01.11.2012

Willmann ist sich einig: The Past Makes a Lovely Present

Video-Tape in Room 237
Das Video-Tape als Sehnsuchtsmedium:
The Shining, in Room 237
(Foto: Rodney Ascher)

Ein Brief von der Viennale

Von Thomas Willmann

Werte Frau Edelmann,

so sitze ich nun also im kalt­grauen, windigen Wien und erkunde die Auswir­kungen einer Käse­krainer/Trzes­niewski-Brötchen/Dragee Keksi/Bier-Diät auf die mensch­liche Physio­gnomie, alldie­weil Sie im verschneiten, so heimi­schen wie heime­ligen München an Lebkuchen knuspern und knäusern.
Ja, welch ein Jammer, dass die Viennale sich vor Ihnen zuerst so unver­schämt verfüh­re­risch geräkelt hat, Ihnen kokett Blicke zu blößen schien auf Michael Caine in Person, die Kubrick-Doku Room 237 und allerlei Feines in schönsten Licht­spiel­häu­sern. Nur um dann plötzlich die Eiskö­nigin raus­zu­kehren und zu meinen: »Nein heißt nein. SIE schreiben uns nicht über unser Festival!« Und Ihnen, werter Frau Edelmann, das bittere Los der Akkre­di­tie­rungs­lo­sig­keit beschied.
Nun muss ich also mit mir selbst einig sein. Was – Sie wissen es – nicht immer einfach ist. Und es bleibt ewig offen die Frage, ob sich, wie einst hier, in Wien dieses Jahr wieder einer jener seltenen Filme gefunden hätte, über den wir nicht d’accord gehen.
(»Dragee Keksi« übrigens, falls Sie sich wundern, ist die dies­jäh­rige Gratis-Süßigkeit, die in handlich-rasche­ligen Tütchen-Portionen in den Kinos verteilt wird. Eine durchaus leckere Rettung vor dem Unter­zu­cker, wenn man es zwischen zwei Filmen nicht ins Prückel schafft. Und ja, das heißt wirklich offiziell so. »Dragee Keksi«. Hihi.)

Was Sie sicher am meisten inter­es­siert ist: Wie war Michael Caine?
Und ich traue mich kaum, es ausführ­lich zu berichten. Möchte ich doch nicht noch mehren Ihren Schmerz. (Weswegen ich im Bishe­rigen wie im Folgenden auch auf jegliche Kalauer auf Ihre Kosten mit »zurück­ge­blieben« verzichte. Wogen der Dank­bar­keit bin ich mir gewiss...!)
Weil: Ja, freilich, er war toll! Es war großartig! Ein Erlebnis fürs Leben, usw. – und Sie sehen: Sie wollen das jetzt eigent­lich gar nicht hören.
Und selbst mir wird es flau, wenn ich bedenke, wie knapp das auch bei mir war! Weil das Mantra »Wir sind ein Publi­kums­fes­tival« gilt – wir sind in Wien – ja nun bitt'schön auch nur, bis der Herr Professor Magister Caine kommt, und man den Saal zum einzigen öffent­li­chen Auftritt zum Großteil füllt mit geladenen Gästen, weil, man kennt sich ja, und Habe die Ehre, und da muss der Herr Geheimrat doch, usw., und so fort. Und ich glaube, es waren weniger meine Drohungen, mich an die Film­rollen von Sleuth zu ketten, als die Strategie, mich mit hungerndem Hunde­blick vor dem Protokoll-Büro zusam­men­zu­rollen und ganz erbärm­lich zu wimmern, wann immer jemand mit einer Einladung zur Gala herauskam, die die Hüter über den Zutritt letztlich, nun ja, wohl weniger im eigent­li­chen Sinne überzeugt, als schlicht mehr ermüdet und zermürbt hat. Kurz: Ich war drin!
Und »Mister Sir Michael Caine« (Hans Hurch) war genauso eindrucks­voll, charmant, selbst­iro­nisch, hinreißend usw., wie unsereins sich das schon erhofft hatte. Viel­leicht reißt er ja in Wirk­lich­keit in seiner Freizeit heimlich kleinen Kätzchen die Glied­maßen aus, genüss­lich langsam, wer weiß – aber was er da auf der Bühne an Persona proji­ziert hat, das war so, um es auf Wiene­risch zu sagen, ursym­pa­thisch, dass es keinen schweren Lidschlag lang an der Über­zeu­gung gekratzt hat, dass er wirklich einfach einer der good guys ist, Punkt. (Und somit so oder so dann: Groß­ar­tiger Schau­spieler!)
Und jetzt könnte ich mich ja schon hinrei­chend und ausführ­lich über die Freude auslassen, im selben Raum, nur ein paar Meter von Michael Caine entfernt gewesen zu sein. Und zu erleben, wie er just jene Imitation seiner unzäh­ligen Imita­toren live vorführte, von der Sie mir unlängst als YouTube-Clip berich­teten. (»Oi don’t tahlk loike 'at«, findet er...) Und ihn dann zu hören, wie er John Wayne imitiert, wie der einst – lange Geschichte – den Hamlet-Monolog vorlas. ('To be. Or not. To be. That is. The Question. Whether it is...' Who wrote that shit?)
Aber wissen Sie, was an dem Abend noch schöner und hinreißender und beglü­ckender war als all das?
Zu erleben, dass Michael Caine selbst ein Fan war und ist. Genauso star­s­truck wie unsereins. Und mit einer kindi­schen, wangen­glühenden, diebi­schen Begeis­te­rung für die Begegnung mit SEINEN Idolen.
Viele der Anekdoten, die er in großer Erzähl­laune über fast eine Stunde zum Besten gab – und ja, gut, die meisten stehen schon so in einer seiner beiden Auto­bio­gra­phien, sind für ihn als Nummern abrufbar, aber bitte­schön, der Mann ist bald 80, und dafür noch erstaun­lich wenig zur Erin­ne­rungs­re­per­toire-Jukebox verkommen –, viele dieser Anekdoten also drehten sich darum, wie er selbst versucht hat, diesem oder jenem Star näher zu kommen. Wie er in seiner Anfangs­zeit in Hollywood mit großen Augen durch die Hotel­lobbys in Beverly Hills gestri­chen ist, auf Ausschau nach seinen Lein­wand­helden. (John Wayne war einer der ersten, die er tatsäch­lich kennen­lernte.) Wie er sich auf die Sets von Some Like It Hot und The Prince and the Showgirl schlich, um einmal Marilyn Monroe in Person zu sehen – leider erfolglos.
Und über die Bestä­ti­gung der Erkenntnis hinaus, dass da keine wahrhafte, tiefere Trennung ist zwischen jenen Menschen, die ihre Träume auf die Leinwand bringen, und jenen, die sie von der Leinwand empfangen, sondern eben alles schlicht normale Menschen sind, und es nur drauf ankommt, was man macht... – nun, darüber hinaus war das Schöne am Erlebnis »Michael Caine, Filmfan«: Dieses Gefühl der Staf­felü­ber­gabe zwischen den Gene­ra­tionen. Wayne inspi­riert Caine, Caine inspi­riert Jude Law, der inspi­riert... usw. Menschen werden eben nicht als Filmstars geboren – das Kino zeugt diese selbst, pflanzt ihnen die Träume, Wünsche, Leiden­schaften ein. Es ist wie ein gutar­tiger Virus, der die Empfäng­li­chen, die sich zu oft der Leinwand aussetzen, befällt, und sie trans­for­miert, bis sie ihn einst selbst weiter­ver­breiten.
Und viel­leicht kann man das Besondere an Michael Caine auch so formu­lieren: Selbst nach vier Jahr­zehnten als Star ist er noch immer höchst anste­ckend.

Das war auch insofern ein idealer Auftakt, weil sich inzwi­schen heraus­ge­stellt hat, dass durch diese Viennale – jeden­falls für meiner­einer – ein unter­schwel­liges Motiv- und Themen­ge­spinst (respek­tive: Knäuel) wuchert, in dem immer wieder Fragen der Vergäng­lich­keit, der Zeiten­wenden, der Rückkehr von Vergan­genem, der Beharr­lich­keit und der Ablösung sich zeigen, ziehen, ballen, knoten, blub und blah, usw. Ich hoffe, dass ich das noch ein wenig aufge­drö­selt, ausein­an­der­ge­zupft bekomme. Aber, werte Frau Edelmann, erlauben Sie mir zunächst einfach, nach dem ein oder anderen losen Ende zu picken und ein wenig daran zu zerren, in der Hoffnung, dass es mich viel­leicht irgend­wohin führt.

Und Sie ahnen eh, was jetzt kommt. Weil Sie ja, s.o., schmerz­lich gut über das auf der Viennale Gebotene infor­miert waren und sind. Und wenn ich jetzt schon so um das Wort »Ariad­ne­faden« herum­schar­wen­zele, dann freilich weil: The Shining.
Keine Angst, ich habe nicht vor, mich zu tief in dieses Labyrinth der Zeichen zu begeben. Dieses Epistel will ja a noch dieses Jahrzehnt und b in maximal zwei­stel­ligem Seiten­zah­len­be­reich absen­de­fertig sein. Und was soll ich auch einer, gleich mir, prak­ti­zie­renden Gläubigen der »Church of Stanley« – heilig, heilig! – predigen. (Aber wissen Sie, werte Frau Edelmann, was einmal lustig – für noch zu defi­nie­rende Werte des Begriffs »lustig« – wäre? Ein »Edelmann und Willmann sind sich einig«-Text über einen Film von Kubrick. Hätten Sie die nächsten paar Jahre Zeit?)
Nein, nun, also aber kurz (haha!) zu The Shining.
Bzw. Room 237. Jener »Doku« (der Film war eher ein, äh... Essay) über The Shining, die ich, gleich nach Michael Caine im mitternächt­li­chen Double Feature vor The Shining im Garten­bau­kino gesehen habe.
Um mit Magnum zu sprechen: »Ich weiß, was Sie jetzt denken«. Hatte ich zunächst insgeheim auch gedacht. Nämlich: »Ja schön – aber was will uns ein Film über The Shining bitte noch groß beibringen?« Man kennt ja doch diese gewöhn­li­chen Doku­men­ta­tionen über Meis­ter­werke, die schön staats­tra­gend wohl­ver­traute Anekdoten sammeln und dann viel­leicht noch einen Film­wis­sen­schaftler kurz andeuten lassen, dass man womöglich über den ein oder anderen Aspekt noch ein bisserl länger nach­sinnen könnte. Und der beflis­sene Bildungs­bürger sagt »Ah!«, und unser­seins sagt »Gähn!«.
Nicht so Room 237. Der nimmt es als gegeben hin, dass The Shining ein großer, komplexer, phäno­menal rätsel­hafter Text ist. Und führt in sehr clever bebil­derten (Bava/Argentos Demoni, hurrah!) Monologen diverser Shining-Exegeten vor, wie man versuchen kann, ihn zu lesen.
Da ist freilich auch viel Bekanntes und Bestä­tigtes dabei – wie durch­drungen der Film etwa ist von Anspie­lungen auf den Genozid an den ameri­ka­ni­schen Urein­woh­nern, oder von Laby­rin­then in unzäh­ligen Gestalten. Aber auch für uns, die bei den »Calumet«-Dosen nicht mehr »Ach was!« rufen, finden sich etliche neue Details. Hatten Sie, werte Frau Edelmann, schon bemerkt, dass in Stuart Ullmans Büro mit seinem großen, hellen Fenster, von der Topologie des Hotels her unmöglich ein Fenster sein kann? Ich nicht, obwohl es so offen­sicht­lich ist, wenn man’s mal weiß, und ich eigent­lich kaum einen Filmort so genau glaubte zu kennen wie das Shining-Hotel. Haben Sie schonmal drüber nach­ge­dacht, was für eine völlig seltsame Figur Bill Watson ist? Hatten Sie den Gag mit dem zerquetschten roten VW-Käfer verstanden? Ist Ihnen schon das mal ganz kurz zu sehende Bild an der Wand von dem India­ner­häupt­ling mit der Büffel­kopf-Mütze aufge­fallen – der natürlich zugleich der Mino­taurus ist?
Ich weiß, ich weiß, Sie sagen jetzt wie üblich: Ja, gewiss. Ihnen nicht?
Ist in Ordnung.
Aber so oder so behaupte ich: Auch für Sie wäre Neues geboten.

Doch das ist noch nicht der Punkt. Das allein würde Room 237 schon sehens­wert machen. Aber richtig toll wird er, weil es ihm nicht um einzelne Lesarten geht, und wie gut sich das, was sie behaupten, am Film selbst belegen lässt. Es ist erst die Häufung der Inter­pre­ta­tionen, die ohne Kommentar und in schöner Ausführ­lich­keit darge­boten werden, die The Shining wirklich nahekommt, seiner Größe gerecht wird.
Room 237 demons­triert im Extrem, was wir aus eigener Erfahrung schon wussten: Wie sehr man sich in The Shining verlieren kann. Wie sehr der Film dem Hotel gleicht, einen schluckt, wahn­sinnig macht. Inmitten all der Mikro-Beob­ach­tungen, komplexen Deutungen, zu denen wir Kubrick-Getauften mal wissend, mal aner­ken­nend nicken, gibt es hier etwa auch eine verstie­gene Theorie, die The Shining komplett als geständ­nis­hafte, auto­bio­gra­phi­sche Aufar­bei­tung von St. Stanleys Fälschung der Mond­lan­dung liest. Und das wirklich Verrückte: Ihre Argumente klingen, für sich genommen, nicht unplau­si­bler als jene der anderen Deutungen.
Die Grenzen sind fließend zwischen close reading und purer Paranoia, bei The Shining.
Aber genau damit ist man tatsäch­lich bei dem, was der Film ist, ihn ausmacht: The Shining ist nicht darauf aus, eine bestimmte Lesart zu provo­zieren. Er will nicht, es gibt nicht die eine »richtige« Inter­pre­ta­tion. (Und auch nicht die zwei, drei konkret hinein­co­dierten.) The Shining ist vielmehr eine Art Maschine zur Produk­tion von Lesarten. (Ich fürchte, die Formu­lie­rung könnte ich, aus anderem Zusam­men­hang, von Eco haben – das wissen Sie jetzt wieder besser. Aber eh: Darum geht es, diese endlosen Echos!) Alles ist über­de­ter­mi­niert, ist zigfach und kreuz und quer aufge­laden mit Bedeutung, mit Verweisen, mit Resonanz. Dannys Apollo 11-Pullover zeigt auf die »New Frontier« (und damit zu Ullmans Kennedy-Frisur), und somit zur alten Frontier, und den Indianern, und die Rakete gleicht einem Pfeil, und dabei genau jenem Dekor an der Wand im Foyer, und Pfeil heißt aber auch »Richtung«, und damit sind wir bei der für den Film so enorm wichtigen Topo­grafie, und dem Labyrinth – und aber halt, gott­ver­dammt, auch sehr direkt bei der blöden Mond­lan­dung! Und man kann Tage damit zubringen, das Red-White-and-Blue durch den Film zu verfolgen, und dann klinkt sich aber immer wieder gern eine Farbe aus (vor allem das Rot), und schon ist man in anderen als nur US-ameri­ka­ni­schen Kontexten drin. Jede Schrift, jedes Wort, jedes Dekor – alles ist lesbar, deutbar, alles passt und verwirrt einen zugleich.
Room 237 erfasst das, demons­triert das – und begreift damit besser als fast alles andere, was ich an Sekundär-Texten kenne, das Prinzip nicht nur von The Shining sondern des späten Kubrick: Die Konstruk­tion von enorm kulturell aufge­la­denen Reso­nanz­ge­bilden. Keines­wegs belie­bigen – welche Themen, Kontexte ange­stoßen werden ist durchaus begrenzt, bewusst, ausge­wählt. Aber halt überhaupt nicht auf so etwas wie eine »Aussage« beschränkt. Diese Filme – The Shining allen voran, auch wenn ich das selbst erst sehr spät kapiert, ihn lang unter­schätzt habe – sind Speicher. Sie sind selbst durch­spukt. Es geistert in ihnen. Sie sind angefüllt mit einer nicht ruhen wollenden Vergan­gen­heit, einer Präsenz – sie sind bewegte, quasi begehbare, zu erlebende Erin­ne­rung.

Und natürlich musste ich sowohl Room 237 als auch The Shining in Wien (wieder)sehen. Wo auf den Tüten des Stadt­mu­seums-Shops der Spruch prangt: »The Past Makes a Lovely Present«.
Weil: The Shining just is that way. Er spukt über die bloßen Ränder des Zellu­loids hinaus. (Anmerkung für spätere Gene­ra­tionen: »Zelluloid« war mal ein Träger­ma­te­rial für Film. Fragt Eure Großel­tern.) So, wie nach einem Film von Tati plötzlich in der Welt alles lustig ist, jeder Gang eines Passanten plötzlich Komik hat, so program­miert einem auch der späte Kubrick, und zumal The Shining, die Wahr­neh­mung um. Es wuchert – mit Dopp­lungen, Spie­ge­lungen, Verbin­dungen, Zufällen, über­ra­schenden Bedeu­tungen.

So, jetzt habe ich vor diesem Film auf einmal Angst!
Und wahr­schein­lich berech­tigte.
(Was ich beim Wieder­sehen auch gemerkt habe: Obwohl ich anfangs The Shining nicht allzusehr mochte, hat er sich vom ersten Trailer an, damals in meiner Jugend, angefühlt nicht, als würde er mir neue Bilder bieten, sondern irgendwo in mir verschüt­tete freilegen. Das verdammte Ding geht, sitzt sowas von – in mehr­fa­cher Bedeutung: – ungeheuer tief. Man schaut diesen Film nicht an. Man wohnt in ihm.)
Wahr­schein­lich hat er es erst gemacht, dass das Thema Vergan­gen­heit, Wieder­kehr mich seither auf diesem Festival verfolgt. Hätte ich ihn nicht ange­schaut, ginge es vermut­lich dauernd um, weiß nicht... Gemüse. Oder Sex. Usw.

Nun ja, mehr zu alldem hoffent­lich ein andermal.
Gehaben Sie sich wohl,
à la prochaine & au revoir,
Ihr
Herr Willmann