03.03.2016
Cinema Moralia – Folge 128

Wollen wir Murnau verbrennen?

Das Tagebuch der Anne Frank
Doch wieder nur ein Zutatenfilm, allerdings mit einer großartigen Lea von Acken : Das Tagebuch der Anne Frank
(Foto: Universal Pictures)

Her mit den Obergrenzen! Schreibt Mutti Merkel jetzt an Moni Grütters? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 128. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wäre der deutsche Film ein renom­mierter Manu­fak­tur­be­trieb für hand­genähte Schuhe, würde man ihn dafür bewundern, wie sehr die Produkte, obgleich indi­vi­duell gefertigt, einander gleichen. Wäre er eine poli­ti­sche Partei, könnte man sich beim Vorstand beschweren, warum so viele verschie­dene Menschen immer nur dieselben Phrasen benutzen.
Der deutsche Film ist nun weder das eine noch das andere, er ist, was er ist, und genau das ist sein größtes Problem. Oft scheint es so, als gäbe es da eine Software, die sich verselb­stän­digt hat, einen Algo­rithmus, der dafür sorgt, dass die Filme einander nicht nur drama­tur­gisch, sondern auch visuell so frap­pie­rend ähneln, dass die Musik so gleich­förmig klingt und die deutsche Vergan­gen­heit durch die immer gleichen Requi­siten, Kostüme und Spiel­weisen zum trivialen Genre­bild­chen gerinnt. Da ist nun keine Verschwörung der Maschinen, da sind auch keine perfiden Draht­zieher zu erkennen, doch es ist eine offenbar von niemandem gewollte und von allen akzep­tierte Matrix, nach welcher der deutsche Film funk­tio­niert – was nicht heißt, dass sich nicht gele­gent­lich auch Filme finden, die lieber dem weißen Kaninchen folgen.
Es ist daher auch keine Über­ra­schung, dass Hans Stein­bich­lers Film Das Tagebuch der Anne Frank genauso insze­niert ist und genauso aussieht, wie man sich das nicht erst nach dem Trailer vorstellen musste. Wenn man sich an den Streit um das Projekt erinnert, ist das sehr wenig; wenn man bedenkt, dass es der erste deutsche Kinofilm über Anne Frank ist, dann ist es erbärm­lich.«
– Peter Körte, FAS vom 28.2.16

Anne Frank war ein Flücht­ling. Für jede Kroko­dils­träne, die wir alle in den nächsten Tagen bei Hans Stein­bich­lers trän­su­s­e­liger Film­ver­sion des »Tagebuch der Anne Frank« verdrü­cken, sollten wir also auch ein paar Taler für eine Flücht­lings­in­itia­tive heraus­rü­cken. Inschallah!

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Wie gut geht es dem deutschen Kino? Die Jubel­mit­tei­lungen der Film­för­der­an­stalten über­schlagen sich regel­mäßig. Auch im Zusam­men­hang mit der Berlinale war zu lesen: Zuschau­er­zahlen, Markt­an­teile, Qualität – alles super!

Schaut man genauer hin, sieht es etwas anders aus: Es domi­nieren »Inhal­tismus« und Thesen­kino, also Werke, die einen »wichtigen« Inhalt meist bieder bebildern, politisch korrekt sind, und somit besten­falls als Schü­ler­vor­stel­lung taugen.
Nichts gegen Schü­ler­vor­stel­lungen. In die frag­li­chen Filme gehen aller­dings auch Schüler nur, wenn sie müssen.

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Ein krasses Beispiel für diese Tendenz: Gleich vier Filme – zweimal fürs Kino, zwei mal für Fernsehen – wurden in den letzten zwei Jahren allein zu Fritz Bauer gedreht. Natürlich verdient das Fritz Bauer: ein Nazijäger, eine wichtige Persön­lich­keit, ein poli­ti­sches Vorbild für Zivil­cou­rage – alles richtig. Aber müssen es gleich vier Filme sein, die sich zudem alle ähneln in ihrem braven Stil, und die alle komplett mit Förder- und Fern­seh­sen­der­geld finan­ziert sind?
Jahr­zehn­te­lang wurde Bauer totge­schwiegen, auch aus poli­ti­schen Gründen, jetzt diese Film-Eruption, die nur ein anderes Extrem ist. Schade.

Und nehmen wir mal genauer die ARD-Verfil­mung letzte Woche unter die Lupe. Ulrich Noethen mit meter­di­cker Maske, als wolle er Helge Schnei­ders »Führer« Konkur­renz machen. Ansonsten einer­seits beflissen: Da ist man ganz genau, bei Adenauer, bei den Wagen­typen, bei den nost­al­gie­h­ei­schenden, für uns Heutige schon leicht skurril wirkenden Alltags­gerät­schaften. Dann aber erfindet man plötzlich etwas dazu, weil Nazi-Jagd allein noch kein TV-Event macht, es braucht schon noch die Schlüs­sel­loch-Perspek­tive.

Weitere Fragen: Warum wird alles auf die Eichmann-Jagd konzen­triert? Wo doch der Auschwitz-Prozess für Bauers Biografie das eigent­lich Entschei­dende ist?

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Letzte Woche gab es einen Pres­se­termin: Besich­ti­gung des im Beton-Barock wieder­auf­ge­bauten Berliner Stadt­schlosses, einst­weilen noch im Rohbau. Die ganze Straße Unter den Linden ist im Rohbau, und wenn man die am Bauzaun ange­pinnten Fotos des Nach­kriegs-Trümmer-Berlin anguckt, fragt man sich, wie die das alles in paar Jahren eigent­lich wieder aufgebaut haben, während wir heute selbst für den Neubau – denn das Stadt­schloss ist keine Rekon­struk­tion! – schon 2010 bis 2018 brauchen? Nur daran, dass man es heute mit dem Brand­schutz genauer nimmt, kann es ja auch nicht liegen, oder?

Weitere Gedanken dazu, während ich im Pulk von ca. 40 Kollegen den zwei Minis­te­rinnen – Baumi­nis­terin und Kultur­staats­mi­nis­terin und deren nass­for­schen Pres­se­spre­chern/Staats­se­kre­tären – in lustigen quietsch­gelben Gummi­stie­feln und mit dunkel­blauem bauvor­schrifts­ge­mäßem Schutz­helm folge: Ein Schloss ist ein Bauwerk der Monarchie. Dass wir jetzt ein Schloss restau­rieren, nicht etwas komplett Neues bauen, zeigt, was für einen Begriff ihrer selbst unsere Demo­kratie hat: einen restau­ra­tiven.
Das Stadt­schloss wird auch nicht weniger Schloss, weil wir es »Humboldt Forum« nennen, doch zeigt diese Benennung das schlechte Gewissen der Entscheider.

Was würden wohl die Humboldt-Brüder dazu sagen, wie ihr Name, der Name des Denkers welt­bür­ger­li­cher Kosmo­logie und der des Denkers huma­nis­ti­scher Univer­sitas dazu miss­braucht wird, für ein neopreußi­sches Protz­pro­jekt das Feigen­blatt abzugeben.
Außen falsche Ziegel­mauern, im Innenhof von jener ratio­na­lis­tisch ange­hauchten Pastell-Unver­bind­lich­keit, steht das Stadt­schloss dann aber nicht nur für post­mo­derne Fassa­den­ar­chi­tektur, sondern für den Histo­rismus der Berliner Republik insgesamt. Man sieht ihn auch in deren Filmen.

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Wo jetzt alle von Ober­grenzen schwa­dro­nieren, fordern auch wir Ober­grenzen! Wir fordern eine Ober­grenze für Geschichts­schmon­zetten: Man weiß vor lauter Histo­ri­en­schinken und »Gedächtnis« ja manchmal gar nicht, wo man kriti­sieren soll, es hat fraglos etwas Erschöp­fendes, immer wieder das Gleiche über diese Filme hinzu­schreiben. Aber diese bleiernen Vergan­gen­heits­platten haben ja auch etwas Erschöp­fendes, sie drücken auf der Brust, bis man schier keinen Atem mehr bekommt.

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Wir fordern eine Ober­grenze für…

etwa den »Zuta­ten­filmen«: Man nehme einen Star und noch einen, nehme einen hübschen Schau­platz, sonniges Kinolicht und am besten natürlich einen Best­seller und eine klare Ziel­gruppe, fertig ist der Kinoer­folgs­ein­topf.
So kommt es dann zu Das Tagebuch der Anne Frank als Teenie-Coming-of-Age-Film – die Juden­ver­nich­tung als Kulisse für wohligen Kino­scho­cker. Auch »Das Tagebuch der Anne Frank« ist ein Best­seller, das sollte man nicht vergessen.
Oder Colonia Dignidad mit Daniel Brühl und Emma Watson – ein Hauch von Harry Potter durch­zieht auch dieses deutsche Spießer­nazi-Internat und Dschun­gel­camp im male­ri­schen Chile. Lord Waldemore war doch auch irgendwie Nazi, oder?

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Warum spielt Kino heute in den Debatten der Menschen keine Rolle mehr? Über welche deutschen Filme wird heute noch so geredet, wie vor 30, 40 Jahren? Diese Fragen beant­worten sich in den genannten Filmen.

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Die Oscar-Verlei­hung war vergnüg­li­cher als erwartet. Denn der ja grund­sätz­lich über­schätzte The Revenant war dann plötzlich trotz ungemein vieler Nomi­nie­rungen der große Verlierer des Abends, während Spotlight und Mad Max – Fury Road die über­ra­schenden Gewinner waren. Diese plötz­liche Liebe zu Mad Max ist nur vers­tänd­lich als Sehnsucht nach einer Rückkehr der Energie, des Trash, als Sehnsucht nach was anderem. Irgend­etwas.
Nun ist George Miller geadelt zum Autoren­filmer.
Chris Rock als Moderator war auch super mit seiner Mischung aus Humor und Schärfe: »If they nominated hosts, I would not have this job.« Oder: »Wir hatten in den Sixties bessere Sachen gegen die wir protes­tieren konnten: Wenn die Oma am Lynchbaum baumelt, ist es schwer, sich um den animierten Kurzfilm zu kümmern.«

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Ein letztes ernstes Thema, auf das ich bald ausführ­li­cher eingehen werde: Die idio­ti­sche – es gibt kein tref­fen­deres Wort – Entschei­dung des BKM, künftig die analoge Film­ar­chi­vie­rung aufzu­geben.

Dazu Tabea Rößner, film­po­li­ti­sche Spre­cherin der GRÜNEN: »Die schlimmsten Befürch­tungen werden nun bestätigt: Die Bundes­re­gie­rung plant die Schließung der eigenen Kopier­werke für analogen Film und will künftig komplett auf die Archi­vie­rung auf analogem Film verzichten. Das ist erschre­ckend kurz­sichtig, weil der soge­nannte Rollfilm das bisher einzige Träger­ma­te­rial ist, dessen lang­fris­tige Aufbe­wah­rung bereits erprobt ist und die rein digitale Sicherung mit unbe­kannten Risiken und hohen Kosten verbunden ist. Während die Vernich­tung von Nitrat­filmen sich aufgrund der Spreng­stoff­ver­ord­nung teilweise recht­fer­tigen lässt, ist die Bundes­re­gie­rung in der Pflicht, eine ange­mes­sene und zukunfts­feste Sicherung des Filmerbes in der Breite und Vielfalt vorzu­nehmen. Tatsäch­lich findet aber das Gegenteil statt: Ohne öffent­liche Diskus­sion und hinter verschlos­senen Türen entscheidet das Bundes­ar­chiv darüber, was ‚archiv­würdig’ und ‚kultur- und film­his­to­risch besonders bedeutsam’ ist. Nur bei diesen Filmen wird bislang auf eine Vernich­tung verzichtet.«

Die Situation wird immer drama­ti­scher, weil nach wie vor kein Konzept und keine Finan­zie­rung für die umfas­sende Archi­vie­rung des Filmerbes und dessen Zugäng­lich­ma­chung vorliegen. Einst­weilen werden Fakten geschaffen. Es ist mehr als befremd­lich, dass die Bundes­re­gie­rung hier weder auf den Rat der Exper­tInnen hört, noch sich an den dafür anfal­lenden Kosten anständig beteiligt. Film­branche, Archi­varInnen und Film­his­to­ri­kerInnen warnen seit Jahren eindring­lich davor, dass das Filmerbe so verloren geht. Die Bundes­re­gie­rung nimmt es sehenden Auges in Kauf. Es ist richtig und wichtig, mehr Mittel in die kultu­relle Film­för­de­rung zu inves­tieren, es ist aber absurd, darüber die Film­ge­schichte zu vergessen. Der gesell­schaft­liche Austausch über das Filmerbe muss in den Mittel­punkt rücken. Viel­fäl­tige und auch wider­sprüch­liche Perspek­tiven werden dringend bei der Archi­vie­rung benötigt, damit die konser­va­tive Kano­ni­sie­rung ein Ende nimmt. Bis zum Abschluss dieses Prozesses muss die Film­ver­nich­tung umgehend gestoppt werden.

Diese Entschei­dung, sollte das so stimmen, wirkt, als wüsste Kultur­staats­mi­nis­terin Grütters gar nicht, was sie tut: Würde sie das alte Stadt­schloss, stünde es noch, auch abreißen lassen, weil es keine Steck­dosen hat, und lieber ein neues bauen? Oder die »Mona Lisa« verbrennen, weil es ja einen guten Kunst­druck gibt? Wohl kaum.
Also: Was ist denn los in dem Laden? Muss Mutti Merkel da mal wieder eine SMS schreiben?

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Letzte Woche hatten wir Monika Grütters noch aus voller Über­zeu­gung gelobt. Müssen wir das zurück­nehmen?

(to be continued)