03.09.2019
76. Filmfestspiele von Venedig 2019

Ein Mann will nach oben

Martin Eden
Gefangene ihrer Klasse in: Pietro Marcellos Martin Eden
(Foto: Piffl)

Ob König oder Prolet: Martin Eden im Ferrante-Land, Morgenstern und Matsch in Azincourt – Notizen aus Venedig, Folge 7

Von Rüdiger Suchsland

»Die Gletscher der Arktis rücken jährlich drei Milli­meter auf uns zu. Ausrechnen, wann sie ankommen werden. In einem Film vorher sehen, was dann geschehen wird.«
Michel­an­gelo Antonioni

Die Ameri­kaner reisen ab nach Toronto. Wurde auch Zeit. Aber das Wochen­ende stand noch ganz in ihrem Bann. Etwas zu viel geredet wurde über Joker.
Joker ist der Versuch, den schil­lerndsten Gegen­spieler von Batman in unsere Gegenwart zurück­zu­holen. Dazu kommt Medi­en­re­fle­xion – böse Talkshows!! – und Film­ge­schichte. Todd Phillips zeigt aber vor allem einen Sozio­pa­then. Die Säule, auf der dieser Film ruht, ist Joaquin Phoenix. Man muss dessen exal­tiertes Spiel nicht mögen, aber Phoenix ist inter­es­sant. Ansonsten ist der Film ziemlich leer und unsym­pa­thisch: Die poli­ti­sche Agenda dieses Films ist reak­ti­onär und faschis­toid. Hier wird ein gewalt­tä­tiger, psycho­pa­thi­scher Wutbürger zum Ventil der Erleich­te­rung des Publikums.

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Ein junger Mann aus der Unter­schicht will Schrift­steller werden, er ist hoch­be­gabt, aber auch ein grober Klotz. Er verliebt sich in eine höhere Tochter, die will auch was von ihm wissen, ihre Familie aber um so weniger. Nebenbei schreibt er, und wird poli­ti­scher Aktivist. Erst als er in der bürger­li­chen Gesell­schaft anerkannt wird, darf sich auch die höhere Tochter wieder für ihn inter­es­sieren.
Das ist in groben Zügen die Geschichte von Martin Eden, Pietro Marcellos Film, der Jack Londons gleich­na­migem Roman von 1909 folgt, ihn aber in das Italien des 20. Jahr­hun­derts versetzt, in ein imaginäres Italien, das manchmal in den 60er, 70er Jahren zu exis­tieren scheint und manchmal in den 20ern. In dieser Unklar­heit liegt der Reiz des Films, aber auch eines seiner Probleme.

Ästhe­tisch ist der Film in jedem Fall eine Wucht. Ein überaus origi­neller und sehr, sehr schöner Film, der mit altem doku­men­ta­ri­schen Material arbeitet und es zum Teil aus den Archiven hervor­holt, es zum Teil durch Farb­ge­bung und Körnung imitiert oder seine Figuren digital in es hinein­setzt.

Die alten Aufnahmen zeigen Neapel und Südita­lien in tollen Tech­ni­color-Farben. Vieles stammt aus italie­ni­schen Filmen. Ganz groß z.B. sind Bilder, die Jungen beim Baden im Meer zeigen. Die tauchen da unter­ein­ander weg, jagen Fische und dann Oktopusse, fangen sie, essen sie auch frisch und lebendig, töten sie, all das ist heute weniger sinnlich verlo­ckend und vermut­lich nicht mehr politisch korrekt.

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Dies ist also Elena-Ferrante-Land. So wie diese Filme hätte mal die Verfil­mung von Ferrante sein sollen. Zugleich sind dieses Buch und seine Handlung als solche überaus dürftig, altbacken, und nerv­tö­tend in ihrem Sche­ma­tismus. Man weiß bei den aller­meisten Figuren sofort, was mit ihnen los ist, wo sie stehen. Und sie ändern sich den ganzen Film über nicht, sondern sind statisch.
Alle Menschen bleiben hier am Ende Gefangene ihrer Klasse: Die höhere Tochter des Bürger­tums, die Martin zähmen will, das Arbei­ter­mäd­chen, das ihn einfach anhimmelt und mit ihm bis ans Ende der Welt gehen würde, der klein­bür­ger­liche Schwager mit seinem primi­tiven Aufstiegs­wahn und seinem Auto­ri­ta­rismus. Wir haben Klein­bürger mit ihrem Hass aufs Indi­vi­du­elle, ihrem Hass auf die Kunst, während die Arbeiter das bewundern. Die Eigen­tü­merin des Kram­la­dens gibt Kredit, aber nicht mehr, als sie mitbe­kommt, dass er Schrift­steller ist und dass er Sozialist sein soll.
Der latente Faschismus der Klein­bürger, die Gewalt­be­reit­schaft und ein Frau­en­bild, wo Frauen in diesem Film den Mann am Ende vor allem stören. Sie sind gut, wenn sie seine Diene­rinnen sind, den Haushalt für ihn machen, und Elena ist zwar die große Liebe von Martin Eden, ist es aber offenbar nicht wert, dass er irgendwas für sie aufgibt. Das Werk ist wichtiger.

Schließ­lich ist dies wieder einmal erkennbar ein sehr ameri­ka­ni­scher Stoff. Im Prinzip geht es auch hier um das Selbst­mit­leid eines ameri­ka­ni­schen Mannes: Einmal mehr sieht man einen jungen Mann, der seine Umgebung und alle möglichen anderen Menschen dafür verant­wort­lich macht, was mit ihm passiert und die Verhält­nisse. Das Männer­bild ist genauso frag­würdig wie das Frau­en­bild, und es gibt auch Deus-ex-machina-Momente, etwa, als es Martin ganz schlecht geht, kommt plötzlich eine positive Antwort eines Verlegers. Oder auch Maria, die verwit­wete Mutter mit den zwei Kindern, die ihn aufnimmt und ihm Unter­kunft und Essen gibt, ohne etwas von ihm zu wollen.
Da hätten sie mal besser »Die Kartause von Parma« verfilmt.

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Es gibt so verschie­dene Fahr­rad­wege vom Palazzo de Cinema zum Maleti oder zu anderen Cafés, Bars und Restau­rants auf der Via Santa Elisa­betta. Es gibt einen Weg, den ich mit Michael öfter gefahren bin, der am Afrika entlang­führt, und jedes Mal, wenn ich da lang fahre, denke ich an Michael und auch daran, wann es wohl für mich mein letztes Mal sein wird, dass ich hier entlang fahre.

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Sonne, Nebel, Shake­speare. Ein Schlacht­feld am nächsten Morgen. Es herrscht Bürger­krieg. Schotten und Walliser gegen den König. Heinrich IV. hat Chaos gesät. »You must be King« sagt man dem Kron­prinzen, der es nicht sein will, am Ster­be­bett. »The King needs rest.« – »He soon will have it.«
Hass auf den Vater – viel­leicht ist dies die europäi­sche Note. Dann zeigt der Film The King von David Michod (Animal Kingdom) die Krönung. Die Krönung ist toll, der König wird ganz nackt gesalbt und man bekommt ein Gefühl für die Kraft der Rituale und charis­ma­ti­sche Momente.
Bald sieht man, wie die Macht den, der sie innehat, verändert. Es gibt Geschenke zur Krönung, etwa aus Byzanz einen mecha­ni­schen Vogel – »unnatural mechanism from the edge of Chris­tendom«. Und Weis­heiten wie »Great Reforms are best acted with regime change.« oder »No one ever speaks the truth at court.«

The King ist eine Melange aus histo­ri­schen Fakten und Shake­speares Dramen »Henry IV.1«, »Henry IV.2« und »Henry V.« Bald gibt es Krieg gegen Frank­reich, Falstaff und dazu einen irren Dauphin von Frank­reich, den Robert Pattinson spielt. Dann die Schlacht von Azincourt mit Morgen­s­tern und Matsch. Und zum Sieg die von Johnny Depps Tochter gespielte kluge Prin­zessin: »All monarchy is ille­gi­ti­mate«

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Heinrich V. ist der Superheld des engli­schen Mittel­al­ters. Shake­speare hat ihn verklärt. Auch er wird nun in diesem Film auf den Boden der Tatsachen zurück­ge­holt. Stilis­tisch ist das grob und gritty, pur und schmutzig.
Der Film zeigt, wie aus dem Prinzen der König wurde. Und wie aus dem Krieg der Frieden kommt: »This is how peace is achieved. It is achieved in victory.«
Sieben Jahre nach Azincourt aller­dings war der König tot und es kam Jeanne d’Arc.

(to be continued)