16.02.2013
63. Berlinale 2013

Eine Krankheit namens Berlinale

Das merkwürdige Kätzchen
Geheimtipp der Berlinale: Das merkwürdige Kätzchen

Verstopfung, Informationsüberfluss, Schnappatmung des Kapitalismus, vollstes Vertrauen zu Dieter Kosslick und Berlinale-Bauernregeln – Streifzüge durch ein Berliner Filmfestival kurz vor der Preisverleihung

Von Rüdiger Suchsland

»Ich hab' Berlinale« – man sagt das gern, wenn die Leute einen fragen, wie es grad' geht, weil es eigent­lich eine präzise Beschrei­bung liefert. Dann man sagt es so, wie man von einem bösen Virus spricht, der einen grade geschwächt hat. Und tatsäch­lich: Die Berlinale ist eine Krankheit. Man kommt hier nicht raus, und ist eupho­risch und erfüllt, weil man etwas gesehen hat, das man mitnimmt ins gerade begonnene Jahr, das den eigenen Glauben stärkt ans Kino, die Über­zeu­gung, dass anderes wichtiger ist als das immer kurz­at­miger werdende Schnaufen, als die Schnapp­at­mung des Kapi­ta­lismus, die auch auf einem Film­fes­tival zu hören ist. Man sieht hier nichts, das die Frage nach dem Sinn des Lebens beant­wortet, oder nach dem guten Leben oder wie man es auch nennen will, nichts, das etwas zu dieser Frage zu sagen hat, die doch am Ende die Frage aller Fragen ist in der Kunst. Jeden­falls sieht man nichts, das sie ästhe­tisch beant­wortet.

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Moral schon, Mora­lismus noch eher, poli­ti­sche Korrekt­heiten, biedere Antworten, ja. Aber keine Fragen, keine Irri­ta­tionen, sehr wenig Neugier. Das ist das eine Symptom dieser Krankheit.
Wir sprechen hier natürlich vom Wett­be­werb. Dem Aushän­ge­schild, der Visi­ten­karte eines Festivals, der Sektion, das sie verortet und und ihren Rang bestimmt im Konzert der anderen.

Ansonsten gab es schon zumindest Ausnahmen, es gab schon solche Filme, die einem etwas zeigten, was man noch nicht hundert­fach und besser gesehen hat: Jîn von Reha Erdem etwa, ein groß­ar­tiger, überaus berüh­render Film, mit dem die »Gene­ra­tion«-Sektion eröffnet wurde, und der märchen­haft von Politik und einem Land erzählt. Oder Das merk­wür­dige Kätzchen von Ramon Zürcher, der über­ra­schendste Film der Berlinale (Forum), ein Film, von dem man so gar nichts erwartete, weil er ja noch nicht mal ein Abschluss­film ist. Das merk­wür­dige Kätzchen mauserte sich zu »DEM« Geheim­tipp schlechthin dieser Berlinale. Dabei profi­tierte er bestimmt auch davon, dass die Berlinale sonst nicht arg viel zu bieten hatte.
Es geht um das Wochen­ende einer Berliner Familie – drei Kinder, Hund und Katze –, und entfaltet das heimliche Ballett des Alltags­le­bens. Der Film orches­triert das Zusam­men­spiel seiner Figuren glänzend und mit viel Humor, so wirkt er, als ob die strengen Autoren­filmer der »Berliner Schule« eine Familien-Soap insze­nieren würden. Jenny Schily spielt grandios die Haupt­rolle: Eine melan­cho­li­sche Mutter, die das ruhige Auge im Hurrikan der Familie bildet.
Einge­reicht wurde der Film, wie man hört, vorbei am derzei­tigen dffb-Direktor. Das muss nicht stimmen, wäre auch gute Künst­ler­le­gende – si non e vero e ben trovato. Allemal aber geht zur Zeit gerade die Saat auf, die der seiner­zeit so umstrit­tene Hartmut Bitomsky einst an der dffb gepflanzt hatte.

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Ein Symptom dieser Krankheit ist Infor­ma­ti­ons­ü­ber­fluss, fünf Texte, die man gleich­zeitig im Kopf hat, und die sich gegen­seitig neutra­li­sieren. Und dazu allge­meine Schreib­hem­mung. Null Bock. Denn wenn ich hier nichts schreibe während des Festivals, sondern alles nächste Woche nach­reiche, im Gegensatz zum manchmal über­quel­lenden Textstrom aus Cannes und Venedig, dann liegt das ja nicht nur an den vielen Menschen und Treffen und Pflichten, die ein Festival zuhause unver­gleichbar von dem im Ausland unter­scheiden. Es liegt auch daran, dass man hier weniger angeregt wird, dass man nicht schreiben will will will, muss muss muss. Die Berlinale ist eine Krankheit – das heißt auch: Man leidet an Verstop­fung.

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»Ich habe vollstes Vertrauen zu...« – wir wissen: Wenn das die Kanzlerin sagt, dauert es nicht mehr lang bis zum nächsten Rücktritt. Und auch wenn man beides nicht wirklich verglei­chen kann, müssen an einigen Orten die Alarm­glo­cken klingeln, wenn der Kultur­staats­mi­nister im Interview erklärt: »Ich stehe zu Dieter Kosslick«. Offenbar ist es nötig, das eigens zu betonen. Und wenn die »BZ« den Satz in der Frei­tags­aus­gabe zur Schlag­zeile macht, und darunter druckt »Kultur­staats­mi­nister Bernd Neumann vertei­digt den in die Kritik geratenen Direktor der Berlinale«, dann heißt das nichts anderes, als: Die Kritik an Kosslick und die Krise der Berlinale hat endlich den Boulevard erreicht.

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Ziga­retten sind reizvoll. Sie sind das für die, die ihnen nicht wider­stehen können, sie sind es, weil alles moralisch oder politisch Verbotene sowieso mit erhöhtem Reiz ausge­stattet ist, und sie sind es nicht zuletzt, wenn sie im Kino im Mund­winkel eines schönen Mannes oder einer schönen Frau stecken. Wenn sie zum Vorwand dafür werden, dass dieser Mund sich öffnet, dass er sinnliche Rauschwolken ausstößt, sich zu kreisen formt. Oder, wenn das alles zusammen geschieht, und die Ziga­retten auch noch zum Anlass einer tollen Geschichte werden. So in diesem Fall: In Elle s'en va von Emma­nu­elle Bercot spielt Catherine Deneuve Betty, eine Restau­rant­be­sit­zerin. Ihr sind die Ziga­retten ausge­gangen, und so fährt sie los, zuerst nur auf der Suche nach einer Packung, bald aber auch auf der Suche nach deinem neuen Leben. Die Deneuve, immer noch eine der schönsten Frauen des Kinos und beken­nende Ketten­rau­cherin spielt diese Betty großartig nuanciert und mit vollem Körper­ein­satz – einer weiterer glanz­voller Auftritt dieser großen Diva im Wett­be­werb der Berlinale, die sie bereits vor 16 Jahren für ihrer Lebens­werk ausge­zeichnet hat.

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Ein Hund sitzt allein in einer Wohnung. Der Fernseher läuft, und man sieht, wie der Hund auf das Bild aufmerksam wird, hinein­blickt. Die Kamera folgt dem Hunde­blick auf den Bild­schirm. Dort zeigt eine Nach­rich­ten­sen­dung, wie Hunde von Hunde­fän­gern gefangen werden, in Käfigen einge­pfercht, hinge­richtet, die Kadaver entsorgt. Und immer wieder sieht man dem Hund der auf der Matt­scheibe die Hunde sieht, mit scheinbar entsetztem Blick – ein bizarrer, absurder Kino­au­gen­blick, und zugleich ein Schlüs­sel­mo­ment in diesem Film, in Pardé vom Iraner Jafar Panahi im Wett­be­werb, und seine bisher viel­leicht poli­tischste Szene. Denn was sieht man wirklich: Man sieht Häscher und Henker im Regie­rungs­auf­trag, man sieht Haft und Hinrich­tung – also alles das, was ein irani­scher Film eigent­lich nicht zeigen darf, und dann eben doch, weil es ja nur um Tiere geht.

Jafar Panahi ist inzwi­schen welt­berühmt, aber eigent­lich weniger für seine Filme, als dafür, dass gegen ihn vom Mullah­re­gime ein lang­jäh­riges Berufs­verbot verhängt wurde, das er mit Haft und Schlim­merem bedroht wurde, womöglich bereits Folter hinter sich hat, als er mal eine längere Zeit verschwunden war. In Pardé (»Geschlos­sener Vorhang«) erzählt er von sich selbst und vom Künst­ler­sein im Iran und auf symbo­li­sche indirekte Weise – wie in der erwähnten Hundeszene – wird nichts verschwiegen. Es geht um einen Hund und seinen Herren, einen Filme­ma­cher. Hunde gelten dem Islam als »unrein«, darum ist ihr Besitz verboten. Beide verbar­ri­ka­dieren sich in einem Haus am Kaspi­schen Meer, eine junge Frau kommt noch dazu, die sich verste­cken muss, weil sie an einer verbo­tenen Party teil­ge­nommen hat. Diese klaus­tro­pho­bi­sche Situation wendet sich ins Surreale, als sich Menschen und Hunde als Figuren im Kopf eines Regis­seurs entpuppen... Panahi gelingt mit Pardé eine aufre­gende Verschrän­kung von Wirk­lich­keit und Fiktion, und ein hoch­po­li­ti­scher, künst­le­risch konse­quenter Film, der gewiss bei der Preis­ver­lei­hung nicht leer ausgehen wird. Trotzdem erntete der Film mehr Respekt, als Enthu­si­asmus.

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Wenn die Berlinale, die sich offen als das poli­tischste Film­fes­tival der Welt vermarktet, am besten ist, dann immer dann, wenn sie Bilder findet wie dieses der Hunde: Wo Filme nicht einfach Botschaften und Ideo­lo­gien vers­tärken oder rela­ti­vieren, wo Aussagen und Thesen verdop­pelt werden, sondern wenn sie eine Form finden, die über die bloße These hinaus­geht.
Drei weitere Filme domi­nierten den Wett­be­werb an den letzten Tagen: Bruno Dumonts Camille Claudel 1915 über die Bild­hauerin und Rodin-Gefährtin und den Moment, als sie ihre Karriere beendete. Eine stille, intensive Betrach­tung über eine Künst­lerin in der Krise. Danis Tanovic An Episode In the Life of an Iron Picker dreht sich einmal mehr um die Folgen des jugo­sla­wi­schen Bürger­kriegs: Eine bosnische Roma-Familie lebt vom Schrott­handel. Eines Tages muss die Frau mit Bauch­schmerzen ins Hospital. Sie war schwanger, doch das Kind ist tot. Wegen einer Blut­ver­gif­tung muss sie operiert werden, und nun beginnt eine Odyssee, die das paar nach Serbien führt. Tanovic drehte mit Laien, und das merkt man dem Film, an, erst recht weil der Stil des Films halb­do­ku­men­ta­risch ist. Auch proble­ma­tisch im Hinblick auf sein Thema, aber ungleich eindrucks­voller und inten­siver in seiner Insze­nie­rung ist der erste Film aus Kasach­stan, der es je in den Berlinale-Wett­be­werb geschafft hat: Harmony Lessons von Emir Balgazin handelt von einem Außen­seiter, der in der Schule gehänselt wird, und seinem span­nungs­vollen Verhältnis zu seinem Mitschüler Borat, einem jugend­li­chen Mafioso und Anstifter der Hänse­leien. Ein harter Film, in dem Regisseur Balgazin offen die Bruta­lität des kasa­chi­schen Alltags zeigt, zugleich stili­siert in einer Form, die von fern an den ähnlich ästhe­ti­sie­renden Umgang südko­rea­ni­scher Filme mit Gewalt erinnert. Und einer der ernst­haften Kandi­daten auf den »Goldenen Bären«, der heute Abend von der Jury von Wong Kar-wai und unter anderem Andreas Dresen vergeben wird.

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Favo­ri­siert für die Preise scheinen nun neben dem erwähnten Kasachen der chile­ni­sche Film Gloria, der Catherine Deneuves Abenteuer insofern ähnelt, als das auch hier eine nicht mehr junge, aber über­ra­schend jung geblie­bene und blendend ausse­hende Frau versucht, ihr Leben nochmal neu anzu­fangen. Und der rumä­ni­sche Film Mutter & Sohn von Calin Peter Netzer: Auch hier bringt ein Auto­un­fall eine Ketten­re­ak­tion in Gang, einen unauf­halt­samen Strom von Ereig­nissen. Eine Mutter aus der Ober­schicht versucht mit allen unmo­ra­li­schen Mitteln und viel viel Geld, ihren Sohn aus der drohenden Gefäng­nis­haft zu befreien. Ein intensiv gespielter, dyna­mi­scher Film über die mora­li­sche Verfas­sung der Gesell­schaft und den unmo­ra­li­schen Zustand von Justiz und Polizei. Im Zentrum steht aber die Über­mutter, die ihren längst erwach­senen Sohn aus einer Zwangs­lage heraus­zu­pauken versucht. Wegen solcher Figuren, die durch ähnliche in den Neben­reihen ergänzt werden – etwa eine dominante argen­ti­ni­sche Mama im Forums­film La paz, der ihr Sohn erst entkommt, als er am Ende ins Anden­hoch­land Boliviens zieht –, spricht Berlinale-Boss Dieter Kosslick diesmal von einer »Berlinale der Frauen«. Auf den Preis der »besten Darstel­lerin« darf man daher besonders gespannt sein: Wird Nina Hoss für die Haupt­rolle im deutschen Western Gold ihren zweiten Silberbär gewinnen? Oder die Südafri­ka­nerin Rayna Campbell als Layla Fourie in Pia Marais' gleich­na­migem Psycho­thriller? Nicht ohne Preis ausgehen wird jeden­falls die über­kan­di­delt stili­sierte, aber auch »typisch öster­rei­chisch« sarkas­ti­sche Farce Paradies: Hoffnung, in der Ulrich Seidl bei der Darstel­lung eines fetten Teen­ager­girls im Diätcamp alle Register aus Ästhe­ti­zismus und Menschen­ver­ach­tung zieht. Und sonst? Lassen wir uns über­ra­schen. Wie bei den deutschen Filmen Thomas Arslans und Pia Marais' gelten für diese Preis­ent­schei­dung zwei Berlinale-Bauern­re­geln: Nichts ist, wie es scheint. Und: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.

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Dazu kommt die ehernste Berlinale-Bauern-Regel, die in 10 der letzten zwölf Jahre komplett Bestand hatte, und die immer zumindest zur Hälfte galt: Es gewinnen nur Filme, die an den ersten fünf Tagen in der frühesten Pres­se­vor­füh­rung laufen. Also: In the Name of von Malgoska Szumowska, A Long And Happy Life von Boris Khleb­nikow, Gloria von Sebastian Lelio, Mutter & Sohn von Calin Peter Netzer und Pardé von Jafar Panahi. Mein persön­li­cher Tipp: Am Ende wird’s der Rumäne.