06.07.2017
34. Filmfest München 2017

Hangover

A Fábrica de Nada
Nur fünf Minuten Musical: im Programm verstecktes Meisterwerk A Fábrica de Nada von Pedro Pinho
(Foto: Grandfilm GmbH)

Das Programm ist viel besser als sein Filmfest. Bemerkungen zum Versäumten und den Versäumnissen des 35. Filmfests

Von Dunja Bialas

Das Programm ist viel besser als sein Filmfest. Einige abschließende Bemer­kungen zum Versäumten und den Versäum­nissen des 35. Filmfests

Über das Bran­chen­pu­blikum des Münchner Filmfests wurde an dieser Stelle ja schon geschrieben. Über dessen Ungeduld, über dessen Ignoranz. Der Geld­beutel ist dick und sitzt tief in der Tasche. Das soll so bleiben, deshalb will man in München auch immer die Erfolgs­nach­richten. Erfolg heißt Geld, und das Rezept heißt: Wer hat, dem wird gegeben.

Das Filmfest München macht mit seinen drei Kuratoren Florian Borchmeyer, Christoph Gröner und Bernhard Karl ein erstaun­lich mutiges Programm. Wenn man zurück­denkt an die Zeit, als Andreas Ströhl noch seine privaten Vorlieben ins Programm hieven konnte, zeigt sich, wie un-weich­ge­spült, auch kompro­misslos die Reihen sind außerhalb der deutschen Reihe, die Premieren verlangt. Aber selbst hier konnte man starke Film­spra­chen entdecken: RP Kahls A Thought of Ecstasy war ein im Zwischen­be­reich von Kunst und, ja, nehmen wir das P-Wort in den Mund, Porno­gra­phie ange­sie­delter Fieber­film, irgendwo zwischen Bruno Dumonts 29 Palms und den Streifen von Eckhart Schmidt, die oft auch etwas Seifiges an sich haben. Der lange Sommer der Theorie von Irene von Alberti gab dazu den Kontra­punkt: Eine flirrende Wort- und Sinnsuche, Utopie einer anderen Existenz, mit doku­men­ta­ri­schen Interview-Momenten und Film im Film, ohne Angst, dass die Figuren zu künstlich sein könnten. Gäbe es einen Kult-Comic über die WGs im Stil der 68er, Der lange Sommer der Theorie wäre seine Verfil­mung. Zwei Filme mit zwei unter­schied­li­chen Gedanken, beide glei­cher­maßen ideen­reich und kompro­misslos in ihrer Ausfüh­rung. Starkes Kino aus Deutsch­land, das wachmacht. Und zumindest hier profi­tiert München vom Tief­schlaf, in dem sich die Berlinale befindet.

Spotlight on: Es ist dunkel im Programm

Das Münchner Filmfest ist ein Publi­kums­fest, was erstmal nichts weiter heißt, als dass auf Premieren, die das Programm bisweilen in der Not quali­tativ nach unten drücken, verzichtet werden kann. In Teilen aber liest sich das Filmfest-Programm wie die Preview-Reihe der anderen beiden Sommer-Film­fes­ti­vals der Region, des Fünf-Seen-Film­fes­ti­vals und der Münchner Film­kunst­wo­chen, die dem Publikum vorab Filme der kommenden Saison zeigen. Dass so The Beguiled in einer Filmfest-Pres­se­vor­füh­rung wenige Tage vor Kinostart zu sehen war, hat eventuell auch etwas mit der PR-Maschine des Verleihs zu tun. Was dann viel­leicht aber auch die Sofia-Coppola-Retro erst möglich gemacht hat. No hard feelings.

Die Frage, die sich nach dem Filmfest wie in einem Moment des Hangover jedoch ergibt, ist, ob das Filmfest nicht die span­nenden Ecken seines Programms (absicht­lich?) im Dunkeln hält. Zu sehr wird das »Spotlight«, wie eine Filmfest-Reihe heißt (von der hinter vorge­hal­tener Hand sogar aus dem inner circle abgeraten wird), für die Öffent­lich­keit auf die bekannten Namen oder gar Stars gerichtet. Filme ans Licht zu zerren, die man für die Münchner Presse oder das Publikum als eher unbequem einschätzen würde, könnte die Aufgabe einer anderen Art der Pres­se­ar­beit sein. So war es mehr oder minder Zufall, in dem umfang­rei­chen Programm ohne Vorre­cherche glücks­brin­gende Entde­ckungen gemacht zu haben. Und es stellt sich das für das Filmfest durchaus schmei­chel­hafte Gefühl ein, dass einem wohl viele spannende Filme des Programms durch die Lappen gegangen sind.

Nicht ganz unschuldig ist dabei das Heft, das seit letztem Jahr den Katalog ersetzt. Es bietet ohne Filmo­gra­phie oder Biogra­phie der Regis­seure kaum Orien­tie­rung. Für das Filmfest, das zusam­men­trägt, was woanders schon lief, wäre es ein leichtes, den Ort der Welt­pre­miere oder die gewon­nenen Preise aufzu­führen, auch das gäbe zumindest Ahnung, wo die Filme anzu­sie­deln seien. Über die Inhalts­an­gaben müssen wir nämlich nicht reden, die sind, mit Verlaub gesagt, inhalts­leer. Teils sind sie falsch, teils irre­füh­rend, geben kaum ästhe­ti­sche Anhalts­punkte. Obwohl sie die Kuratoren laut Impressum selbst verfasst haben.

Licht­punkte

So verste­cken sich dann die Meis­ter­werke zwischen beschrie­benem Papier. Ein Beispiel: A Fábrica de Nada des Portu­giesen Pedro Pinho. Der Film ist ein Grenz­gänger zwischen Fiktion und Doku­men­tar­film, eine Parabel mit Genre­an­leihen an das Musical und den Polit­thriller, mit Film-im-Film-Momenten. Übrig blieb im Katalog: ein Musical. Es gibt genau eine einzige kurze Musical-Szene, die ist eine halbe Stunde vor Ende des dreis­tün­digen Films, und ich habe viele gespro­chen, die nicht den Mumm hatten, ein derart langes portu­gie­si­sches Musical zu riskieren. Dabei gereicht der Film an Miguel Gomes' Aquele Querido Mês de Agosto heran, und er ist einer der reichsten, schönsten und verzwei­feltsten Filme zur Finanz­krise mit einem diskurs­füh­renden Prole­ta­riat. Dieses versucht, eine Fabrik zu retten, die ihre Bestim­mung verloren hat: die Fabrik des Nichts. Der Film gewann den Cine­vi­sion Award des Filmfests, aber der späte Spiel­termin um 22:30 Uhr nach Festi­val­schluss hat ihm bestimmt kaum noch Zuschauer einge­bracht.

Denn natürlich geht es um Zuschauer. Ein Festival in der Größen­ord­nung des Filmfests ist einem gewissen Recht­fer­ti­gungs­druck ausge­setzt, das geht ja jetzt auch auf die kleinen Festivals los. Das ist der Neoli­be­ra­lismus der Kultur. Das erklärt auch, warum man die Presse nicht auf die fast unge­wöhn­li­chen Kine­ma­to­gra­phien ansetzt, lieber beim Bewährten, Bekannten bleibt. Die Zuschauer des Festivals wiegen stärker als sein Programm. Und obwohl man es bietet, traut man es dem Zuschauer nicht zu. Das ist die Paradoxie des Filmfests.

Es muss ja auch nicht immer sperrig oder expe­ri­men­tell sein, um gut zu sein. São Jorge des Portu­giesen Marco Martins befasste sich ebenfalls mit der Finanz­krise, auf wuchtig-direkte Art des Genre-Kinos. Dessen Haupt­dar­steller Nuno Lopes, in Venedig mit dem Darstel­ler­preis ausge­zeichnet, durch­läuft zuerst als Boxer, dann als Schul­den­ein­treiber eine Tour de Force durch die rand­stän­digen Bezirke Lissabons. Die Kamera richtet sich immer wieder auf die archi­tek­to­ni­schen Laby­rinthe der trost­losen und verfal­lenen Vorstädte. Er ist das Vehikel, das durch die herun­ter­ge­kom­mene Sozia­lität führt, einer, der sich selbst an den Abgrund bringt, und gleich­zeitig versucht, seine kaputte Familie wieder zusam­men­zu­bringen. Starkes Erzähl­kino auf hohem filmi­schen Niveau, das nicht gleich­gültig lässt, das man hier­zu­lande jedoch vergebens im Kino erwarten wird. Für portu­gie­si­sche Filme gibt es eben kein Publikum an den Kino­kassen, und schon gar nicht für portu­gie­si­sches Genre.

Das Filmfest hat sich als Schule des Sehens versucht, mit der Plat­zie­rung von Claire Denis' Un beau soleil intérieur als Eröff­nungs­film. Viel­leicht hat man aber auch nur darauf gehofft, mit dem Film Juliette Binoche nach München zu bringen. Am verka­terten Day after (apropos: wie schön, dass Hong Sang-soo so viele Filme dreht, The Day After war nun schon mein dritter in diesem Jahr und wieder einmal reinste Poesie der Wieder­ho­lung), am Tag danach also stellt sich der Verdacht ein, dass das Filmfest gar nicht weiß, wie gut sein Programm ist. Sich aus der selbst­ver­schul­deten Dunkel­heit heraus­zu­holen, sollte ihm nächstes Jahr einen Versuch wert sein.