19.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Wo liegt die Wahrheit hinter dem »weib­li­chen Blick«?

Der Leopard
Wahlverwandtschaft: Hirokazu Kore-edas Shoplifters

Großzügigkeit und Freundschaft – der Wettbewerb von Cannes geht zu Ende. Viele Filme zeigten Wärmezonen im Turbokapitalismus – Cannes-Notizen, 10. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Kristin Stewart, Léa Seydoux, und vor allem Cate Blanchett – heute Abend ist die Stunde der Wahrheit, nach der werden wir dann wissen, was man unter einem weib­li­chen Blick auf das Kino tatsäch­lich verstehen muss. Wird eine mehr­heit­lich klar mit Frauen besetzte Jury in ihrer Entschei­dung aus den 21 Filmen im Wett­be­werb tatsäch­lich einen Unter­schied machen, ein ganz anders gestal­tetes Preis­bou­quet kreieren? Wird sie nach äußeren Kriterien entscheiden, geschlech­ter­po­li­tisch oder margi­na­li­sierte Regionen bevor­zugen – oder gerade nicht? Oder geht es am Ende tatsäch­lich um das, worum es doch ausschließ­lich gehen sollte bei einem Kunst­fes­tival: Um die ästhe­ti­sche Qualität der Filme und die künst­le­ri­sche Leistung der Filme­ma­cher.
Und was könnte »weib­li­cher Blick« eigent­lich überhaupt bedeuten? Dass endlich wieder eine Frau die Goldene Palme erhält, 28 Jahre nach Jane Campion? Oder viel­leicht ein älterer Mann, weil er von einem jungen Mann erzählt, der mit absoluter Sicher­heit weiß, dass ein gleich­alt­riger Bekannter einen Frau­ense­ri­en­mörder ist – da er dies aber nie und nimmer beweisen kann, nimmt er das Gesetz in die eigene Hand, tötet den Massen­mörder und rächt nebenbei den Mord an seiner Freundin. Der Koreaner Lee Chang-dong, ein bekannter Autoren­filmer erzählt genau diese Geschichte in seinem Wett­be­werbs­bei­trag Burning – ein hervor­ra­gender Film, der trotzdem eher keinen Preis bekommen dürfte, weil er zu sperrig ist, zu beiläufig, nie um Applaus giert.

+ + +

Sollte eine Frau die Goldpalme gewinnen, dann wäre Alicia Rohr­wa­cher favo­ri­siert, die erst 36-jährige Italie­nerin, deren Film Lazzaro felice einer der wenigen Wett­be­werbs­filme ist, die ich verpasst habe. Nach allem, was man hört – ich kann da zum Beispiel Lukas Sterns tollen Text auf critic.de empfehlen – steht diese Heili­gen­ge­schichte in der besten huma­nis­ti­schen und ästhe­ti­schen Tradition des großen italie­ni­schen Nach­kriegs­kinos, besitzt zudem eine Menge Humor, und erzählt von der Möglich­keit des Glücks in einer Wahl­ver­wandt­schafts-WG, mit einem Hauch von Aussteiger-Trost. Beide Filme verbindet, dass sie vom Turbo­ka­pi­ta­lismus der Gegenwart erzählen und von dessen Folgen in den jewei­ligen Ländern.
Darum geht es auch bei The Shop­lif­ters vom Japaner Hirokazu Kore-eda: Gestran­dete der Gesell­schaft, die dem hohen sozialen Druck der japa­ni­schen Gesell­schaft nicht genügen, bilden ein Wahl­ver­wandt­schaft-Patchwork: Zwei junge Frauen, zwei verwahr­loste Kinder, die von ihren prügelnden Eltern fliehen, ein Klein­kri­mi­neller und eine alte Frau, die nicht alleine sterben will. Kore-eda insze­niert im Einzelnen großartig, besonders die Kinder, und formt im Ganzen das Bild einer versa­genden Gesell­schaft, das ahnen lässt, welches Unheil Normie­rungs­zwang und tech­no­kra­ti­sche Insti­tu­tionen anrichten.

+ + +

Ich hoffe, dass Nadine Labaki für ihren Film Capernaüm, über den wir in den nächsten Tagen noch mehr schreiben werden, keinen Preis bekommt. Der Film über Kinder aus den Slums von Beirut »funk­tio­niert«, ist schlau und technisch avanciert gemacht. Ob ich ihr das Enga­ge­ment abnehmen soll, weiß ich nicht. Eher ist dies eine zynische Kalku­la­tion auf eine Palme. In jedem Fall aber ist Capernaüm klas­si­sches Exploita­tion-Kino. 500 Stunden hat Labaki gedreht, konnte man erfahren. Ihre Haupt­figur ist ein zwölf­jäh­riger Junge. Der rettet erst das Baby einer äthio­pi­schen Geflüch­teten, und verklagt dann seine Eltern. Labaki liegt kluge, enga­gierte Worte in den Mund des Jungen, zu weise Worte.
Aber diesen Vorwurf, da müssen wir ehrlich sein, könnte man auch manchem Neorea­listen machen. Erkennbar setzt Labaki auf die senti­men­talen Gefühle des breiten Publikums gegenüber einem Kind.

+ + +

Viele andere Filme erzählten Geschichten aus der Vergan­gen­heit: Der wohl beste unter ihnen stammt vom Russen Kirill Sere­bre­n­ikov, der bereits in Stuttgart und Hamburg Opern insze­nierte, und als Putin-Gegner derzeit unter Haus­ar­rest gestellt ist. Sein Film Leto über den jugend­li­chen Aufbruch im Leningrad der frühen 80er Jahre, ist »ganz großes Kino«, und hält nach wie vor einen der Spit­zen­plätze in den Besucher-Umfragen über die besten Filme. Daneben führen der Chinese Jia Zhang-ke und der Franzose Stéphane Brizé: Dessen Film »En guerre erzählt nüchtern und halb­do­ku­men­ta­risch von einer Handvoll Gewerk­schafts­führer, die einen Streik von über 1100 Fabrik­ar­bei­tern orga­ni­sieren.«

+ + +

Das inhalt­liche Leitmotiv vieler Filme war in diesem Jahr Groß­zü­gig­keit und Freund­schaft: Man sah viele Menschen, die sich großzügig und human verhalten. Man sah viele soziale Netzwerke. Auffal­lend gut war die Musik­aus­wahl vieler Filme, und immer wieder spielte das Feuer eine besondere Rolle.
Auch um das Böse ging es, die Frage nach dem Guten in dieser Welt.

+ + +

Wir sind alle in einem Zombie-Zustand. Dafür sorgen auch Filme wie Ayka von Sergeij Dvorts­evoy. Mein Körper hat diesen Film von Anfang an zurück­ge­wiesen, und nach etwa zehn Minuten gab ich dem nach, und verschlief den kompletten Film. Immer wieder wachte ich kurz auf, wenn besonders laut geschrien, gejammert oder geschimpft wurde – hängen blieb der diffuse Eindruck einer Tour de Force des Emotio­na­li­sie­rens.
Der Vorteil dieses Schlafs war, dass ich für den letzten Film im Wett­be­werb, den dreis­tün­digen Ahlat agaci von Nuri Bilge Ceylan (Winters­leep), der auch eher zu den slow burnern gehört, frisch ausge­schlafen und mehr als gerüstet war.

+ + +

Mit dem in Paris lebenden israe­li­schen Film­kri­tiker Ariel Schweitzer sprach ich nach dem Film über die Qualität des Wett­be­werbs. »Es ist nicht schlimm, dass die Ameri­kaner weg sind«, sagte Ariel und vertei­digte den Cannes-Kurs einer sachten Verän­de­rung: »Die Stars braucht Cannes nicht, Frémaux muss so weiter­ma­chen, die Jungen holen.« Auch das poli­ti­sche Vorgehen gegen Netflix finden wir beide gut. Um die Position des Festivals nun aber gegenüber der quen­gelnden Industrie zu unter­mauern, wird es wichtig sein, dass die Palme in diesem Jahr nicht an einen Film geht, der das Gegenteil von aller Vermarkt­bar­keit ist.

(to be continued)