31.05.2012
65. Filmfestspiele Cannes 2012

Filme­ma­cher erzählen nicht immer die Wahrheit

Jagten
Thomas Vinterbergs Jagten: Missbrauch des Missbrauchthemas
(Foto: Wild Bunch Germany GmbH / Central Film Verleih GmbH)

Was vor den Palmen übrigblieb: Letzte Filme und erste Preise in Cannes, Neues von Wong Kar-wai und ein Missbrauch des Missbrauchsthemas – Cannes-Tagebuch, 5. Folge: Samstag, Sonntag

Von Rüdiger Suchsland

Gespräch mit der Wiener Kollegin Alexandra über Reygadas Post Tenebras Lux, den sie ungemein präten­tiös findet. »Wie Murnau« sage ich. »Meinet­wegen« sagt sie, »aber eben nur wie Murnau, nicht Murnau.« »Murnau ist auch über­schätzt« antworte ich, »Fritz Lang ist viel besser.« Sie: »Natürlich ist er das. Warum sagt das eigent­lich keiner?« Müssen wir’s halt tun. Hiermit wäre das also jetzt auch gesagt.

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Zum Ausklang des Festivals lief noch Le Serment de Tobruk vom fran­zö­si­schen Star­in­tel­lek­tu­ellen Bernard Henri Levy – ein schlichter, aber eindeu­tigen Doku­men­tar­film, in dem die Geschichte des Befrei­ungs­kampfes von Libyen und der west­li­chen Unter­s­tüt­zung erzählt wird.

Zwar ist dies ein erkennbar eitles Werk, in dem BHL, wie man ihn in Frank­reich nur nennt, immerzu blendend angezogen, im weit offenen weißen Hemd zwischen Ruinen, Schüt­zen­gräben und Flücht­lings­la­gern flaniert, um in der nächsten Szene wieder an der Seite von Sarkozy oder Hilary Clinton Welt­po­litik zu betreiben. Aber immerhin ist ihm das auch gelungen. Der Film hält mit nichts hinterm Berg, er ist offen und klar – und er zeigt, wie die Anti-Ghaddafi-Koalition geschmiedet wurde, und welche Opfer die lybische Bevöl­ke­rung zu erleiden hatte. Es ist ein aufrüt­telndes, emotio­nales Kinodrama, das Pathos nicht scheut, das uns Gleich­gül­tigen in den west­li­chen Metro­polen klar­ma­chen möchte, dass es an uns selber und nur an uns liegt, ob der Westen für den Rest der Welt ein Stück Hoffnung verkör­pert – oder nur das Objekt von Verach­tung.

Zudem ist Le Serment de Tobruk ein Hohelied auf einen Typus des enga­gierten Intel­lek­tu­ellen, der persön­lich mutig und bewusst subjektiv eingreift – einen Typus, wie es ihn bei uns gar nicht gibt, neben dem ein Günter Grass wie ein poli­ti­scher Clown und eine Farce wirkt.
Schade, dass den deutschen Kollegen zu BHL nichts Besseres einfällt, als nach­zu­zählen, wieviel Knöpfe seines Hemds er gerade offen hat.

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Da sitzen wir nun im »Salle Soixan­tieme« und warten gespannt. Immer mehr Kollegen strömen herein. Ein myste­riöses »Mystery-Screening« wurde uns angekün­digt. Irgend­je­mand erzählte: Zehn Minuten von Malick und von Tarantino. Ein anderer meint Refn und Wong Kar-wai. Schaun wir mal. »Wein­steins Reste­rolle, nein danke.« lehnte Guiseppe Rapido kühl ab, als ich ihm noch eine SMS schrieb.

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Dann tritt Thierry Fremaux vors Publikum und zeigt wieder mal seine Fähig­keiten als guter Gebraucht­wa­gen­ver­käufer: Halb fran­zö­sisch halb englisch moderiert er elegant eine Trai­ler­show, die ganz offen­kundig auch den Zweck hat einigen Sponsoren – »cheres amis de Cannes« – einen Gefallen zu tun. Es beginnt mit 5 Minuten Gutmensch­li­chem: Sean Penn und Paul Haggis tun Gutes in Haiti, Penn vor allem ist offenbar ein Tausend­sassa, der überall selbst mit anpackt, Sandsäcke schleppt und Kubik­meter vermisst, baggert und dabei das große Wort führt. Fehlt nur noch, dass man ihn im OP das Skalpell führen sieht. Dazu läuft schlechte Musik, und unwill­kür­lich frage ich mich, ob es in Haiti eigent­lich schon McDonalds gibt.

Dann ist Disney mit seinen Verkaufs­film­chen an der Reihe: Chin­panzès geht über Schim­panse – »Sie sind wie wir.«, dann zwei Pixar­filme: Rebelle heißt einer.

Dann legt Fremaux wieder los: »What is coming now, is subtitled. But it’s very french, what we will be seeing now – I am very sorry for that.« Lachen im Saal. Es folgt ein längerer Trailer zu Porn in the Hood, bestimmt eine ziemliche Dödel­komödie, die ich trotzdem witzig finde, weil da von einem Porno die Rede ist, der »Anal-Quaida« heißt…

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Dann wird’s ernst: Ein paar Minuten aus Spring Breakers von Harmony Korine, bei dem es in sehr sehr poppigen Farben offenbar um vier leicht­be­klei­dete Ami-Mädels geht, die einen Bankraub begehen, du auch sonst ihren Spaß haben. Man sieht viel nackte Haut und alles wirkt eher wie ein Film von Larry Clark.

Der nächste Film spielt in Thailand. Es ist Nacht, man sieht einen langen Gang, eine Table-Dance-Bar, rotes Neonlicht, es läuft der Song: »Stay away from me«, und auf einer Couch sitzt einsam Ryan Gosling. Dann steht er auf und prügelt zwei Asiaten brutal zusammen. Alles sehr 80er, handfest, wirkt wie eine Fort­set­zung von Drive und ist tatsäch­lich ein unge­schnit­tener Auszug aus Only God Forgives, dem neuen Film des unge­wöhn­li­chen Dänen Nicholas Winding Refn, der uns alle hier vor einem Jahr mit offenem Mund staunend zurück­ließ.

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Zumindest um den letzten Ausschnitt darf Guiseppe Rapido dann doch etwas neidisch sein (und war er später auch): Eis und Schnee über Pflanzen, alles Grau, Weiß, Blau, eine Tochter redet aus dem Off über ihren Vater. Gespielt wird sie von Zhang Ziyi. Dann sieht man einen Alten, bei Kampf­kunst-Übungen im Innenhof eines alten chine­si­schen Hauses. »It’s a pity, I am not a man.« sagt Zhang Ziyi, dann übt sie selbst, und die Kampf­be­we­gungen sehen aus wie ein Tanz, draußen im Schnee, im blauen Kleid. Ein Girl, das aus der Kälte kam. Das Wich­tigste sagt sie, sei der »Code of Honor«…
Das seien, so Fremaux, exklusiv für heute Abend geschnitten, 5 Minuten aus The Grand­master, dem neuen Film von Wong Kar- wai. Den wollen wir sofort sehen. Ganz!

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Die ersten Preise in Cannes wurden schon am Samstag vergeben: Den Preis der »fipresci«, der Inter­na­tio­nalen Film­kri­ti­ker­jury, gewann Sergei Loznitsas V tumane. Das über­rascht mich gar nicht, zum einen weil die fipresci-Jurys in Cannes in der Regel eher staats­tra­gend mit alten, verdienten Kollegen besetzt sind, und entspre­chend einen anti­quier­teren Geschmack hat, als auf anderen Festivals. Entde­ckungen gemacht oder gar radikale, aufre­gende Entschei­dungen haben die Kriti­ker­jurys hier schon lange nicht mehr.

Und V tumane ist, wie ich bereits geschrieben hatte in seiner über­langen schwer­blü­tigem Bedeu­tungs­hu­berei und seinem altbacken-konser­va­tiven Stil genau, was hier gute Preis­chancen hat.
Was mir aber Sorgen­falten auf die Stirn schiebt, ist, dass der Kriti­ker­preis in den letzten Jahren oft identisch war mit der Goldenen Palme – was auch nicht für die Besetzung der fipresci-Jury spricht.

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Die Preise für die anderen Sektionen gingen in der Sektion »Un Certain Regard« an Ben Zeitlin’s Beasts of the Southern Wild, der schon den »Grand Jury Prize« beim Sundance Film Festival bekommen hatte. In der Quinzaine gewann Rachad Djaidani’s Hold Back, den ich nicht gesehen habe.
Die Ökume­ni­sche Jury gab ihren (Gutmen­schen-)Preis an Thomas Vinter­bergs Jagten und eine lobende Erwähnung nochmal an Beasts of the Southern Wild.

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Kurz habe ich mich gewundert, warum die Ökume­ni­sche Jury ihren Preis denn nicht an Haneke gegeben hatte. Aber ich bin eben offenbar einfach zu gottlos, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. Gutka­tho­li­sche Aufklärung kam dann gerade noch recht­zeitig aus Deutsch­land: Natürlich darf ein Film, in dem der Ehegatte die Ehefrau mit einem Kopf­kissen erstickt, keinen Kirchen­preis bekommen. Jeden­falls nicht, wenn er das auch noch als Liebes­hand­lung versteht. Hätte der Gatte die Alte wenigs­tens aus Habgier oder wegen einer Jüngeren kalt erdros­selt, und wäre dann ein wenig von Teufeln gezwickt, von Dämonen gejagt und vom eigenen Gewissen gemartert worden, dann wäre das natürlich etwas anderes. Aber ein glück­li­cher Tod im Angesicht tödlicher Krankheit darf nicht sein. Da hat man auszu­halten, und bitte­schön anständig hart zu sterben. Glück­liche Tode, die erlaubt die Kirche nur am Kreuz.

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Wahr­schein­lich liegt die Ökume­ni­sche Jury damit im Fall von Haneke sogar richtig, denn was man so »einen guten Christen« nennt, ist der vermut­lich nicht. Eher schon denkt man bei Amour an den Skeptiker Montaigne. Filme gucken, heißt sterben lernen. Die Menschen sind zärtliche Monster, wie es im Film einmal heißt.

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Vinter­bergs Jagten der den Kirchen­preis schließ­lich bekommen hat, habe ich am Sonntag kurz vor der Preis­ver­le­hung noch nach­ge­holt. Das hätte ich mir sparen können. Ein aufge­bla­sener über­flüs­siger Film, bei genauerem Nach­denken sehr unsym­pa­thisch. Ober­fläch­lich gesehen geht’s um etwas Ähnliches wie seiner­zeit in Das Fest, Vinter­bergs bisher einzigen wirklich guten Film. Kindes­miss­brauch. Diesmal aber statt Verdrän­gung ein falscher Verdacht und eine Hexenjagd. Mads Mikkelsen über­deut­lich »gegen den Strich« besetzt, also als sensibler Softie, Kinder- und Frau­en­ver­steher, und damit man das auch glaubt, bekommt er eine runde Brille auf die Nase.

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Das schreck­lichste Ereignis des Films ist aus Sicht der Zuschauer fraglos der Tod des Hundes. Als der Hund, der auf den kapri­ziösen Namen Fanny hört, tot ist, geht ein Schluchzen durch die Reihen. Ansonsten merkt man am Rutschen auf den Sitzen eine gewisse Unruhe – die Schwäche des Films überträgt sich auf die Körper der Zuschauer.

Der Regisseur verliert die Erzähl­fäden gleich im Dutzend aus der Hand. Da ist die Geschichte der offenbar auslän­di­schen Geliebten von Lucas, der von Mikkelsen gespielten Haupt­figur. Sie ist eigent­lich nur dazu da – ja wozu eigent­lich? Wir wissen nicht, woher sie kommt. Wir sehen, wie sie auch Probleme bekommt, als Lucas in Miss­brauchs­ver­dacht gerät. Sehen, dass sie offenbar zu Lucas steht, und dann doch nicht richtig, und irgend­wann von ihm raus­ge­schmissen wird. Sie soll also drama­tur­gisch zum einen klar machen, dass das Geschehen Lucas wirklich mitnimmt, und natürlich, dass er »ein normaler Mann« ist, dass also in den Augen der Zuschauer auch nicht der Schatten einer Distan­zie­rung aufkommt, weil Lucas kleine Mädchen an der Hand nimmt und zum Kinder­garten begleitet.

Vinter­berg vergießt auch die etwas trut­schige Kinder­garten-Chefin, die aus der dummen Bemerkung eines kleinen Mädchens sofort eine Staats­af­faire macht. Schließ­lich hat Vinter­berg offenbar die Lust verloren und der Film hört ziemlich aprupt auf. »Ein Jahr später«, eine Jagd­ge­sell­schaft, die Welt ist weit­ge­hend wieder in Ordnung.Vor allem aber ist das ein frau­en­feind­li­cher Film. Denn keine einzige Frau kommt wirklich gut weg. Die Frauen reagieren aus Sicht der Zuschauer völlig über­trieben. Was sich bewährt, ist der Männer­bund der Jagd­ge­sell­schaft. Hier halten einige Freunde zu Lucas. Am Schluss gibt es dann eine Szene, in der Marcus, Sohn von Lucas – offenbar heißen sie alle wie Evan­ge­listen – in die Gemein­schaft der Männer aufge­nommen wird.

Man könnte natürlich auch mal über Puri­ta­nismus reden: Viel­leicht spinnt nicht nur die Gesell­schaft, die aus einem Kinder­vor­wurf heraus ein Leben ruiniert, viel­leicht reagiert schon Lucas über, der den Vorwurf unwil­lent­lich provo­ziert, indem er die sehr unschul­dige Zuneigung des Kindes etwas brüsk zurück­weist: »Kiss is for Mummy + Daddy only«.

Für die Kirchen­jury scheint das alles trotzdem wie gemacht: Ein wichtiges, rele­vantes Thema, eine tier- und kinder­liebe Haupt­figur, die ungerecht zum Opfer wird. Und die große Katharsis kommt zu allem Überfluß am Weih­nachts­abend, in der Kirche!
Da sitzt ein geschun­dener Mikkelsen vor dem Altar, kann die Tränen nicht mehr zurück­halten. Und das Mädchen gesteht, es sei an allem nichts dran gewesen.

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Aber viel­leicht ist die Ökume­ni­sche Jury da unwis­sent­lich in eine Falle gegangen, die ihr noch unan­ge­nehm werden wird: Denn Vinter­bergs Position zur Miss­brauchs­de­batte wirkt nach gewissem Nach­denken doch sehr einseitig. Wir Zuschauer wissen zwar, dass Lucas nichts gemacht hat. Da ist es leicht, auf seiner Seite zu sein. Wir sehen, wie die älteren Frauen dem Kind einreden, es sei »etwas geschehen«, wie sie igno­rieren, dass das kleine Mädchen sehr früh mehrfach wieder­holt, sie habe etwas Dummes gemacht.

Wir Zuschauer lernen also: Alles Unsinn mit diesem Miss­brauchs­vor­wurf, alles über­trie­bene Hysterie. Die wahren Opfer sind die vermeint­li­chen Täter. Und, nicht zu vergessen: Der arme Hund.
Wenn wir dann noch an die aktuelle Miss­brauchs­de­batte der letzten zwei Jahre denkt – ist es da nicht etwas unsen­sibel, dass ausge­rechnet die Kirchen­jury solch einer Abwieg­lung und Rela­ti­vie­rung des Miss­brauchs­themas eine Auszeich­nung verleiht?

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»Kinder erzählen nicht immer die Wahrheit.« lernen wir. Filme­ma­cher aller­dings auch nicht. Worum es in »Jagten« nämlich wirklich vor allem geht, ist noch etwas ganz anderes: Es geht vor allem darum, Tomas Vinter­berg zurück nach Cannes zu bringen, seine erschüt­terte Repu­ta­tion als Regisseur wieder­her­zu­stellen. Ein klarer Miss­brauch des Miss­brauchs­themas.

Nächste Woche folgt dann eine Bilanz des Festivals mit aller­letzten Film­im­pres­sionen und Kommen­taren zur Preis­ver­lei­hung.