01.10.2018
66. Festival de Cine de San Sebastián 2018

Aufbruch ins Bekannte

High Life
Verdienter Kritiker-Preis: High Life
(Foto: Pandora)

Das echte Leben der kleinen Leute und das schwarze Loch der Poesie: Verdiente Sieger in einem starken Wettbewerb – Notizen aus San Sebastián, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Shall we?« – »Yes!«
Die letzten Sätze im Science-Fiction High Life

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Die sinn­li­chen Gewiss­heiten von San Sebastián sind unver­gleich­lich: Der Meeres­ge­ruch, der Wind, die Sonne, die warme Frische. 31 Grad war es hier noch Mittwoch und Donnerstag.

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»Wir lieben diesen Film« – als der Präsident der inter­na­tio­nalen Jury, der ameri­ka­ni­sche Regisseur Alexander Payne (»About Schmidt«), am Sams­tag­abend verkün­dete, wer die Goldene Muschel, den Haupt­preis beim Film­fes­tival von San Sebastán gewonnen hatte, kam großer Beifall auf – eine haushohe Über­ra­schung war dies aber nicht. Denn Entre dos Aguas (Zwischen zwei Wassern) vom spani­schen Regisseur Isaki Lacuesta war ganz bestimmt der unge­wöhn­lichste Film in einem starken Wett­be­werb, der viele bekannte Autoren­filmer aus aller Welt versam­melte: Im Mittel­punkt stehen Isra und Chelto, zwei Brüder aus ärmsten Roma-Verhält­nissen. Sie sind Mitte 20 und leben in der Hafen­ge­gend des südspa­ni­schen Cádiz. Doch die Unter­schiede zwischen den beiden könnten nicht größer sein: Chelto ist Koch bei der Marine, hat ein gesi­chertes Einkommen, eine Familie und ein geord­netes Leben. Isra dagegen ist gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden und versucht verzwei­felt und unter großen Schwie­rig­keiten, im Zivil­leben Fuß zu fassen. Was diesen Film so besonders und zu einzig­ar­tigem Kino macht, ist, wie Lacuesta die Grenzen zwischen Wirk­lich­keit und Fiction vermischt. Die beiden Brüder gibt es wirklich, sie spielen sich selbst, und vor zwölf Jahren drehte der Regisseur mit ihnen als Teenager den Film La leyenda del tiempo – schon dies war eine Doku­fik­tions-Mischung. So auch jetzt, In der Tradition des Neorea­lismus erzählt Lacuesta vom echten Leben der kleinen Leute und dreht mit Laien. Ein zutiefst mensch­li­cher Film, zudem eine virtuose Montage verschie­dener Zeit­ebenen – denn Lacuesta verwendet auch Ausschnitte seines alten Films.

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Auch die zwei anderen großen Sieger im Wett­be­werb erzählen politisch-sozial brisante Stoffe nahe an der Wirk­lich­keit: Der Phil­lip­pino Brillante Mendoza (»Spezi­al­preis der Jury« für Alpha – The right to kill) nutzt das Genre des Poli­zei­films zu einer subtilen Kritik behörd­li­cher Korrup­tion und einem genauen Blick auf die Realität des Anti-Drogen­kriegs. Und der argen­ti­ni­sche Film Rojo von Benjamin Naishtat – der neben dem Preis für die beste Regie auch für die beste Kamera und die Darstel­ler­leis­tung prämiert wurde – erzählt im Stil der Coen-Brüder von Lebens­lügen und mora­li­schen Konflikten vor dem Hinter­grund des poli­ti­schen Chaos in seiner Heimart 1975.

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Das waren alles verdiente Preise für gute Filme. Trotzdem gingen die verträum­teren, poeti­schen, auch erzäh­le­risch gewag­teren Stoffe demge­genüber leer aus: Besonders Juliette Binoche hätte man einen Preis gewünscht. Sie spielt sehr unter­schied­liche Haupt­rollen in den Filmen Vision von der Japanerin Naomi Kawase und High Life von Claire Denis. Vision spielt in einer groß­ar­tigen unberührten Wald­land­schaft und lebt vor allem von der Sinn­lich­keit der Natur.
Ein bisschen zu konstru­iert in seinem Personal ist die Geschichte um eine Französin (Binoche), die hier einer myste­riösen Pflanze auf der Spur ist und eine alte blinde Schamanin besucht und einen Wald­schützer. Dass ihr Vornahme Jeanne an die Jungfrau von Orleans erinnert, hilft nicht – aber Kawases offene, frag­men­ta­ri­sche, luftige Erzähl­weise ist so souverän wie fesselnd. Ein spiri­tu­eller Film, wie er nur in Japan möglich ist.

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Das krasse Gegenteil ist High Life: Die Französin Claire Denis (Beau travail – Der Frem­den­le­gi­onär) hat diesmal einen Science-Fiction gedreht.
Auf den Spuren von 2001 – Odyssee im Weltraum und Solaris begleitet man ein erstaun­lich verschmutztes Raum­schiff auf einer jahr­zehn­te­langen Reise ohne Wieder­kehr. Binoche spielt eine eiskalte Ärztin und Wissen­schaft­lerin, die an Bord Expe­ri­mente macht und im Weltraum ein Kind zeugen will. Roger Pattinson spielt den Vater. Es gibt Mord und Totschlag an Bord, und eine spek­ta­kuläre Reise durch ein Schwarzes Loch, dessen Bilder der islän­di­sche Kult-Künstler Olafur Eliasson beisteu­erte. Doch Vater und Tochter überleben alles.

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Es ist nun überhaupt kein cine­philes Publikum in San Sebastián, sondern ein ziemlich igno­rantes. Egal. Die Klatsch­be­reit­schaft zu Beginn – wo Menschen sich schon vorher in Position setzen, nur um dann recht­zeitig loszu­legen – korre­spon­diert mit der Bereit­schaft, dann bereits bei den ersten Sekunden der Credits ganz schnell aufzu­stehen und den Saal zu verlassen.
Bei Claire Denis waren, als die Credits zu Ende waren, von den 1500 Leuten noch genau fünf im Saal: Kollegin Pamela Pienz­obras und ich, ein Roll­stuhl­fahrer und sein Betreuer, und ein Mitglied des Filmteams.

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Für seine vielen Einfälle gewann High Life immerhin verdient den Kritiker-Preis – ein sehr schöner, ganz ruhiger, verträumter Film, manchmal etwas im Halb­schlaf, aber immer dann reißt die Regis­seurin die Zügel zusammen.
Und es war auch der Film mit dem schönsten Schluss­dialog: »Shall we?« – »Yes!«

(to be continued)