20.02.2016
66. Berlinale 2016

Wie erzählt man das Universum einer Stadt?

Akher ayam el madina
In den letzten Tagen der Stadt
(Foto: Berlinale | Akher ayam el madina)

Der Caligari-Filmpreis geht an den ägyptischen Spielfilm Akher ayam el madina (In den letzten Tagen der Stadt) von Tamer El Said –Berlinale-Tagebuch, 14. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Do not despair life and do not live in despair«
Mustafa Kemal Pascha, zitiert nach »In the Last Days of the City«

»Where has poetry gone? Poetry is ever­y­where.«
»In the Last Days of the City«

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Der Caligari-Filmpreis 2016 geht an den ägyp­ti­schen Spielfilm Akher ayam el madina (In den letzten Tagen der Stadt) von Tamer El Said, über den ich schon in Folge 11 geschrieben hatte. Und über den ich bestimmt noch öfters schreiben werde. Ein toller Film!
Ich bin in diesem Fall aber alles andere als neutral, da ich zusammen mit den beiden tollen, sympa­thi­schen südwest­deut­schen Kino­be­trei­bern Christine Müh (Kommu­nales Kino Pforzheim) und Wolfgang Dittrich-Windhüfel (Kommu­nales Kino Freiburg) die Jury gebildet habe.

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Unsere Jury­be­grün­dung lautet folgen­der­maßen: »Eine märchen­hafte Suche nach der verlo­renen Zeit und dabei ganz gegen­wär­tiges, hell­wa­ches Kino. Ein Film, der essay­is­tisch ist, fiktional und doku­men­ta­risch, ein Film über das Filme­ma­chen, ein intimes Selbst­por­trät und eine Betrach­tung des letzten Sommers vor der Revo­lu­tion – nost­al­gisch, sinnlich, klug.
Wie erzählt man im Kino das Universum einer Stadt? Diese Frage beant­wortet dieser Film aufs Über­zeu­gendste: nämlich frag­men­ta­risch, mit wachem Auge sich dem Zufall hingebend und zugleich mit ausge­feilter Insze­nie­rungs­kunst.
Dies ist ein Film, der große Vorbilder kennt, ob sie nun Rossel­lini heißen, Godard, Chris Marker oder viel­leicht auch Dominik Graf – der sich aber nie sklavisch von ihnen abhängig macht. Er stellt uns indirekt und voller stilis­ti­scher List unter der Hand eine ganze Region vor, die viel zu Unrecht lange im Schatten lag, und jetzt zwar im Fokus liegt, aber von den Wolken der Dummheit und der Vorur­teile wieder verdun­kelt wird.
Dieser Film ist ein Para­de­bei­spiel dafür, dass es im Kino nicht darum geht, ›poli­ti­sche Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen‹ (Godard). Das ist: Enga­ge­ment und künst­le­ri­scher Akti­vismus jenseits des allzu-Erwart­baren.«

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Der »Caligari-Filmpreis« ist etwas ganz Beson­deres. Es ist einer belieb­testen Preise der Berlinale – denn er ist mit Geld verbunden. Mit 4.000 Euro, die zur Hälfte an den Preis­träger gehen, und zur Hälfte an den Verleih oder für Werbe­maß­nahmen, mit denen weitere Kino­auf­füh­rungen oder auch eine Filme­ma­cher­tour in Deutsch­land begleitet werden sollen.
Zum 31. Mal wurde der »Caligari-Filmpreis« bei der dies­jäh­rigen Berlinale vergeben – und zwar vom »Bundes­ver­band Kommunale Film­ar­beit« gemeinsam mit dem Kino­ma­gazin »Film­dienst«. Der Film geht »an einen stilis­tisch inno­va­tiven Film aus dem Programm des Berlinale Forums«. Damit soll die besondere Bedeutung dieser Sektion für die kultu­relle Kino­ar­beit gewürdigt werden. Wieder als Sponsor dabei ist die Firma Trikoton, die einen unge­wöhn­li­chen Preis gestiftet hat. Das Modelabel aus Berlin über­reicht dem Gewinner eine Decke aus ihrer „Voice Knitting Coll­ec­tion“, in die Partitur-Auszüge der Kompo­si­tion Giuseppe Becces zu dem expres­sio­nis­ti­schen Stummfilm Das Cabinet des Dr. Caligari einge­strickt sind.

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Wir haben auch zwei lobende Erwäh­nungen vergeben. Die eine geht an den mexi­ka­ni­schen Film »Tempestad« von Tatiana Huezo: »Eine Reise ins Reich der Fins­ternis. Ein Reich aus Gewalt, Menschen­handel, Korrup­tion. In zwingend-inten­siven Bildern nimmt uns dieser Film auf eine monströse Höllen­fahrt. Zugleich handelt es sich um ein leiden­schaft­li­ches Plädoyer für die Freiheit.«
Die zweite geht an das senaga­le­si­schen Werk The Revo­lu­tion Won’t Be Televised von Rama Thiaw. »Ein leiden­schaft­lich enga­gierter Film, Kino, das mitten rein geht ins Getümmel, zwischen die Poli­zei­knüppel und -kugeln, das Meetings, Kampagnen, Verhaf­tungen, Politik auf der Straße zeigt. Jenseits aller Klischees bringt uns die Regis­seurin ihre Figuren ganz nahe – man beneidet ihren Enthu­si­asmus, wünscht sich solche Protest­energie auch hier­zu­lande – poli­ti­sches Filme­ma­chen als Mani­fest­kino, getragen vom akti­vie­renden Sound der Musik.«