26.05.2014
67. Filmfestspiele Cannes 2014

Der Heili­gen­schein oder: Hilary Swank

The Homesman
Wahnsinn trifft Western: The Homesman
(Foto: Universum Film GmbH / 24 Bilder Film GmbH)

Das Wehgeheul der Frauen: Der Wahnsinn hat viele Gesichter, und Michael Kohlhaas im Western – Cannes-Notizen, vierte Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Three crazy women for five weeks is a lot more than I bargained for. You gonna meet three kinds of people around here: Those, who don’t wanna see crazy people. You gonna meet vagabonds, who will surely rape you. And then there are the Indians, who kill you.«
The Homesman

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Eigent­lich kam es mir vor, als sei es fast gestern gewesen: Die Premiere von The Three Burials of Melquiades Estrada, der ersten eigenen Regie­ar­beit des des US-Schau­spie­lers Tommy Lee Jones schien allen­falls fünf, sechs Jahre her zu sein. Tatsäch­lich aber war es schon 2005 gewesen. Erst jetzt präsen­tiert Jones seinen zweiten Film, einen der über­ra­schendsten Beiträge und eine sehr unge­wöhn­liche Mischung aus gedie­gener Klassik, Genre­ste­reo­typen und unge­wöhn­li­chen Heran­ge­hens­weisen – einer der positiv über­ra­schendsten Filme bislang.

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Eine Abfolge aus Tableaus menschen­leerer Land­schaften eröffnet den Film. Melan­cho­li­sche Country-Musik erklingt. Wir wissen, wir sind im Western-Country, irgend­wann spätes­tens in den frühen 20er Jahren, eher noch ein paar Jahr­zehnte zuvor, und schon verkündet ein Insert: Nebraska, 1855.
Dann sieht man Hilary Swank, ihr knochiges Gesicht in Groß­auf­nahme, das sofort ganz aus der Epoche zu stammen scheint, was natürlich eine doppelte Illusion ist, weil man sich das Gesicht auch auf einer Photo­gra­phie aus der Großen Depres­sion vorstellen könnte, und weil fast alle hier im Theatre Lumiere sowieso wissen, dass es sich um Hilary Swank handelt. Ich konnte mit dieser Darstel­lerin noch nie richtig viel anfangen, irgend­etwas stößt mich an ihr – nicht nur ihren Rollen – ab, und spätes­tens seit Million Dollar Baby trägt Swank auch eine Meryl-Streep-hafte Bedeut­sam­keit vor sich her, einen Heili­gen­schein der eigenen großen Darstel­lungs­kunst, von der Swank selbst offenbar unbedingt überzeugt ist – und die bei Streep übrigens schon längst ironisch gebrochen ist, aber dazu kommen wir später.

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Swank also bei der Feld­ar­beit, und das sieht dann natürlich echter und glaub­wür­diger aus, als wenn da jetzt Joan Crawford oder Lana Turner hacken und jäten würden, aber trotzdem eben wie eine Hollywood-Schau­spie­lerin, die hackt und jätet. Natürlich ist sie (anders als Crawford oder Turner) so geschminkt, dass sie unge­schminkt aussieht, natürlich ist der Dreck besonders dreckig, der Wind sehr windig, und der Gaul vorm Pflug bockig. Und die Klamotten sehen aus, als würden sie am Leib richtig kratzen.

Wir sehen also Swank eine ganze Weile herumpflügen, und dann den Gaul in den Stall bringen. Der Film hat ganz offen­sicht­lich schon mal sehr die Ruhe weg.
Dann kommt ein Nachbar vorbei, man redet worüber Menschen von heute glauben, dass man so geredet hat an den langen Abenden an der Frontier, ohne Fernsehen und Telefon, vom Internet ganz zu schweigen, man redet über den Pie – »its a really good pie« –, und was man so gemacht hat »in the East«. Irgend­wann gibt es Hausmusik. Pech nur, dass es kein Instru­ment gibt. Also »spielt« Swanks Figur auf einer Decke, in die eine Klavier­tas­tatur eingehäkelt ist, und singt dazu. Der junge Mann, der ihr Gast ist, schläft dabei ein – nicht die erste Enttäu­schung für die Frau, und nicht die letzte: Denn als sie wieder am Tisch sitzt, redet sich nicht lange um ihr Anliegen herum: »Marry me!« Sie kann gute prak­ti­sche Gründe vorbringen, aber der Nachbar winkt ab, ebenso mit guten prak­ti­schen Gründen: »You are very judge­mental«. Und verlässt flucht­artig das Haus.

Da wissen wir schon, dass Swanks Figur Mary Bee Cuddy heißt, dass sie mit 31 noch (!) unver­hei­ratet ist, und das nicht ganz ohne eigenes Zutun, und zu alldem Sperrigen, auch Unsym­pa­thi­schen, trotzdem Inter­es­santen, passt diese Darstel­lerin schon mal wieder ganz gut.

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Der Wahnsinn trifft den Western in The Homesman, einer Lite­ra­tur­ver­fil­mung, die in Nebraska zur Zeit der India­ner­kriege ange­sie­delt ist. Denn die nächsten rasch aufein­an­der­fol­genden Bilder und Szenen sind apoka­lyp­tisch: Wir sehen eine kleine Farm, in der alle Tiere durch eine Seuche gestorben sind. Dann später trägt die Frau ihr jüngstes Kind, einen Knaben, apathisch im Arm zum Plumpsklo und wirft es in der Sicker­grube. Eine zweite Frau beschimpft ihren Mann, dass er die Leiche der eben gestorben Mutter nicht im Haus lässt. Wir sehen, dass der Mann die Frau verge­wal­tigt, wir sehen ihr gefühl­loses, brutales Zusam­men­leben ihre Verwahr­lo­sung gepaart mit Aggres­sionen. Dann sehen wir eine dritte junge Frau, die völlig wegge­treten scheint.

Die Dorf­ge­mein­schaft des kleinen Sied­ler­s­tädt­chens will die drei Frauen, die zur Arbeit nicht mehr taugen, und dem harten Leben nicht mehr gewachsen sind, entsorgen. Und Swanks unver­hei­ra­tete Mary Bee, bekommt den schwie­rigen, gefähr­li­chen Auftrag, die drei psychisch kranken Weibs­bilder aus der Fron­tier­re­gion zurück in zivi­li­sier­tere Gegenden und in die Obhut eines kirch­li­chen Irren­asyls zu bringen – in einer zum Gefäng­nis­wagen mit vergit­terten Fenstern umge­bauten Kutsche, in ein er wochen­langen Reise durchs India­ner­ge­biet und Wüsten. Zu ihrem einzigen Helfer wird der Drifter Georges, ein Tauge­nichts und Einzel­gänger (gespielt von Regisseur Jones selber), zwangs­ver­pflichtet.

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Und so geht es im Schritt­tempo voran: Die Pferde heißen Grace und Redemp­tion, aus der Kutsche erklingt während der Fahrt das Wehge­heuel der Frauen. Sie reprä­sen­tieren drei Typen von Verrückt­heit: Die Apathi­sche. Die Melan­cho­lisch-Depres­sive. Die Manisch-Exal­tierte. Bei allen dreien hat der Wahnsinn etwas mit Kindern und Mütter­lich­keit zu tun: Die eine hat drei Kinder verloren, die zweite eines umge­bracht, die dritte keines bekommen.

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Der Film beginnt so, dass ich mich sehr lang­weilte und schnell rausgehen wollte. Ich blieb aber drin, denn er wurde besser und besser und entfal­tete nach etwa einer halben Stunde einen seltsamen Sog. Es geht hier um das, worum es im Western immer auch geht: Um Zivi­li­sa­tion und Barbarei, auch die innere, die die Zivi­li­sa­tion infiziert. Um das Barba­ri­sche der Regeln und Gesetze. Es geht auch um reli­giösen Fana­tismus, denn es sind hier vor allem die Wahn­sin­nigen, die von Gott reden: »God will strike you down«.

Genauso wahn­sinnig wie die drei Frauen stellt sich aber Mary Bee heraus. Wer es nicht schon ahnte, als sie auf einer Häkel­decke Klavier spielte, dem wurde es klar, als sie zurück­bleibt um ein unbe­kanntes Grab wieder zuzu­schau­feln, dann die Schaufel vergisst und tagelang braucht, um die Kutsche wieder einzu­holen. Sie bittet auch George um die Heirat, und als er sich verwei­gert, zwingt sie ihn geradezu zum Beischlaf. Als er am nächsten Morgen aufwacht, hat sie sich aufgehängt. Sie hängt sich auf, weil sie eigent­lich genauso verrückt ist, wie die anderen.

Auch sonst sind eigent­lich alle Frauen in diesem Film wahn­sinnig: Am Schluß als die Kutsche glücklich über einen großen Fluß in Iowa ange­kommen ist, hat Meryl Streep einen kurzen Auftritt als frömm­le­ri­sche Leiterin des Irren­sayls – nur an einer anderen Form von Wahn leidend. Die einzig Normale ist eine 16-jährige, die Jones' George am Ende im Hotel bedient, und der er von seinem letzten Geld das erste Paar Schuhe schenkt.

Es gibt atem­be­rau­bende Momente – etwa eine Stadt, die nur in Form abge­steckter Grund­stücke existiert. Ein Inves­to­ren­pro­jekt. Das einzige Haus vor Ort ist ein luxu­riöses Hotel, das auf poten­ti­elle Käufer wartet.

Als der Hotel­be­sitzer, das ist ein weiterer sehr starker Moment, der Frau­en­kut­sche die Hilfe verwei­gert, rächt sich Jones' George, indem er nachts zurück­kommt und das Hotel nieder­brennt – und die Insassen gleich mit.

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Wahnsinn und Western also, mit einem Hauch von Cormac McCarthy-Apoka­lypse. The Homesman ist ein origi­neller Western, der dessen Klischees aufgreift, sie so originell wie schlüssig abwandelt und gele­gent­lich ad absurdum führt – zugleich ein stre­cken­weise kluger Beitrag zum Thema Geschlech­ter­be­zie­hungen, der auch der Jury­prä­si­dentin und erklärten Femi­nistin Jane Campion gefallen könnte – dann würde Tommy Lee Jones am Samstag als Frau­en­ver­steher belohnt werden.

Was will uns Tommy Lee Jones damit aber sagen will, ist unklar. Was ist die Botschaft am Ende? Das Amerika immer schon wahn­sinnig war? Oder möchte er uns nur eine gute Geschichte erzählen?

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Um dem Wahnsinn zu begegnen, muss man in Cannes aller­dings nicht ins Kino gehen. »I am not invisible!« ruft mir eine Ameri­ka­nerin zu, als ich drei Meter vor ihr über den Roten Teppich gehe. Offenbar fand sie ich hätte ihr irgendwie den Weg versperrt. Engin, Kriti­ker­freund aus der Türkei, der zum ersten Mal in Cannes ist – »a Cannes virgin« nennt das ein Freund – begegnete beim Türki­schen Empfang einer Frau, die in einer Schüssel Essen vom Büffet einsam­melte, offenbar um es mit nach Hause zu tragen, und die ihn dann ansprach: Sie sei Arme­nierin. Was Sie den im Leben so tue: »I live in Germany and I run the Berlin-Film-Festival.« Auf die gelbe (also rang­nied­rige) Farbe ihrer Akkre­di­tie­rung hinge­wiesen: »Here I am for someone else.«

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Mads Mikkelsen, Eva Green, und der fran­zö­si­sche Ex-Fußball­na­tio­nal­held Eric Cantona – das waren nur einige der inter­na­tio­nalen Top-Stars des Kinos, die in einem zweiten Western zu sehen sind. Der kommt aus Dänemark: The Salvation von Kristian Levring zeigt außer Konkur­renz Mads Mikkelsen im Jahr nach Michael Kohlhaas als eine Art Kohlhaas des Wilden Westens: Ein Mann, der den Mord an Frau und Sohn und weitere Schick­sals­schläge blutig rächt. The Salvation ist nach gutem Beginn am Ende nicht mehr als eine leere Genre­va­ria­tion. Der Film ist etwas einfallslos und reicht nicht über sich hinaus.

Aber auch hier hält der Wahnsinn Einzug ins Land von John Ford und Howard Hawks, besonders in Eva Greens atem­be­rau­bender, zwischen Gut und Böse schil­lernden Figur einer von Indianern lebens­lang gezeich­neten Frau: Ihr wurde von Indianern die Zunge heraus­ge­schnitten, weil sie unun­ter­bro­chen schrie, während sie die Ermordung ihrer Eltern mitan­sehen musste.