Slum-Tourismus und lackierte Depression |
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Gewinner der Goldenen Muschel: Paxton Winters »Pacificado« |
Schade. In die Reihe der vielen, auf ganzer Linie enttäuschenden Preisverleihungen in San Sebastián reihte sich auch diejenige dieses Jahres. Kaum ein Festival ist so sehr ein Ort des Juryversagens, des Übersehens der eigentlichen großen Filme eines Wettbewerbs, wie San Sebastián. Dieses schon methodische Juryversagen ist der Hauptgrund, warum dieses großartige Festival trotz allem immer noch gemeinsam mit Locarno hinter den großen drei unter »ferner liefen«
rangiert.
Denn auch die diesjährige Jury um Regisseur Neil Jordan hat sich für oberflächlich politische Preisvergaben entschieden und die meisten filmisch interessanten Werke links liegengelassen. Tatsächlich ist der Preis für die Deutsche Nina Hoss, die für ihre Hauptrolle in Ina Weisses Das Vorspiel als »Beste Schauspielerin« geehrt wurde (allerdings leider nur »ex aequo« mit der
Spanierin Greta Fernández), die am deutlichsten filmkünstlerische Auszeichnung.
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Es war der zweite Preis für Nina Hoss an einem einzigen Wochenende. In Hamburg gab es nämlich den Douglas-Sirk-Preis beim Hamburger Filmfest. Der Theaterregisseur Michael Thalheimer sagte in seiner Laudatio: »Ich kenne keine Schauspielerin, die sich so intensiv auf ihre Rollen vorbereitet wie Nina Hoss. Alles möchte sie wissen, alles möchte sie tief ergründen. Sie sucht die Diskussion und den Diskurs.«
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Gewinner des Hauptpreises der »Goldenen Muschel« ist der »brasilianische« Film Pacificado vom – allerdings! – Amerikaner Paxton Winters, der außer dem Hauptpreis absurderweise noch zwei weitere Auszeichnungen bekommen hat. Der auf semi-dokumentarische Weise über Jahre in den Favelas von Rio de Janeiro gedrehte Film ist gut anzusehen (DoP: Laura Merians), schmissig geschnitten und amerikanisiert erzählt, und insofern ein typisches
Beispiel für jenen Armuts- und Slum-Tourismus in Spielfilmform, wie man ihn seit Jahren in Festivalwettbewerben kennt.
Die Information, dass der Film von Darren Aronofsky produziert wurde, gibt manchen Lesern bestimmt eine Vorstellung, was man da erwarten darf.
Pacificado erzählt von dem 13-jährigen Mädchen Tati und ihrem Vater, die gegen die Räumung der Slums kämpfen. Lackierte Depression, dazu eingefärbt in unser aller Wissen von den politischen
Verhältnissen in Brasilien.
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Insgesamt sind diese Preise ein bisschen zu durchschaubar »politisch«: Gibt es diese drei Preise für einen brasilianischen Film nicht am Ende nur, weil – in Brasilien nun ein postfaschistischer Präsident regiert und die Filmszene dort in Aufruhr ist? Und aus Brasilien liebt man Favelas wie keinen zweiten Stoff: Cidade de Deus; Tropa de Elite, Ciudad de los hombres.
Dann ein Preis für einen baskischen Film, der von einer guten Idee ins seichte Tal der Daily Soap abrutscht: Aitor Arregi, Jon Garano und Jose Mari Goenaga sind »Beste Regisseure« bei The Endless Trench, der von einem Mann erzählt, der aus Furcht vor Verhaftung nach dem Spanischen Bürgerkrieg über 30 Jahre lang sein Haus nicht verlässt. Interessanter schon der »Special jury prize« für die Französin Alice Winocour, die in Proxima Eva Green als Astronautin auf den Mars schießt, die aber ihr Kind zurücklässt: Ein vorgeblicher Frauen-Emanzipationsfilm, der sein Anliegen doch ans Privatistische verrät. Denn die Astronautin sollte lieber Mutter sein, sich lieber ums Kind kümmern als um den Fortschritt der Menschheit.
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Gute Filme waren jene, die keine Preise bekamen, oder gar nicht im Wettbewerb liefen. Um sie geht es in den anderen Folgen unseres Tagebuchs. Verbunden wurden viele Filme durch Geschichten über Schuld und Sühne und durch das Thema Identität.
Nicht unerwartet stach der kleinere Wettbewerb »Nuevos Directores« den großen um die »Goldene Muschel« fast aus. Hier waren bekannte Namen, dort die Zukunft des Kinos.
(to be continued)