19.02.2017
67. Berlinale 2017

Lullaby for Film Critics

Aus einem Jahr der Nichtereignisse
Aus einem Jahr der Nichtereignisse: ein durch und durch schöner Film, auf 16mm gedreht. Programmatischer Film der Berlinale 2017
(Foto: Berlinale | Renninger, Frölke)

Die Berlinale wiegt mit sedierenden Qualitäts-Filmen in den Schlaf

Von Dunja Bialas

Oh doch, es gibt ihn: den Film der Berlinale 2017. Er heißt Somni­lo­quies, eine Wort­neu­schöp­fung aus Soli­lo­quies (Selbst­ge­spräche) und somnus (Schlaf). Die im Schlaf Spre­chenden: das könnte der Zustand der dies­jäh­rigen Berlinale-Kritiker gewesen sein. Viele Filme, die ich auf der Berlinale sah, wirkten wie ein Sedativum, das mich in so große emotio­nale Ruhe versetzte, dass ich im Dunkeln oft gegen eine unmit­tel­bare Schlaf­at­tacke ankämpfen musste. Meine eigene Schwäche folgte, unab­hängig von einer sich anbah­nenden viralen Erkältung, die mich schon am ersten Wochen­ende komplett ermattete, durchaus den Absichten der Berlinale-Programmer. Mit anderen Worten: der Kino­schlaf war Programm. »Im Kino schlafen heißt in diesem Fall, es bis ins Äußerste zu durch­dringen«, heißt es in der »Forum«-Ankün­di­gung zu Somni­lo­quies der Vorzeige-Sensory-Lab-Regis­seure Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor. Eine Auffor­de­rung zum Stream of Subcon­scious­ness, und dazu, in eigenen Träumen die Filme der Berlinale weiter zu träumen, sie sich besser zu träumen. Kino als reinste Traum­fa­brik und Sprung­brett zu Evasion und Eklipse: sich aus dem Kino ausschalten, während man im Film sitzen bleibt. Das Sedierend-Einlul­lende der Filme verhin­derte, dass die dies­jäh­rige Berlinale als Walk-out-Festival in die Annalen eingeht. Eher waren die Filme dann doch: ganz nett, aber nicht faszi­nie­rend, zu harmlos, um weh zu tun. Nicht wirklich egal, aber man brannte für keinen.

So bril­lierte das »Forum« der Berlinale, die Reihe, die ich dieses Jahr vor allem besuchte, mit einem Kino der Unent­schie­den­heit. Alles war irgendwie okay, quali­täts­voll. Kaum gab es einen Film, den man mit sich herumtrug, der einen beschäf­tigte, der in den darauf­fol­genden Tagen wuchs. Nicht einmal ein Film, über den man sich aufregte, und kaum einer, über den disku­tiert wurde, und wenn gespro­chen wurde, ließ sich das so an: Wie fandest du…? Ging so. Ja, eben. Kaum der Rede wert. Ganz schön. Aber auch ein wenig nichts­sa­gend.

Ausnah­me­re­geln

Licht­blicke darunter: das Emigholz-Tetrap­ty­chon Street­scapes [Dialogue] aus vier Filmen. Eine andere große Verheißung: eine Handvoll Filme, die auf 16mm gedreht waren. Ein wirklich tolles Retro-Programm gab es, so hörte ich, über den marok­ka­ni­schen Film (das ich wegen der »Woche der Kritik« und den dort allabend­lich statt­fin­denden »Filmen & Debatten« leider nicht besuchen konnte). Dann eine Perle des korea­ni­schen Films, die ich sah: Yu Hyun-moks Obaltan (Aimless Bullet) von 1961, ein Melodram über die gren­zen­lose Armut der Nord­ko­reaner in Seoul, der als bester korea­ni­scher Film der Geschichte gilt.

Und dann: etliche überlange Filme. Da war zunächst die Expe­ri­men­tal­film-Summa ORG, monu­men­tales, alles über­bie­tendes Avant­garde-Kino, das leich­ter­hand Gregory J. Marko­poulos, Stan Brakhage, Jean-Luc Godard und das Cinema Novo auf den Plan rief. In Italien vom Exil-Argen­ti­nier Fernando Birri 1979 gedreht, wurde das vers­tö­rende Film-Poem von der Entuziazm-Gruppe um Michael Baute, Volker Panten­burg und Stefan Pethke für das Living-Archive-Programm des Arsenal-Institut Berlin präsen­tiert.
Dann sah ich immerhin drei­einalb intensive Stunden des fünf­stün­digen Panorama-Doku­men­tar­films Combat au bout de la nuit (Fighting Through the Night) des Fran­ko­ka­na­diers Sylvain L’Espérance, eine Bestands­auf­nahme über die poli­ti­sche Situation in Grie­chen­land, die er im vergan­genen Sommer und Herbst drehte (groß­ar­tiger roter Faden ist der Aufstand der Putz­frauen, die aus dem Parla­ments­ge­bäude geschmissen wurden und lautstark ihre Arbeit zurück­for­dern). Den ebenfalls fünf­stün­digen Qiu (Inmates) der Chinesin Ma Li über eine Psych­ia­trie­an­stalt ließ ich aus, zu sehr ist mir noch Wang Bings vier­stün­diges Psych­ia­trie-Meis­ter­werk Feng ai – 'Til Madness Do Us Part (2013) gewärtig. Auch das Tetrap­ty­chon Street­scapes von Emigholz sollte man zu den über­langen Filmen zählen, denn hier gilt: hat man einen gesehen, hat man keinen gesehen. Auch wenn sie alle eigen­s­tändig funk­tio­nieren. Und irgendwie sollte man auch Hong Sangsoos Wett­be­werbs­film Bamui haebyun-eoseo honja (On the Beach at Night Alone) dazu zählen, wenn man bedenkt, dass jeder von Hongs Filmen eine neue Varia­tionen des einzigen großen Langfilms über Wieder­ho­lung, Spie­ge­lung, Umkehrung ist (auch hier gilt: hat man nur einen gesehen – wie offen­sicht­lich einige der Kritiker, die sich auf der Pres­se­vor­füh­rung zu Wort meldeten –, hat man keinen gesehen). Hier waren es zwei Teile, dessen erster in Deutsch­land spielte, und ausge­rechnet gruppiert um die allzu bekannten Festi­val­fi­guren Mark Peranson und Bettina Stein­brügge, die seit vielen langen Jahren zum inter­na­tio­nalen Jetset gehören: Peranson als Film­kri­tiker und Moderator, Stein­brügge als ehemalige Mode­ra­torin des Berlinale-»Forum« und Kunst­ku­ra­torin in Hamburg. Peranson, der den Film auf den Weg gebracht hatte und Hong die Idee gab, in Hamburg zu drehen, durfte also selbst mitspielen – das ergab einen recht dünnen ersten Teil und auch ein paar Minus­punkte für die Eitelkeit, auch wenn der korea­ni­sche Blick auf das Hamburger Kura­to­ren­paar dann wieder recht entlar­vend dessen spröde Gestelzt­heit freilegte. Der zweite Teil, der in Korea spielt und in dem sich die Dialoge mit sehr erfri­schenden Soju-getränkten Ausfällen wieder­holen, hob wieder Hong-mäßig ab. Und die Haupt­dar­stel­lerin Kim Min-hee, die zuletzt auch in Hongs Right Now, Wrong Then zu sehen war, wurde mit dem Silbernen Bären belohnt.

Aus einem Jahr der Nicht­ereig­nisse

So wie es auch zur Berlinale dazu­gehört, über das Programm zu schimpfen, kann ich im Hinblick auf letztes Jahr sagen: 2016 war ein fantas­ti­sches Jahr, 2017 war ein Jahr, das – bis auf wenige Ausnahmen – überhaupt kein Jahr war. Sondern ein Vakuum. Man denkt ja immer, dass man sie verpasst hat, die guten Filme. Hörte man sich um, zeigte sich: dem war aber nicht so. Egal, ob die kriti­schen Kritiker oder die prag­ma­ti­schen Programmer, die nach Filmen für ihr eigenes Festival Ausschau halten: überall war die Stimmung nur mau, niemand war begeis­tert, keiner nannte einen Film, den man unbedingt gesehen haben musste. Und so gut sie dann auch waren, die Ausnah­me­filme Casting von Nicolas Wacker­barth, Aus einem Jahr der Nicht­ereig­nisse von Ann Carolin Renninger und René Frölke (allein wegen des Titels ebenfalls Berlinale-Film des Jahres 2017) oder El mar la mar der Sensory-Lab-Regis­seure Joshua Bonnetta und J.P. Sniadecki: sie kamen einem schon fast wie Konsens­filme vor, so einig war man sich, wenn auch ohne große Begeis­te­rung, dass hier »Schönes« zu sehen war. So blieb viel­leicht die Entde­ckung des Forums Tinsel­wood der Französin Marie Voignier, ein verhalten ethno­gra­phi­scher Film über das Leben und die Arbeit im Regenwald von Kamerun. Viel­leicht hätte dieser Film Gesprächs­thema werden können, aber es hatte ihn kaum jemand gesehen.

Der für mich beste Film lief in der Reihe »Woche der Kritik« (veran­staltet vom Verband der deutschen Film­kritik), die nicht zur Berlinale gehört: Lass den Sommer nie wieder kommen, eine Welt­pre­miere aus der dffb-Schmiede, den wir Kritiker (Carmen Gray, Joseph Fahim, Dennis Vetter, Frédéric Jaeger und ich) ausge­wählt hatten. Ein drei­ein­halb­stün­diges Filmpoem in Pixeln, das auf der Leinwand explo­dierte und einem durch einen unfass­baren Tonschnitt den Atem raubte. Ein über­wäl­ti­gendes Film­erlebnis von gnaden­loser Radi­ka­lität, groß­ar­tigem Witz und tief­ge­hender Trau­rig­keit, schil­lernd und faszi­nie­rend, eupho­ri­sie­rend und erhaben.

Mindful­fill­ness

Man kann ja nicht sagen, das »Forum« würde sich nichts trauen. Dieses Jahr kam es einem aber so vor, als hätte man auf Nummer sicher gesetzt, ähnlich wie in den Programm-Anstalten der Fern­seh­sender. Motto: unsere Zuschauer liebten in der Vergan­gen­heit diesen und jenen Film, also bekommen sie wieder ähnliches serviert. Das »Forum-Expanded« als expe­ri­men­telle Reihe hingegen hat das Kino hinter sich gelassen und bemüht die künst­le­ri­schen Projekte auf die Leinwand. Ein über­ra­schender Tiefpunkt war Sharon Lockharts gut gemeinter und schön gemachter, dabei völlig präten­tiöser und auch sehr herab­las­sender Rudzienko über Mädchen aus einer sozi­al­the­ra­peu­ti­schen Jugend­ein­rich­tung in Polen, die malerisch in der Wiese liegen durften. Das Projekt, so wurde in der Diskus­sion klar, lag in der Arbeit vor dem Film: in sehr vielen thera­peu­ti­schen Workshops, das die Filme­ma­cherin mit den Schwer­erzieh­baren durch­führte und die alle im Abspann aufge­führt wurden. Schönster Workshop war der für: »Mindful­fill­ness«.