Cinema Moralia – Folge 198
Sommerspiele |
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Ein Film, der das Kino verändert hat: Matrix |
»All dies muss als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.«
Roland Barthes: »Über mich selbst«
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Es war ein ganz besonderer Sommer, der Sommer 1999. Es war der erste Sommer, in dem ich ein wirklich »professioneller« Filmkritiker war. Oder der zweite, denn eigentlich hatte schon 1998 alles richtig angefangen.
Wir saßen im alten Büro des Filmfests, Bodo Fründt und ich. Wir machten den Katalog. Ich zum allerersten Mal. Schrieben über Filme wie zum Beispiel Yu Lik-wais »All Tomorrows Parties«, »Die Liebenden des Polarkreises« von Julio Medem, »New Rose Hotel« von Abel Ferrara,
»Fin Aout, Debut Septembre« von Olivier Assayas. Es waren gute Jahre.
Im Innenhof des Stadtcafe saß ich irgendwann mit Nina Roeder, George Hickenlooper, Julia Teichmann und Jason Freeland.
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Ich weiß noch, wie wir jeden Morgen die Berichte aus Cannes lasen, in der Zeitung, denn mit dem Internet fing alles erst an. Michael Althen erzählte in der »Süddeutschen«, wie er nachts bestohlen worden war: »Man schläft im Hotelzimmer, man hat das Fenster aufgelassen – und schwachsinnigerweise auch die Fensterläden. Als man am anderen Morgen aufwacht, sind der Geldbeutel fort, die Ausweise, Kreditkarten – alles. Immerhin ist der Festivalausweis noch da – ohne
den wäre man in Cannes ein toter Mann.«
Er berichtete von »Lovers« einem französischen Dogma-Film, und vor allem von Leos Carax' Pola X, die dann beide auf dem Filmfest liefen. So leidenschaftlich, wie Michael zwei Jahre später von einem anderen Film berichtete, der nicht im Programm von Cannes lief. Warum, das ist mir heute noch so schleierhaft, wie ihm schon damals: »Amelie«, Die fabelhafte Welt der Amélie.
Es war die Zeit, als Eberhard Hauff, damals der Leiter des Filmfests, immer so schöne trashige Mottos erfand, die eigentlich hochnotpeinlich waren, aber auch schon wieder darüberweg waren, und die wir auf den Katalog aufdrucken mussten: »Das Schönste am Film sind die Frauen«, »Vom Kino besessen«, »Wer das Leben liebt, liebt das Kino«.
Welches war es in diesem Jahr? In jedem Fall war es das Jahr von Roman Polanski. Ich weiß noch, wie wir damals Polanski vor allem beschützen mussten, vor den Dämonen der Vergangenheit, die auch in München plötzlich über die Straße liefen. Der Münchner Vergangenheit meine ich. Und die Warschauer. Die Pariser. Die in Krakau. Die von Beverly Hills, aber nicht des Jahres 1977. Von »me too« sprach damals niemand. Es war eine gute Zeit, eine bessere.
Frauke Hanck kam gelegentlich zu uns
zu Besuch. Mit ihr zusammen hab ich dann Polanski interviewt und erlebt wie sie kurz polnisch mit ihm sprach. Drei Jahre später war sie tot und kurz nach einem unserer weiteren Kataloge kümmerten sich Bodo und ich um den Nachlass.
Das Filmfest-Büro lag in der Kaiserstraße. Hier war die Welt noch in Ordnung: Oben war der FFF Bayern, unten die Constantin und dazwischen das Filmfest.
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Hier in der Kaiserstraße erlebten wir auch das Championsleague-Finale des FC Bayern München gegen Manchester United. Genau gesagt: wir hörten es.
Warum ich es mir nicht angeschaut habe, auch das ist mir heute schleierhaft. Aber vielleicht war es besser, denn ich erinnere mich noch wie heute an Jubelschreie und an das Stöhnen, das die ganze Stadt erfasste, zweimal kurz hintereinander, beim zweiten Mal wie ein Kreischen.
Das waren die letzten 180 Sekunden des Spiels, die
niemand vergessen wird, der sie sah – so heißt es. Ich sah sie nicht und werde sie auch nicht vergessen. »Der Mutter aller Niederlagen« nannte die SZ dieses Finale jetzt.
Bodo Fründt ist leider auch längst tot. Er war für mich so etwas wie die Seele des Filmfests, und das Filmfest München wird ohne diese Seele nie wieder so sein, wie es war.
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Martin Blaney machte für uns die englischen Übersetzung. Er kam abends und hackte dann in die Tasten. Bodo sprach tagsüber immer von »Mr. Blaney«, und was der am Abend alles machen müsse. Ich solle ihn daran erinnern.
In einem anderen Jahr, da war das Filmfest schon umgezogen, 2001 oder 2002, übernachteten wir zwei oder drei Mal im Büro unter den Tischen. Denn in der Endphase, der letzten Woche vor Katalogschluss, überschwemmte uns die Arbeit. Bilder kamen damals oft noch nicht
digital, sondern als Dias, oder als Positivabzüge und sie wurden aus teuer gestalteten Presseheften zusammengescannt. Die Pressehefte und Bilder hatte Robert Fischer, Filmfest-Programmer, in seinem Auto aus Cannes mitgebracht. Ich habe das Auto einmal gesehen, der Kofferraum zum Bersten voll, die Hinterachse hing durch – das Fundament des »Filmbild Fundus Robert Fischer«.
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Dann gab es Doro, eine Freundin von Bodo, die manchmal mit uns abends nach der Arbeit etwas trinken ging. Ich glaube, sie war es, die uns an diesen Film erinnerte, der so gut sein sollte. Etwas Besonderes, ein Hype ging ihm voraus. Das schien interessant zu werden, wert die Arbeit zu unterbrechen.
Wir sahen Matrix am Abend, in einer späten Pressevorführung im
Cinemaxx 2, und wahrscheinlich ist es falsch, aber bis heute denke ich, dass es seitdem nie wieder einen Film gab, der so deutlich eine Wasserscheide darstellte. Es gab ein »vor Matrix« und »nach Matrix«.
Dieser Film hat das Kino verändert. Danach entdeckte man überall »Cyber-Filme«. eXistenZ von Cronenberg (über den Bodo eine SZ-Kritik schrieb, die Michael Althen so schlecht fand,
dass er Bodo ihretwegen als freien Mitarbeiter rausgeschmissen hat, die Bodo-Abneigung, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, war eines der wenigen Dinge, die ich bei Michael überhaupt nicht verstanden habe); »The 13th Floor von Joseph Rusnak, heute vollkommen vergessen, mit Armin Mueller Stahl... Der lief auch auf dem Filmfest 1999.«
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Aber was wollte der Film uns sagen? Hatte Cypher nicht recht? Was spricht gegen ein Steak, das schmeckt, auch wenn es nur Illusion ist?
Musste man Baudrillard gelesen haben? Sein Buch »Simulacres et Simulation« ist das Geheimversteck für Neos Software. Die armen Schauspieler mussten das Werk lesen, bevor sie das Drehbuch lesen durften. Eine der Kernthesen: Moderne Medien sind selbstreferenzielle Zeichensysteme, die auf nichts Konkretes mehr verweisen, sondern für sich
selbst stehen.
Aber was soll falsch daran sein, Menschen eine virtuelle Realität vorzugaukeln? Man stelle sich vor: Man nimmt eine Pille und reist virtuell nach Berlin oder München, und wir haben unsere Ruhe, die Biere kosten nur 1.50, weil Filmleute sich mehr nicht leisten können, und die Hipster liegen in London im Solarium, und machen Selfies mit Boris-Johnson-Puppen, statt Kunst in Berlin-Mitte.
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Das waren Zeiten, als das Kino noch eine neue Welt definierte.
Tut es das heute auch? Noch? Oder hat all das nur mit Jugend zu tun, damit, dass es eine andere Wahrnehmung der Welt war, ja, dass wir selber uns jünger fühlten. Und nicht nur fühlten.
Wir sahen Matrix. »Welt am Draht« sagte Frauke Hanck.
Es war der Sommer 1999 und es wird nie wieder so sein.
Aber München steht noch.
PS:
Man muss diesen Text zu Pola X von Michael Althen aus der SZ vom 15.05.1999 lesen, weil er heute, gestern geschrieben sein könnte, weil er unglaublich schön ist, weil er Lust macht zurückzureisen und alles wiederzusehen und zu erleben:
»Das Kino ist kein Trost, aber es liefert Bilder für jene Gefühle der Überwältigung, für die wir keine Erklärungen haben. ... Ein Film aus einem Niemandsland, das irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn liegt, ein Phantomfilm, der aus den Gräbern aufsteigt, kurz ins Sonnenlicht blinzelt und wieder ins Reich der Schatten verschwindet. ... Carax ist mit ›Pola X‹ wieder ein mißratenes Meisterwerk gelungen, daß wie ›Pont-Neuf‹ von dem Mut lebt, Teile
zusammenzuschweißen, die nicht zusammengehören. Dadurch entstehen Bilder und Rhythmen, die im heutigen Kino ihresgleichen suchen. Europa wird darin zu einem Märchenland, das aus sanften Wiesen und düsteren Wäldern, finsteren Ecken und berückenden Idyllen besteht. Und aus dem Osten dieses Kontinents kommt die Schwester, womöglich aus Bosnien, wo sich auch Carax in den Jahren seiner Abwesenheit zeitweise aufgehalten haben soll.
Womit der Film bei den Forderungen des Tages wäre,
wonach sich das Kino auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg auseinanderzusetzen habe. Denn natürlich ist das Auftauchen jener abgerissenen Frau, die nur noch in Bruchstücken von ihrer Vergangenheit reden kann, kein schlechtes Bild für das, was in Europa gerade passiert: Auch da sind Leute auf der Flucht, die uns plötzlich an eine frühere geschwisterliche Koexistenz erinnern. Und ›Pola X‹ erzählt von einem, der bereit ist, die Hand zu reichen – um den Preis
von Wahnsinn und Tod. Der Film ist – das muss man so sagen – ein Wunder und als solches auch genauso verst örend.«
(to be continued)