01.10.2019

Noch einmal Sommer

Roberto Gavaldon-Retrospektive
Grund genug, nach San Sebastián zu fahren: die Roberto Gavaldón-Retrospektive

Zum Auftakt des Filmfestivals von San Sebastián – Notizen aus San Sebastián, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

»Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß./ Leg deinen Schatten auf die Sonnen­uhren,/und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;/ gib ihnen noch zwei südli­chere Tage,/ dränge sie zur Voll­endung hin, und jage/ die letzte Süße in den schweren Wein.«

Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris

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Zehn Tage lang noch einmal Sommer, südliche Tage, tolles Essen und gute Filme. Das sind die Aussichten. Das Inter­na­tio­nale Film­fes­tival San Sebastián ist unter den großen europäi­schen »A-Festivals« das viert­wich­tigste der Welt, unbedingt wichtiger, als das vor allem von den Deutschen immer stark über­schätzte Festival von Locarno, das nicht nur durch seine Nach­wuchs­las­tig­keit sehr einseitig wirkt.
Dies ist in allen Reihen eine pracht­volle Bühne des Autoren­kinos und seiner neuesten Tendenzen. Insgesamt ist alles hier aller­dings auch etwas weniger expe­ri­men­tell – insofern für den Arty-Farty-Teil der Cine­philen und Film-Buffs weniger inter­es­sant, fürs etwas breitere Publikum aber inter­es­santer, weil alles weniger elitär wirkt.
Es gibt zwei Wett­be­werbe, den großen um die »Goldene Muschel«, der anständig ist und quali­tativ viel besser als der von Locarno, und den kleineren »Nuevos Direc­tores« mit ersten und zweiten Filmen. Da findet man – das verbindet San Sebastián mit Locarno – oft die inter­es­san­teren Filme, Entde­ckungen, und man lernt ein paar Filme­ma­cher kennen, die man später in den Wett­be­werben von Cannes und Venedig wieder trifft. In Berlin weniger; bisher jeden­falls.
Und dann eine Art Schau­fenster zu den neuen Filmen aus Spanien und aus Latein­ame­rika. Es lohnt sich. San Sebastián ist also ein schönes und gutes, oft groß­ar­tiges Festival. Mehr noch aber: Es ist eine sehr schöne und groß­ar­tige Stadt. Vor allem darum, reden wir mal nicht drum herum, fahre ich seit vielen Jahren gern hierher.

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In San Sebastián schaut man immer auch Retro­spek­tive – nicht nur als Cine­philer. Wo gibt es das sonst, eine einer Person gewidmete Retro­spek­tive? Allein Grund genug, hierher zu fahren. Früher waren es drei Retro­spek­tiven, dann noch zwei, neuer­dings ist es nur noch eine. Statt­dessen viel Quatsch: Kuli­na­ri­sches Kino. Nächstes Jahr, wenn diese Kosslick-Idee bei der Berlinale glück­li­cher­weise wieder abge­schafft wird, ist San Sebastián das einzige Festival mit so einer Sektion.
Diesmal geht es in der volls­tän­digen Autoren­retro um den Mexikaner Roberto Gavaldón. Der Filme­ma­cher war der erste mexi­ka­ni­sche Regisseur, der für einen Oscar nominiert war. Über 50 Filme hat er als Regisseur gemacht, leider ist die Retro alles andere als komplett: Nur 25 Filme werden hier gezeigt.
Das mexi­ka­ni­sche Kino kennen wir, heute, wo Alfonso Cuarón, Alejandro González Iñárritu, Guillermo del Toro und Carlos Reygadas fort­wäh­rend in den Wett­be­werben von Cannes und Venedig laufen, wenn sich mit Michel Franco und Amat Escalante bereits die nächste Gene­ra­tion etabliert hat.
Das mexi­ka­ni­sche Kino kennen wir also. Aber kennen wir auch seine Geschichte? Und was kennen wir von ihr? Die mexi­ka­ni­sche Film­ge­schichte ist extrem reich­haltig, aber man muss sie eben auch erzählen. Dies ist dafür ein Anfang.
Inter­es­sant wird es sein, diese Filme mit den Sachen zu verglei­chen, die zur selben Zeit bei den Ameri­ka­nern gemacht wurden. Denn klarer­weise haben sich die Mexikaner stark an Hollywood ausge­richtet. Aber auch mit den Europäern wird man Vergleiche anstellen. Buñuel und Eisen­stein haben in Mexiko gear­beitet. Hat das Spuren hinter­lassen?
Gavaldóns Filme sind auch Genre­filme in einer Zeit, in der das Genre noch mehr als heute oft das wahre Autoren­kino in sich barg. Es war dann ein Mittel, um klan­des­tine Inhalte wie Contra­bande, wie Schmug­gel­ware direkt ins Bewusst­sein der Zuschauer und vor allem in ihr Unter­be­wusst­sein zu schmug­geln.

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Ich freue mich auf diese Retro, aber schon auch auf einiges im normalen Programm. Die neuen Filme von Alejandro Amenábar und Malgorzata Szumowska. Der zweite Wett­be­werb der »Nuevos Direc­tores« ist oft gut. In den »Hori­zontes Latinos« und in der »Best of Festivals«-Reihe, den Perlas, kann ich einiges nachholen. Ein Stammgast ist der argen­ti­ni­sche Schau­spieler Ricardo Darín, der angeblich alle jungen Mädchen seines Landes und ihre Mütter und Großmütter in Leiden­schaft versetzt, egal was für Filme er macht.
Und dann ist da natürlich die Serie »Nisman«, die von den Berliner Gebrüdern Beetz produ­ziert wurde. Eine Doku-Serie, die wie ein Polit-Thriller funk­tio­niert, und die nach ihrer Premiere vor allem in Argen­ti­nien im Vorfeld der Wahlen für poli­ti­schen Wirbel sorgen dürfte.

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Die Anreise nach San Sebastián ist immer ein Abenteuer. Man fliegt mit Zwischen­stopps, ich diesmal mit Iberia über Madrid. Und dann nach Bilbao, weil der direkte Flug nach San Sebastián zu teuer ist. Von Bilbao geht es dann mit dem Bus, eine gute Stunde an der Küste entlang.
Ich beschreibe immer wieder gern diese Busfahrt. Die Land­schaft ist so anders, als sie sich alle vorstellen, die noch nicht hier waren; so anders als man denkt, dass Spanien aussieht. Bergiges waldiges Gelände, manchmal richtig steile Kurven, manchmal richtig tiefe Täler, grobe Felsen. Es sieht alles eher wie Bayern aus oder ein anderes Voral­pen­ge­biet, und man kann sich gut vorstellen, wie sich im frühen Mittel­alter die christ­li­chen Ritter hierhin zurück­ge­zogen haben und dann ein paar Jahr­hun­derte in den Bergen warteten, bis sie zur Recon­quista ins Tal zogen, um die Araber zu vertreiben.

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Das Recht­schreib­pro­gramm im Smart­phone macht aus Basken Spasten. Aber nur heute, nur am ersten Tag. Schon morgen wird es das neue Wort gelernt haben.
Die baskische Küste schön rau und wild. Das Meer ist immer bewegt. Gleich­zeitig gibt es hier auch abends noch 24 Grad, hohe Luft­feuch­tig­keit und trotzdem Wind. Dass die baskische Sprache schön ist, behaupten nur Basken.

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Vorher war ich in Osnabrück. Ein Kontrast, ohne Frage, und dann wieder auch nicht. Dort lief mein Film Hitlers Hollywood, und es gab am Theater eine Diskus­sions-Veran­stal­tung zum Thema »Nazi-Parodien in Film und Theater«. Und am Schluss eine Lokal-Oase namens »Tiefen­rausch«, mit Augus­tiner-Bier im Norden.

Die Anfahrt von dort war ganz schön nervig, weil sich alles in die Länge gezogen hat, und ich saumüde war: Aufge­standen um 6:30 Uhr und dann um 7:23 Uhr mit dem Zug zum Hamburger Flughafen; ich wollte auf Nummer sicher gehen. Am Flughafen Hamburg ein Interview für 3sat-»Kultur­zeit« zur Erklärung zum Fall Mendig und dem zivil­ge­sell­schaft­li­chen Enga­ge­ment gegen Rechts.

Vorher noch Ziga­retten und Hals­ta­bletten gegen Husten, trotz Vorahnung keine Klamotten im Hand­ge­päck, dann ist es passiert: Der Koffer ist zwischen Madrid und Bilbao hängen­ge­blieben und kommt erst am nächsten Tag im Hotel an.

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Am ersten Abend, bevor das Festival losgeht, gehe ich einmal am Hafen essen, auch wenn die Restau­rants hier Touris­ten­fallen sind. Man kann nicht viel falsch machen, wenn man »Tomate y Atún« und dann noch gegrillten Thunfisch bestellt; nur zu viel bezahlen. So war es dann auch.
In diesem Restau­rant habe ich vor acht Jahren einen Abend verbracht, an den ich seitdem immer wieder denken muss, wenn ich hierher komme: Sara Brito, Freundin und Jour­na­listin, und seiner­zeit bei »El Público« eine der 20 führenden, vor allem eine der jüngsten Film­kri­ti­ke­rinnen Spaniens, hatte mir da erzählt, dass sie aufhören würde. Einfach so. Es war auf dem Höhepunkt der Finanz­krise, die Spanien ober­fläch­lich tiefer erschüt­tert hatte als die Bundes­re­pu­blik. Vor allem auch die spani­schen Medien. Was Sara wohl macht? Ich hatte sie ein Jahr später noch mal in Madrid getroffen, da war sie schon aufs Land gezogen und auf der Suche nach etwas Neuem.

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Zur leichten Enttäu­schung wurde dann noch der Besuch im Café Artess. Dieje­nigen Leser, die mich und diese San Sebastián-Notizen seit Jahren kennen, wissen, dass dies mein Lieb­lingsort ist. Direkt neben dem Cine Príncipe gelegen, kann man hier wunderbar zwischen den Filmen einen kurzen Kaffee trinken, Leute treffen, ein paar Notizen machen, oder auch mal drei Stunden lang eine neue artechock-Notiz schreiben. Dies ist auch ein guter Treff­punkt für den Abend. Lange Jahre hatte das Café Artess, das wohl auf eine Art früher ein Gewerk­schafts- oder Genos­sen­schafts-Café für Arbeiter gewesen war, einen leicht zurück­ge­blie­benen, anti­quierten Eindruck gemacht. Es war, wie man das heute nennt, »nied­rig­schwellig« und inte­grativ. Lange Jahre hatte es den Charme der 50er Jahre bewahrt, eine Art des Wider­stands auch gegen die allge­gen­wär­tige Kons­um­kultur. Vor ein paar Jahren bereits hatte man es dann mal renoviert. Schon da wurde es nicht unbedingt schöner. Plötzlich war alles, was vorher hellbraun gewesen war und gekachelt, Weiß, Ikea-Weiß, also ein Weiß, das sehr schnell schmutzig wird.
Jetzt hat man es endgültig heraus­ge­putzt. Im Inneren stehen nun massive braune Leder­sofas mit irgendwie neo-kolo­nialer Anmutung. Die Fläche zum Rumstehen – was der Spanier manchmal gern tut, der Tourist aber nicht – ist reduziert.
Draußen sind die puren runden Metall­ti­sche durch rötliche quadra­ti­sche Holz­ti­sche ersetzt, die auch quali­tativ einfach viel schlechter sind, und schon jetzt, nach einem Drei­vier­tel­jahr an vielen Stellen kaputt.
Nichts passt mehr zusammen. Es ist ein Jammer.

Trotzdem werde ich natürlich auch diesmal um das Artess nicht herum­kommen, zumal die Bedi­e­nungen wieder gleich sehr angenehm sind, und ich Lust habe, ihnen zuzu­gu­cken.

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Danach zappe ich im Hotel durch den Fernseher. Ich bleibe hängen bei der tollen Szene in der Biblio­thek aus Inter­stellar, wenn Matthew McCo­n­aughey in einem Zeit­tunnel ist und von hinten die Bücher bewegt, und seiner Tochter zuschaut, die mal 10 ist und mal so alt wie Jessica Chastain, wenn er sich selber zuschaut in jüngeren Zeiten, dazu die sehr sehr gute Musik von Hans Zimmer – ausge­rechnet jetzt, heute Inter­stellar im spani­schen Fernsehen. Das könnte nicht besser anfangen. »Do not go gentle into that good night/ Rage rage against the dying of the light.«

(to be continued)