12.06.2014
67. Filmfestspiele Cannes 2014

Formen der Gewalt

P'tit Quinquin
Bruno Dumonts P'tit Quinquin
(Foto: ndm International)

Die Sektion »Quinzaine des réalisateurs« in Cannes 2014

Von Dieter Wieczorek

Eigent­lich ist die »Quinzaine« trotz ihrer nur dritten Position in der Cannes-Sektions-Hier­ar­chien ein Ort, um Neuent­de­ckungen zu machen und sich über­ra­schen zu lassen. 2014 war ange­sichts der nur geringen Anzahl von über­zeu­genden Filmen nicht gerade ein Spit­zen­jahr­gang. Die Öffnung zum Geng­re­film tut der Sektion kaum gut.

Glück­li­cher­weise bietet das Pariser »Forum des Images« dem Publikum die Möglich­keit, die gesamte Quinzaine-Film­aus­wahl bereits eine Woche nach Cannes noch einmal sehen zu können, und unter wesent­lich konzen­trierten Umständen als während des Cannes-Stresses.

Gleich zwei der für ein abschließendes Dossier über Cannes 2014 wirklich zu nennenden Filme kamen aus Israel, die weder auf das ewig gleiche Schemata von Erwar­tungs­er­zeu­gung und Erfüllung zurück­fallen, noch sich begnügen, die üblichen Mecha­nismen der Spannungs- und Emoti­ons­er­zeu­gung zu perp­etu­ieren.

At li layla (Next to her) von Asaf Korman (*1982) beschreibt das ebenso schwie­rige wie glücks­er­fül­lende Zusam­men­leben zweier Schwes­tern, deren eine, Gabby, geistig behindert ist. Chelli opfert viel Zeit und Energie für sie. Sie folgt all ihren Wünschen und Bedürf­nissen. Dann lernt sie einen jungen Mann kennen, der mit großer Sensi­bi­lität sich in dieser Umgebung spezi­fi­scher Riten und Gepflo­gen­heiten einfügt. Vorsichtig versucht er, Celli von ihrer an Selbst­auf­op­fe­rung reichenden über­mas­sigen Fürsorge abzu­ringen. Kormans erster Spielfilm hat nicht zuletzt den Verdienst, aufzu­zeigen, wie schwer es ist, wirklich die Empfin­dungen von Gehan­di­kapten zu anti­zi­pieren. Die Konstel­la­tion dieser drei unglei­chen Persön­lich­keiten gerät in eine schwere Krise, als Gabby plötzlich schwanger ist. Kormans besticht durch seine überaus subtilen Beob­ach­tungen. Der Autor mehrerer Kurzfilms war bereits 2007 mit seinem Film Mata shel Shulas (Der Tod Shulas) zu Gast in der »Quinzaine«. Hier beglei­tete er einen älteren Mann auf seiner letzten Fahrt mit seinem einge­schlä­ferten Hund. Seine Sensi­bi­lität für spezi­fi­sche Situa­tionen war bereits hier evident.

Erneut zeigen Ronit und Shlomi Elkabetz in ihrem Film Gett, The Trial of Viviana Amsalem den Irrsinn der Eheriten und der anachro­nis­ti­schen Juris­pru­denz in Israel auf, in einem Situa­ti­ons­pot­pourri, das zwischen Groteske und Tragödie hin und her oszil­liert. Vergeb­lich kämpft eine Frau von einem Gerichts­termin zum nächsten über Jahre hinweg um ihre Scheidung, die ihr Mann ihr verwei­gert, wie sich langsam heraus­kris­tal­li­siert aus offen­sicht­lich sadis­ti­schen (und maso­chis­ti­schen) Gründen. Er weigert sich, seiner Frau Lebens­lust und Lebens­freude zuzu­ge­stehen, lebens­lang. Das Regie-Geschwis­ter­paar kredenzt die gesamte Hypok­risie und Schein­to­le­ranz des patri­ar­cha­lisch-ortho­doxen Israel mit seiner am Talmud orien­tierten Rechts­spre­chung, von der keine Spur abge­wi­chen wird, koste es, was es wolle. Die Ehemänner können auf physische Gewalt verzichten. Der Gesetz­ap­parat arran­giert für sie die Appli­ka­tion psychi­scher Gewalt mit dem Ziel der Unter­wer­fung der Frau. In ihrem letzten gemein­samen Film Shiva (2008) behan­delten die Elka­betzes eine Fami­li­en­dra­ma­turgie sadis­ti­scher Abrech­nungen. Doch bereits 2004 stand eine Ehefrau im Zentrum, die sich vergeb­lich aus ihrer Ehe zu befreien versucht (Ve' Lakta Lehe Isha). Die Elka­betzes offe­rieren in scho­nungs­loser Weise eine stagnie­rende Gesell­schaft, unfähig zu jeder inneren, wenn auch noch so notwen­digen Dynamik. Gewiss, eine Aufleh­nung ist möglich, aber nur um den Preis der Ausschlies­sung.

Die Ehe aus der Sicht physi­scher Gewalt bringt dagegen Diego Lerman in Refugiado auf die Leinwand. Die argen­ti­ni­sche Produk­tion zeigt eine Frau mit ihrem Sohn auf der Flucht vor einem bipolaren Mann, der zwischen Gewalt­kas­kaden und Phasen der Reue und Zuneigung hin und her pendelt. Seine Iden­ti­täts­schwan­kungen erschweren der Frau, und weit mehr noch dem gemein­samen Sohn, Abstand zu nehmen und eine endgül­tige Entschei­dung zu treffen. Der Film, ganz gedreht aus der weib­li­chen Perspektiv, zeigt ihre panische Flucht aus dem gemein­samen Wohnung, ihre weitere Flucht aus einem Asyl ohne jede Perspek­tive, hin zu einer Verwandten aufs Land. Doch auch dahin dringen die Tele­fon­an­rufe des Ehemanns. Lermans einfühl­bare Weise, zugleich die Gefühls­am­bi­va­lenz der Frau und die emotio­nalen Schwan­kungen des Sohnes auszu­loten machen seinen Film so sehens­wert. Der Ehekon­flikt trans­for­miert sich zu einem weiteren zwischen Mutter und Sohn. Der Schüler wird gezwungen, sein gesamten Freun­des­kreis hinter sich zu lassen, ange­sichts einer lediglich anti­zi­pierten Gefahr. Die Soli­da­rität mit seiner Mutter hat ihre Grenzen...

Einen überaus Eigen­wil­ligen, selten seltsamen Film brachte Bruno Dumont mit P'tit Quinquin nach Cannes. Er verblüfft über seine immerhin 200 Minuten Spielzeit immer wieder aufs Neue. Die Länge wird kaum spürbar. Seine besondere Kunst ist, glaub­würdig skurrile Charak­tere nahezu seri­en­weise vor den Augen der Zuschauer zu erschaffen. Mit Genuss huldigt er der wilden Anarchie der Provinz, wo Inkom­pe­tenz, Dümm­lich­keit, Anmassung, Bizarres, Gefähr­li­ches und viele schräge Freuden in ständigem Reigen eine beein­dru­ckende Situa­ti­ons­cho­reo­gra­phie schaffen. Dumont verzichtet diesmal gänzlich auf Dämo­ni­sches und Tran­szen­dentes, die seinen Film Hors Satan (2011) noch kenn­zeich­neten. Gewalt­sze­ne­rien und die Entgren­zung des Funk­tio­nellen, wie ebenso sein in langen Einstel­lungen sich mani­fes­tie­rende insis­tie­rende Blick auf die einzelne Figur, alles bereits Charak­te­ris­tika in L’Humanité (1999), kehren hier wieder, doch in über­ra­schend scherz­hafter, leichter Form. Dumonts Film ist eine Liebes­be­zeu­gung an die »Loser« und ihre Freuden, an die Unzi­vi­li­siert­heit und Lebens­lust der Provinz, an eine Welt, in der Über­wa­chungs­ka­meras noch nicht instal­liert sind.

Bereits in dem einfluss­rei­chen Sundance Festival gewann Damien Chazelles Whiplash nicht nur den Haupt­preis, sondern auch den Publi­kums­preis. Der US-ameri­ka­ni­sche Film brilliert durch seine eindring­liche Darstel­lung eines Schüler-Lehrer-Verhält­nisses, das man mit psycho­lo­gi­scher Termi­no­logie als sado­ma­so­chis­tisch beschreiben könnte. Doch oft greift Psycho­logie zu kurz. Dies zu zeigen ist nicht mindestes Verdienst des Filmes Chazelles. Worum es eigent­lich geht, ist Selb­stü­ber­schrei­tung und Meis­ter­schaft. Diese ist ohne Leiden nicht zu haben. Das Aufein­an­der­treffen der Wert­sys­teme – Glück und leichte Bestä­ti­gung hier, Meis­ter­schaft dort – in Szenen zu kris­tal­li­sieren, ist die eigent­liche Leistung Chazelles. Ein erfolgs­ver­wöhnter Jazz­ensemble-Lehrer fordert alles von seinen talen­tierten Studenten. Besonders ein junger Schlag­zeuger fällt ihm auf, der zu Anfang nur Noten­blätter umdrehen darf. Dann beginnt der lange Weg seiner Bewäh­rungs­ge­schichte. Der Lehrer nutzt ein weites Panorama zwischen Zucker­brot und Peitsche, um zu seinem Ziel zu kommen. Immer wieder provo­ziert, verun­si­chert, entwür­digt und demütigt er seinen Schüler. Der junge Mann pendelt zwischen Bewäh­rungs­lust und Aufgabe. An einer Stelle droht das Tableau zu kippen. Der Lehrer verliert seinen Job, der Schüler gibt verun­si­chert sein Spiel auf. Doch die beiden begegnen sich erneut, eine neue Runde der Heraus­for­de­rung beginnt, auf einem nun noch einmal erhöhten Refle­xi­ons­ni­veau. Es braucht nicht betont werden, dass Jazz­enthu­si­asten in Whiplash auf ihre Kosten kommen. Mindes­tens die Hälfte des Szenarios ist im Probe- oder Konzert­saal situiert. Doch die eigent­liche Pointe ist und bleibt zu zeigen, welch exis­ten­zi­eller Preis zu zahlen ist, will man sich einschreiben in die Geschichte der Meis­ter­schaft, welchen Metiers auch immer. Die letzte Szene bleibt unver­gess­lich und wird in die Geschichte des Musik­filmes eingehen. Ja, es ist ein Happy End, doch hier verzeihbar und konse­quent.