13.02.2014
64. Berlinale 2014

Im Grand Hotel Abgrund

Jack
Phänomenaler Auftritt Ivo Pitzckers in: Jack
(Foto: Camino/Filmagentinnen)

Faschismus und Anmut, Kritik und Ungeduld, und der Zynismus der Eröffnungsfeier – Berlinale-Tagebuch, 1. Folge

Von Rüdiger Suchsland

2014 ist ja die Artechock-Berlinale. Denn wenn einem die Filme nicht gefallen, dann müssen die Kritiker eben selber Filme machen: Thomas Willmanns Roman­debüt Das finstere Tal ist verfilmt worden und läuft als »Berlinale-Special«. Anja Marquardt hat ihren ersten Lang-Film gemacht: She’s Lost Control über eine New Yorker Sexthe­ra­peuthin. Wir sind sehr gespannt, werden berichten. Und ich selbst habe einen Fern­seh­do­ku­men­tar­film zu dem restau­rierten Klassiker Das Cabinet des Dr. Caligari gedreht.

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Wenn es was zu meckern gibt – und es gibt ja immer was zu meckern – dann zu Beginn der Berlinale dies: Berlin macht Cannes nach. Vor zwei Jahren eröffnete ein Wes-Anderson-Film die Croisette, in diesem eröffnet ein Wes-Anderson-Film die Berlinale. Vor einem Jahr saß Christoph Waltz in der Golden-Palmen-Jury, in diesem Jahr sitzt Christoph Waltz in der Berlinale-Jury. Schon vor Jahren liefen in Cannes und Venedig TV-Mini­se­rien, jetzt behauptet die Berlinale, man würde »als erstes A-Film­fes­tival« einen Ort für Fern­seh­se­rien einräumen. (Wobei da sowieso die Frage ist, ob man damit nicht nur das Kino, den »Marken­kern« der Berlinale, um es mal im PR-Deutsch auszu­drü­cken, margi­na­li­siert). Schon seit Jahren gibt es in Cannes die »Cannes Classics«, seid drei Jahren gibt es jetzt die »Berlinale Classics«.
Ande­rer­seits stimmt das auch nicht, denn trotz solcher einzelner Abpaus­ak­tionen, die nur die längst bekannte Einfalls­lo­sig­keit der Berlinale-Entscheider noch einmal bestä­tigen, kommt die Berlinale an Cannes natürlich nicht ran, jeden­falls nicht solange Dieter Kosslick und der von ihm vertre­tene Popu­lismus-Kurs den Ton angeben.

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Nachsicht ist so ein schönes Wort, sagt eine Produ­zentin.

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Auch sonst gilt: Die Berlinale orien­tiert sich an Cannes, ohne es konse­quent zu imitieren, tut immer so, als wolle man ja eh was ganz anderes leisten, um dann aber doch ein bisserl Cannes zu spielen. Erklären, was denn das andere wäre, konnte Kosslick sowieso noch nie. Er sagt dann sein Lieb­lings­wort »Publi­kums­fes­tival«, wie ein Mantra, als ob das irgend­etwas erklären würde. Tatsäch­lich hechelt dieses Festival hilflos und ohne Orien­tie­rung hinterher, schafft es offenbar nicht, aus eigener Kraft irgend­einen Erfolg zu verbuchen, und auf irgend­eine eigen­s­tän­dige Idee zu kommen.

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Ein guter Eröff­nungs­film, besser als viele Vorgänger, und subtil bezie­hungs­reich. Anderson entfaltet in seinem neuen Film ein schönes Spiel der Refe­renzen. Irgendwie natürlich der schöne Traum eines Ameri­ka­ners von Europa, besonders Osteuropa, voller Nostalgie und Sinn für Verluste. Eine Zeitreise von der Gegenwart über 1985, 1963 bis ins Jahr 1932. Dort spielt die Geschichte von Mr. Zero Mustafa, der Diener im Hotel wird, und an der Seite des Butlers allerhand erlebt.
Eine nost­al­gi­sche burlesk-verspielte Tragi­komödie, die das Publikum durch Ralph Fiennes in einer wunder­baren Haupt­rolle und tolle Neben­dar­steller, wie Bill Murray als gewieften Hotel­por­tier ebenso mitriss, wie durch seine atemlose Handlung. Der Film ist sehr unter­haltsam, aber auch hastend, atemlos, ohne einen Augen­blick des Inne­hal­tens. Mehr Ruhe, mehr Poesie wäre besser gewesen. Anderson baut seine üblichen Puppen­stu­ben­sets, und bleibt ein großes Kind: undis­zi­pli­niert, an den Klamotten seiner Barbie­puppen mehr inter­es­siert, als an narra­tiver Substanz. Aber der Film bietet hübsche alter­na­tive Geschichts­schrei­bung, die uns an die Schönheit Alteu­ropas erinnert, bei dem ein Ozean­dampfer »Queen Nastassja« heißt und eine Kolonie Hollän­disch-Tanganijka, eine Krankheit »die preußi­sche Grippe.« Letzteres fand ein befreun­deter Franzose geschmacklos. Er sagte, man könne nicht eine Komödie über das Zeitalter des Faschismus machen, und von Lagern und Toten schweigen. Mir scheint, dass das der Film keines­wegs tut. Dass er vielmehr versucht im Geiste von Lubitsch und Chaplin die Dämonie des Unter­gangs europäi­scher Kultur auf andere Weise ins Zentrum zu rücken. Ich sehe hier mehr eine subtile, gute, eindrück­liche Betrach­tung über die Natur des Faschismus, über Todes­schwa­dronen und die alltäg­liche Barbarei, die Zers­törung der Anmut. Und das hat natürlich etwas mit der Gegenwart zu tun, mit einem Film­fes­tival im Auge des PR-Hurrikans. Wo bleibt die Kinokunst, wenn alle nur verkaufen wollen?
Das Grand Budapest Hotel ist ein »Grand Hotel Abgrund«, in dem wir alle sitzen, wartend auf ein Wunder.

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Hoffent­lich betrifft das nicht nur uns, die Kommis­sare vom Stil-Syndikat und der ästhe­ti­schen Avant­garde. Im Anderson-Film finden sich übrigens auch schöne Sätze: »Never be jealous in this life. This is disgraceful and beneath the standards of the Grand Budapest.« Oder: »Unhöf­lich­keit ist nur ein Ausdruck von Angst.« Alle wollten doch eigent­lich nur geliebt werden. Wohl wahr.

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»Unhöf­lich­keit ist nur ein Ausdruck von Angst.« Das gibt uns das Stichwort für Anke Engelke. Diese Mode­ra­torin war schon immer ein Anlass zum Fremd­schämen, und wenn es keinen anderen Grund gäbe, sich endlich das über­fäl­lige Ende der Ära Dieter Kosslicks als Berlinale-Chef herbei­zu­wün­schen, dann sie. Sie macht zotige oder dumme »Witze«, ist unvor­be­reitet – aber Kosslick lässt es zu. Sie strei­chelt Julian Schnabel übern Kopf und sagt »Ahhh watt ar ju duing after­wards?«. Sie moderiert Nina Hoss an mit der Bemerkung: »Die Schau­spie­lerin, die ich am liebsten in Nympho­ma­niac gesehen hätte«, fragt dann: »Was machen Sie denn hier?« – Antwort: »Ja, irgendwer wird mich schon hinge­setzt haben.« Sie fragt Tilda Swinton: »Als was sind Sie denn hier?« Und so weiter... Anke Engelke ist kultur- und stillos, schrill, peinlich zum in den Boden schämen – da wünscht man sich die Zeiten zurück, als man Leute wie Engelke noch nicht mal in den Berlinale-Palast rein­ge­lassen hätte. Aber Kosslick stellt sie auf die Bühne.

Anke Engelke ist wie ober­gä­riges Bier – man fragt sich nur, welche Drogen sie wohl genommen hat, nicht ob. So war diese Eröff­nungs­ver­an­stal­tung eine einzige menschen­ver­ach­tende zynische Pein­lich­keitsorgie – und wenn schon einer wie Kosslick den deutschen Film und das Kino derart verachtet, dass er Engelke zulässt, wie soll dann irgend­etwas gut sein auf der Berlinale?

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Die posi­tivste Über­ra­schung dieses Eröff­nungs­abends war aber Monika Grütters, die neue Kultur­staats­mi­ni­serin. Bei ihrem ersten Berlinale-Auftritt setzte sie deutlich andere Akzente als ihr – recht indus­trie­freund­li­cher – Vorgänger Bernd Neumann. Grütters forderte die Film­künstler zu »Kritik und Ungeduld« auf, Künstler sollten eine Unruhepol in einer zu selbst­zu­frie­denen Gesell­schaft sein.

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Solche Unruhe trieb offenbar Edward Berger (Regie) und Nele Müller-Stöven (Drehbuch), die beiden Schöpfer von Jack. Dieser Film eines bisher völlig unbe­kannten Filme­ma­chers ist der erste von vier deutschen Wett­be­werbs­bei­trägen, und hatte am Frei­tag­abend Premiere: Im Zentrum steht die neun­jäh­rige Titel­figur, ein Junge der am Stadtrand von Berlin allein mit seinem jüngeren Bruder von seiner sehr jungen Mutter erzogen wird. Deren Über­for­de­rung und unglück­liche Zufälle sorgen dafür, dass er im Heim landet. In den Ferien verpasst die Mutter den Abhol­termin, Jack reißt aus und irrt allein durch die Metropole, um die Mutter zu finden... Jack besticht zunächst einmal durch den phäno­me­nalen Auftritt des Kinder­dar­stel­lers Ivo Pitzcker. Wie ein Profi verfügt er souverän über alle Gefühl­fa­cetten seiner Figur. Die muss allerhand durch­ma­chen – zwischen­durch erinnert man sich an den Film Der Junge mit dem Fahrrad der Brüder Dardenne, der der Film auch äußerlich ähnelt: In seinem Sozi­al­rea­lismus, in seiner subjek­tiven Kamera und der Konzen­tra­tion auf eine Haupt­figur, in dem Passi­onsweg, den diese gehen muss. Doch kann der Film das hohe Niveau einzelner Momente und Szenen nicht über die ganze Spiel­film­länge halten: Dass einiges an der Geschichte konstru­iert ist, könnte man jedem Film vorwerfen. Der eigent­liche Mangel liegt darin, dass die Konstruk­tion zu leicht durch­schaubar war. So bleibt ein starkes Debüt, aber auch ein Film mit Mängeln, dessen implizite poli­ti­sche Botschaft – die über­for­derten allein­ste­henden Mütter sind schuld, in den Insti­tu­tionen geht’s den Kindern besser – auch nicht jeder teilen wird.

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»Geh weg!« – »Du bist der Böse« – zwei Männer unter­halten sich. Wir glauben, sie gut zu kennen, nicht nur weil die beiden von Jürgen Vogel und Moritz Bleibtreu gespielt werden. Aber irgend­etwas ist anders. Und wir Zuschauer denken, alles bald zu verstehen: Der eine, gespielt von Vogel, hat offen­kundig eine üble Vergan­gen­heit und will irgendwo auf dem grünen Land mit blonder Freundin, süßer Stief­tochter und einer Auto­werk­statt ein neues Leben anfangen. Und der andere, gespielt von Moritz Bleibtreu, ist sein Hirn­ge­spinst – die fleisch­ge­wor­dene Verkör­pe­rung der abge­kap­selten Vergan­gen­heit. Ganz so klar ist alles dann aber doch nicht, und diese spannende Geschichte von der Wieder­kehr des Verdrängten mischt Stil- und Erzähl­ele­mente von David Finchers Fight Club mit denen eines Hongkong-Gangs­ter­film. Stereo heißt dieser zweite Film des Regis­seurs Maxi­mi­lian Erlenwein, der vor ein paar Jahren mit seinem Debüt Schwer­kraft den Max-Ophüls-Preis gewann. Stereo ist ein bisschen deut­li­cher ein Genre­films geworden, eine unge­wöhn­liche Arbeit für das deutsche Kino, in dem Gangster und Poli­zisten meist dem Fernsehen vorbe­halten bleiben. Es ist auch ein wenig ein Jungsfilm über harte Männer, schöne, oft leicht­be­klei­dete Frauen, es wird geprügelt und geballert, Motorrad gefahren und flotte Sprüche geklopft – insgesamt ein sehr gelun­genes Werk im Berlinale »Panorama«, der größten und viel­fäl­tigsten unter den vielen Sektionen der Berlinale.