wenn du mir sagst,du habest jetzt Zahn­schmerzen. »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« (Witt­gen­stein)

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Es geht um Recht und um Rechte. Und es geht um Bezahlung. Es geht nicht darum, wie sich Frauen und LGBTQ-Menschen und rassis­tisch Benach­tei­ligte fühlen. Sondern darum, dass sie in jeder Hinsicht gleich­be­rech­tigt sind. Darum, dass sie für gleiche Arbeit gleich bezahlt werden. Darum, dass sie nicht mehr diskri­mi­niert werden als jeder andere von uns. Darum, dass man das, was sie womöglich von anderen unter­scheidet, möglichst gar nicht wahrnimmt, bzw. es nicht als Merkmal der Abgren­zung und Abstufung wahrnimmt, sondern als Variable, als Merkmal der Vielfalt, als Berei­che­rung.

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Ich möchte im Übrigen auch nicht gezwungen werden, mich in anderer Leute Gefühle »hinein­ver­setzen« zu müssen, mich überhaupt mit den Gefühlen und (Über-)Empfind­lich­keiten Wild­fremder beschäf­tigen zu müssen, die mich womöglich gar nicht inter­es­sieren. Wenn ich mich in Gefühle anderer hinein­ver­setze oder mich mit ihnen beschäf­tige, dann aus freien Stücken, nicht aus mora­li­schem Zwang.

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Wenn Gefühle an sich tatsäch­lich ein Argument für irgend­etwas wären, und »ernst­ge­nommen« werden müssten, dann müsste das für alle Gefühle gelten. Dann wären auch die Gefühle der weißen Frau ein Argument, die sich von schwarzen Männern »angeekelt« fühlt; und die Gefühle des weißen Mannes, der sich von Femi­nis­tinnen »bedroht« fühlt.
Sind sie aber nicht. Die weiße Frau und der weiße Mann mögen fühlen, was sie wollen, solange sie die Klappe halten und sich selbst an die Gesetze.

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Was das Kino der Schwarzen von dem der Weißen unter­scheidet, ist die Tatsache, dass sie nicht igno­rieren können. Sie müssen sich verhalten. Wie für Filme­ma­cher, die unter einem dikta­to­ri­schen Regime arbeiten, gilt für sie: Jeder Ausdruck, der nicht eindeutig wider­s­tändig und oppo­si­tio­nell ist, könnte als Konzes­sion, als Einkni­cken, als Akzeptanz oder sogar Soli­da­ri­täts­er­klärung mit den Macht­ha­bern gedeutet werden.

Auch darin hat James Baldwins These Bestand, dass es in Amerika immer um Rasse geht, immer darum, wer dazu gehört und wer nicht, immer um die Grenze zwischen bestimmten Ethnien, und dass vor allem sexuelle Vermi­schung der »Rassen« nach wie vor tabui­siert sei. Eine Identität sei nur dann in Frage gestellt, wenn sie bedroht wird, »wenn die Mächtigen beginnen zu stürzen oder wenn die Verfluchten beginnen, aufzu­stehen, oder wenn der Fremde an den Toren steht.«

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In den letzten Jahren hat das »Black Cinema« eine erstaun­liche Vielfalt und Qualität erreicht. Mit Moonlight und If Beale Street Could Talk, der Verfil­mung des bedeu­tenden Romans von James-Baldwin, wurde der Regisseur Barry Jenkins zu einem der wichtigen jüngeren schwarzen Filme­ma­cher. Seine Werke sind vergleichs­weise nahe am klas­si­schen Autoren­kino.

Spie­le­ri­scher geht mit dessen Tradi­tionen Spike Lee um, der Veteran des »Black Cinema« und wich­tigste schwarze Filme­ma­cher der Gegenwart. Er hat Iden­ti­täts­grenzen kaum infrage gestellt, er formu­lierte aber in seinen kommer­ziell erfolg­rei­chen Filmen ein wider­s­tän­diges, dabei univer­sales schwarzes Selbst­ver­s­tändnis. Werke wie Doin' the Right Thing, Malcom X und sein neuester BlacKkKlansman greifen clever Tradi­tionen des Genre­kinos auf.

Der Genrefilm scheint vielen Regis­seuren offenbar besser geeignet, um mit den alltäg­li­chen Bedro­hungen Schwarzer und mit Rassismus elegant umzugehen.
Etwa der Shooting-Star des schwarzen US-Kinos, Jordan Peele. Mit seinen groß­ar­tigen, listigen, immer auch ironi­schen Horror-Filmen Get Out und Us, den man wahlweise als »Wir« oder als »US« lesen kann, zeigte er den Horror des Rassismus.

In Get Out beginnt die Bedrohung mit einer unan­ge­nehmen Poli­zei­kon­trolle. Die steht auch am Anfang von Queen & Slim, dem neuesten Welt­erfolg des Kinos der Schwarzen. Der kontrol­lie­rende Polizist ist nicht nur unsym­pa­thisch und weiß, sondern offen­kundig über-aggressiv und rassis­tisch. Schnell eskaliert die Situation vom Wort­wechsel über Demü­ti­gungen zur Gewalt, am Ende liegt der Polizist tot am Boden, erschossen in Notwehr – aber wer glaubt schon zwei Schwarzen, wenn das Opfer ein weißer Polizist ist?

So beginnt im Debüt der Regis­seurin Melina Matsoukas ein Road-Movie, der ein Panorama der USA entfaltet und den aussichts­losen Flucht-Film in eine Utopie verwan­delt.

Es ist diese Utopie der Befreiung, das Prinzip Hoffnung, das ihm zugrun­de­liegt, das alle diese Filme verbindet. So unter­schied­lich die Ästhe­tiken dieser Filme auch sind: In ihnen wird das Bild zur Waffe der Selbst­er­mäch­ti­gung der mit Rassismus Geplagten dieser Welt.

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Einer der bemer­kens­wer­testen Filme, die vor der Jahr­tau­send­wende die Grenzen zwischen den Rassen infrage stellen, wenn nicht sogar sie einfach igno­rieren, war Black and White (1999) vom (weißen) Inde­pen­dent-Regisseur James Toback. Toback brachte hier in einer Szene, die jedem unver­gess­lich ist, der sie gesehen hat, den Boxer Mike Tyson mit Claudia Schiffer zusammen in ein Bild, in dem auch Robert Downey Jr. und Brooke Shields zu sehen sind, und Musik von Shost­a­ko­witsch zu hören – diese Beschrei­bung allein sollte genügen, um klar zu machen, womit man es hier zu tun hat. Die größte der vielen Quali­täten von Tobacks Kino ist seine Ehrlich­keit und Direkt­heit, die Tatsache, dass es mit seinen Obses­sionen nicht hinter dem Berg hält: Dazu gehört neben Frauen, Drogen, Halbwelt und der Korrup­tion des American Dream auch der Alltag der Schwarzen Amerikas, zwischen Feti­schi­sie­rung von Stars, Musik, Kleidung und einer bitteren Realität. Indem er genau dies zeigt, ohne es voreilig zu bewerten, war Toback bereits vor 20 Jahren weiter als viele heute.

(to be continued)