65. Filmfestspiele Cannes 2012
Aaaah die Priester... |
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Michael Hanekes Amour: die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht | ||
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH) |
»Keine Ahnung, wer das in die Welt gesetzt hat, vielleicht warst es ja Du«, sagte Nick James zu mir auf dem netten Empfang des Filmfestivals von Locarno am Sonntagnachmittag, »aber in letzter Zeit ist viel von einer gewissen Tendenz zur Arthouse-Exploitation die Rede. Ich finde, da ist einiges dran.« Nick ist leitender Redakteur der ganz tollen britischen Filmzeitschrift »Sight & Sound«, und wir kennen uns, seit wir vor Jahren einmal in Istanbul zusammen auf einem Podium saßen. Immer wieder läuft man sich über den Weg, nicht nur in Cannes, aber selten gibt es wie jetzt, während wir darauf warten, dass sich der heftige Gewittersturm draußen wieder legt, Gelegenheit, einmal länger miteinander zu reden, und sich über mehr auszutauschen, als über den Film, aus dem man gerade gemeinsam hinausgeht. Zuerst ging’s um Fußball, am Vorabend hatte Bayern München das »Finale dahoam« gegen Chelsea vergeigt, und Nick, der sich erzählte von seinem eigenen Schicksal: Als Manchester-United-Anhänger musste er erleben, wie die schon sicher verloren geglaubte Meisterschaft am Samstag vor einer Woche plötzlich wieder greifbar nah war, weil Rivale Manchester City zuhause völlig unerwartet zurücklag – um den Rückstand in der Nachspielzeit dann doch noch zu drehen: »Meine Frau hatte mich extra gerufen – ›Du solltest den Fernseher anschalten‹, weil ManU auf dem ersten Platz stand. Und dann das!«
Dann geht es über den Wettbwerb von Cannes. Nick ist mit etwa 50 der zweitjüngste unter denjenigen, die im »Festival-Daily« der Branchen-Zeitschrift »Screen« alle Wettbewerbsfilme bewerten. Ich teile seinen Geschmack nur sehr eingeschränkt, aber er hat immer sehr gute Argumente und seine Texte gehören zu den besten in ganz England.
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»Did you like the Haneke?« Ob man etwas »mochte« ist natürlich eigentlich ziemlich wurscht. Und doch ist dieses like/dislike loved/hated das zentrale Kriterium der Verständigung zwischen Filmkritikern. Über Haneke sind wir uns schon mal einig. Auch über Andersons Moonrise Kingdom – »the perfect opener« sagt Nick. Über Christi Mungius Beyond the Hill weniger. Aber auch Nick findet, dass man den rumänischen Wettbewerbsbeitrag gut als Exploitation-Film bezeichnen kann. Und Ulrich Seidls Paradies: Liebe sei natürlich »pure Exploitation«.
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»This Day is a complete disaster« meint Olivier Père, der Direktor von Locarno. Gerade eben ist der Empfang seines Festivals zuende gegangen, von dem er sich schon – »to crowded« – vor einer halben Stunde verdrückt hat. Aber den Empfang kann er nicht gemeint haben, genausowenig wie die Filme. Die waren heute alle toll. Trotzdem hat er recht: Es regnet wie aus Eimern da draußen, schon seit zwei Stunden, und das so, wie ich es in Cannes in zehn Jahren noch nie erlebt habe. Mit Giulia, seiner Assistentin, hatte man eben noch Witze gemacht über »our postapocalyptic party«, »it’s like on the piazza – oh no! Don’t say it«. Gerade während ich diesen Text schreibe, steht der Direktor Thierry Fremaux mit Regenschirm auf dem Roten Teppich, und empfängt Isabelle Huppert und Michael Haneke, die auch mit Regenschirmen hochwaten. Die Fotografen werden sich freuen.
Das alles hat auch logistische Folgen: Das eine große Kino, das in einem provisorischen Zelt errichtet ist, wurde geschlossen, entweder wegen Überschwemmung oder Wassereinbruch oder, weil man im prasselnden Regen den Ton nicht mehr gut verstehen kann. So bleiben jetzt alle, die sonst dort wären oder auf irgendeinem Empfang oder essen gehen würden, im Palais in den anderen Kinos. Olivier ist daher eben nicht mehr in den Haneke reingekommen. Und vieles Weitere wird vermutlich »ins Wasser fallen.« Das wiegt umso schwerer, weil Cannes an diesem ersten Wochenende so voll ist, wie nie.
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Schon heute Morgen hatte man das merken können: Ich kam um 8.15 vor dem Kino an, eine Viertelstunde vor Vorstellungsbeginn, was normalerweise völlig ausreicht. Aber diesmal, vor der Pressevorführung von Michael Hanekes neuem Film, gab es regelrechte Kämpfe in den Journalistenschlangen, Gedrängel und Geschiebe. Ich komme noch gerade rein, 20 Leute später machten sie das Tor zu. Aber im Saal waren dann Plätze frei, und ich sehr gut, relativ mittig in einer vorderen
Reihe.
Der Himmel draußen war grau und noch trocken. Beides passte, trotz allem, auch zu dem Film.
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Wir sind alle des Todes. Wir wissen das, aber wir machen uns das auch jenseits eines Filmfestivals nicht klar. Und es ist ja auch nicht wirklich angemessen, nicht richtig, wenn der Tod seinen Schatten schon auf unser Leben wirft. Er ist der absolute Feind, er wird siegen, wir werden trotzdem gegen ihn kämpfen mit all unserer Macht, wissend um die Aussichtslosigkeit dieses Kampfes, aber voller Stolz, denn in ihm liegt unsere Würde. Genau darum müssen wir ihn, den Tod nicht verehren und würdigen, müssen ihm kein Recht und keinen Platz geben in unserem Leben. Im Gegenteil.
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Haneke erzählt von einer Abwärtsspirale. Von einem Weg zum Tode. Er stellt zwei Menschen vor und beschreibt diesen letzten Weg und den Umgang mit ihm. Er handelt nicht von Sterbehilfe, nicht vom Freitod. Vielleicht handelt er nicht einmal vom Tod. Sondern vom Sterben.
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Das erste Bild zeigt eine Haustür, Altbau, von innen. »Fire Department!« Ein paar kräftige Schläge, die Tür ist aufgebrochen. Draußen wird geredet, über »sie«, die man lang schon nicht mehr gesehen habe, genau wie die Pflegerin. Mit einem Beamten treten wir ein, werfen ein Blick in ein Wohnzimmer, Fenster werden geöffnet, eine mit Klebeband versiegelte Tür aufgebrochen. Darin, auf dem Bett, festlich angezogen und mit Blumen geschmückt die Leiche einer alten Frau, deren Tod offenkundig schon eine Weile her ist – ihr Gesicht ist eingefallen. Wir glauben also zu wissen, worauf der Film zuläuft. Aber eigentlich wissen wir nichts.
Schnitt. Blick auf einen Konzertsaal von der Bühne aus, aufs Publikum. Ein Wimmelbild, viele Leute, alles bewegt sich. Ein bisschen wie das Ende von Caché. Langsam wird es ruhig, und mit unglaublich sicherer Hand gelingt es Haneke, unseren Blick trotzdem auf ein altes Paar zu lenken, das einigermaßen zentral sitzt. Womöglich erkennen wir Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Sie spielen das Paar, um das es hier geht, Georges und Anne. Ganz leicht blickt er sie an, von der Seite. Man spürt Vertrautheit; Liebe. Dann beginnt das Konzert, eine Schubert-Sonate.
Mit der Straßenbahn fahren sie nach Haus, in die Wohnung des ersten Bildes. Am (vermutlich) nächsten Morgen sitzen sie in der Küche beim Frühstück, reden über Beiläufiges. Plötzlich stimmt etwas nicht. Anne antwortet nicht, starrt reglos. Ein paar Minuten später scheint alles wieder normal, sie kann sich an ihr Schweigen gar nicht erinnern, dann gießt sie sich noch einen Tee ein – Zentimeter neben die Tasse.
Es geht schnell. Aus einem Gespräch mit der von Isabelle Huppert gespielten Tochter, der einzigen weiteren Person in diesem Film, die einigermaßen wichtig ist, erfahren wir von einem Schlaganfall, einer Operation. Dann kommt Anne nach Hause, im Rollstuhl sitzend. Jetzt erst lernt man beide näher kennen: Musik spielt in beider Leben eine große Rolle. Sie war Klavierlehrerin auf höchstem Niveau, vielleicht einst selbst Pianistin. Er war Autor, womöglich Schriftsteller, oder
Musikwissenschaftler. Er spielt auch Klavier. Man liest ein Buch über Harnoncourt, die Le Monde. Lebt in einer tollen Riesenwohnung, die hochangenehm und entspannt wirkt. Es gibt einen Flügel, viele Bücher, eine alte Schreibmaschine, keinen Fernseher, aber eine CD-Anlage, keinen PC, aber ein Mobiltelefon, und auch wenn das Dekors zeitlos ist und ein bisschen altmodisch, das Leben der beiden eher durch die 50er-Jahre, als von später dominiert scheint, ist absolut klar, dass dies
alles heute geschieht.
Als sie nach Hause kommen, will sie nur eines von ihm: »Versprich mir: nie wieder zurück ins Hospital.« Der Ernst des Lebens hat brutal zugeschlagen, nichts wird wieder wirklich so zufrieden sein, wie am ersten Abend des Films.
Die Gesichter erzählen alles, was hier geschieht, Haneke beobachtet. Voller Anteilnahme, sehr neugierig, ruhig und genau, nicht zu schnell oder zu langsam.
Wir sehen Intimität: Georges hilft beim Aufstehen, bei der Toilette, bei der Gymnastik. Wenn sie ins Bett gemacht hat. Noch haben sie schöne Momente, noch kann sie reden. Einmal sagt sie ihm »You are a monster. But very gentle.« Und wie genau das zutrifft, wird man noch besser verstehen. Einmal sagt sie »Je ne veut plus. Je
suis fatiguée« (»Ich kann nicht mehr. Ich bin müde«). Einmal blättert sie in einem Fotoalbum, passiert Stationen ihres Lebens: »C'est bon la vie. Si longue.«
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Es wird hässlicher. Wobei dies schöne Menschen sind. Beide sind in aller Vertrautheit unglaublich freundlich und achtsam zueinander, voller Respekt. Und beiden geht es noch vergleichsweise gut: Ihre Verhältnisse sind bürgerlich, sie finden Trost in der Kunst, sie kennen keine Langeweile, hatten ein offenkundig erfülltes Leben. Und Geld ist nicht das Problem. Auch zwei Pflegerinnen kann man zahlen. Trotzdem wird alles immer hässlicher.
Haneke stellt nichts aus. Aber die
Krankheit stellt aus und bloss; sie beutet aus.
Man möchte nicht so hinfällig werden. Man möchte sich mit alldem ganz und gar nicht konfrontieren, ist aber doch froh, dass und wie Haneke es tut. Immer wieder ist dies ein erschütternder Film, mit schönen Momenten. Dazu gehört auch eine lange Einstellung, in der Georges eine Geschichte aus seiner Jugend erzählt, von seiner Dyphterie. Und dann, plötzlich, erstickt er Anne mit dem Kopfkissen. Der Todeskampf ist lang und hart –
trotzdem: eine Liebeshandlung. Der Film heißt Amour.
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Haneke stellt sich der Angst vor dem Alter, vor der Krankheit. Die wir alle kennen. Keinen treffe ich später, der nicht während des Films an sich selbst gedacht hat, an die mit denen er zusammen lebt, an die eigenen Eltern. Dies ist Kino mit einer existentiellen Dimension, packend, ungemein präzis erzählt, ganz und gar Haneke, dabei unaufdringlich. Haneke ist vor allem neugierig. Auf die Menschen, auf die Zustände, die er zeigt.
Das ist ja immer ein Punkt im Kino: Man muss die Neugier eines Filmemachers spüren. Dann ist man als Zuschauer auch selbst neugierig. Und das unterscheidet Haneke von seinem Landsmann Ulrich Seidl, auf den wir hier später noch eingehen müssen: Er hat Fragen, will wissen. Seidl weiß schon alles vorher, und breitet das dann im Film nur noch vor uns aus.
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Wenn ich schreibe »ganz und gar Haneke«, dann meine ich, dass gelegentlich pädagogische Sätze fallen, wie einmal: »Imagination und Realität stimmen nicht immer überein.« Dass es gegen Ende zu einer Szene kommt, in der Georges die eine Schwester entlässt, und beschimpft. Und sie dann zurück: »Old prick!« Dieser stille kalte zwischenmenschliche Hass mit Klassenkampfdimension…, das kann so nur Haneke.
Typisch Haneke ist auch jene Szene, in der Georges einen Tagtraum hat: Ann spielt Klavier, sitzt am Flügel. Schnitt. Georges hört ihr zu. Macht den CD-Player aus, die Musik verstummt – alles nur Täuschung, liebe Zuschauer, glaubt’s net, was ihr seht!
Schließlich eine Reihung von Gemälden. Schön. Aber wie kommt er da jetzt wieder raus? fragt man sich, dann, über dem fünften Bild, hört man eine Türklingel, und es folgt ein Schnitt.
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Aber um es unmissverständlich zu sagen: Amour ist hervorragend. Ein Meisterwerk. Das bisher Beste im Wettbewerb. So ein trauriger Film! Aber auch ein so schöner Film!
Auch die letzten Szenen. Georges, der seine Frau erstickt hat, ist allein in der Wohnung. Er fängt eine Taube ein, die sich in den Flur verirrt hat. Minutenlang. Super. Und natürlich kann man die Taube auch
symbolisch interpretieren…
Dann Huppert, die Tochter im leeren Appartement. Es bleibt offen, wie sie vom Geschehen erfahren hat. Georges hat Briefe geschrieben. Er erzählt von der Taube. Aber wem? Seiner Frau? Eine letzte Halluzination: Sie steht an der Spüle. Er soll seine Schuhe anziehen. Die Sehnsucht nach Alltag, nach Ritual. Was Georges dann genau tut, bleibt auch im Offenen.
Aber wie Huppert da herumläuft, wie der Raum plötzlich ohne Leben ist, und sie wie eine
Fremde, das ist auch noch einmal großartig.
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Und ich denke, ich weiß nicht warum, an 1981. Als Mitterand gewählt wurde, im Mai vor 31 Jahren. Seitdem tritt die Geschichte auf der Stelle. wir werden älter, aber nicht (mehr) besser.
Damals waren ihre Film-Eltern so alt wie Huppert heute. Sie hatten noch Zeit. Was wird in 30 Jahren sein?
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»15 Tage im Mai« nennt die Le Monde eine Serie zum Amtsantritt des neuen französischen Präsidenten, und kommentiert Francois Hollande als »Reformist der Linken«. »Das Ende des Lächelns« heißt es dagegen auf dem Titel von »Le Point«.
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»It is not the violence, that makes the difference between people. It is the distance, that someone is prepared to go. We are survivors. We control the fear. And without fear, we are all as good as dead.« – das absolute Gegenteil von Amour, aber kein schlechter Film, und genau das Richtige nach dem schweren Haneke ist Lawless von John Hillcoat, ebenfalls im Wettbewerb. Ein 08/15-Genrefilm, er funktioniert, ist kurzweilig, aber nicht wirklich inspiriert. Durchaus romantisch, aber etwas seicht, mit modernen Songs unterlegt. Aber immer ist hier alles möglich, und der durchgängige Anarchismus ist moralisch sehr gesund.
»Based on a true story« in roter Farbe ist dies die Verfilmung einer Buchvorlage: »The wettest country in the world.« heißt die Geschichte der drei Bondurant-Brüder, die in den 20er und 30er Jahren zur Prohibitionszeit in Indiana ein lukratives Schwarzbrenner-Geschäft aufzogen, und es mit einem fanatischen Deputy zu tun bekamen.
Es wird viel geballert, die Schauspieler sehen gut aus, die Message ist wahrscheinlich reaktionär. Es macht also Spaß. Die Szenerie erinnert an eine alte Werbung für Jack Daniels. Gary Oldman spielt einen sympathischen Chicago-Gangster, der seine Feinde mit einer MP zur Strecke bringt, die auf Französisch den viel hübscheren Namen Mitraillette hat. Über ihn wird gesagt: »he had vision and direction«. Guy Pierce spielt einen Schurken, dem kein Klischee fehlt: Ein verkappt schwuler Dandy, der mit Frauen gewalttätigen Sado-Sex hat, seine Haare färbt und gelt, Lederhandschuhe und einen goldenen Colt trägt, foltert. Shia LaBoef ist der good guy, der einen blauen Ford fährt, was sich vor grüner Landschaft sehr ansprechend macht. Es gibt viel coolen, schnellen Hardtalk, dann werden zwei Polizisten, die es allerdings verdient haben, irgendwann die Eier abgeschnitten. Der Staat ist das Böse, das die Freiheit, aber eben nicht zuletzt den freien Schnapshandel behindert, und den Jungs den Spaß verdirbt. Nun denn.
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Wie bekommt man einen Gelben Punkt? Das sind die wahren Fragen, die die Menschen in Cannes umtreiben. Zum Beispiel der Schwede Jan Lundholm, die sie mir heute gestellt hat. Wir haben beide »Rose«, also die zweieinhalbbeste Akkreditierung. Die beste ist »Weiß.« Die Zweitbeste ist »Rose Pastille«, also Rosa mit Gelbem Punkt. Damit kommt man noch schneller oder später rein und sitzt noch etwas besser. Jeder hat in der Sechsklassengesellschaft der Akkreditierungen entsprechend seine eigene Perspektive auf die Dinge. Violeta zum Beispiel freut sich über ihre rosa Akkreditierung, weil sie bisher immer nur »Blau« hatte. Daniel dagegen leidet – »oh, sie haben mir den gelben Punkt weggenommen.« Ich tröste ihn: Ich habe noch nie einen Gelben Punkt gehabt.
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»Es gibt ein Kino jenseits der Narration« sagt Guiseppe Rapidio direkt nach der Vorführung von Da-reun na-ra-e-suh dem neuesten Film vom Koreaner Hong Sang-soo. In dem wird wie immer viel geredet und gesoffen – Soju, der koreanische Reiswein. Vor allem aber spielt auch hier Isabelle Huppert mit! Sie ist eine Französin, die es mit koreanischen Männern zu tun hat. Vor allem aber wiederholen sich die Szenen dauernd mit leichten Differenzen, denn Hupperts »Anne« und alles, was ihr wiederfährt ist nur ein Einfall im Drehbuch einer Koreanerin. Das Ganze ist also reichlich versponnen, eher sinnlos, aber lustig, weil absurd. Es geht irgendwie auch um das Eigene und das Fremde, um Koreas Blick auf Frankreich. Und der Film wirkt wie eine Kreuzung aus Iosseliani und Chaplin. Das ist ja nichts Schlechtes, oder? Einen Preis gewinnen sollte dieser Film allerdings nicht.
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Zwischen den Vorstellungen gibt es mal Zeit, auf die Wände zu gucken. Sie sind hier immer mit riesigen Photos gepflastert, wunderbaren, ikonische, aus der »großen« Zeit des Kinos: Marlene Dietrich mit Zylinder, Louise Brooks, Veronica Lake.
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Die ersten Minuten führen ziemlich in die Irre: Ein älterer Mann unter einem Computertomographen. Schnitt: Dschungel, Nacht, Lärm, offensichtlich eine Verfolgungsjagd. »Kill the european!« ist zu hören, Schüsse fallen, der Mann, der sich im Unterholz versteckt hat, überlebt als einziger. Wir sehen seine Angst, wir sehen ihn am nächsten Morgen und dann leicht verwundet im Krankenhaus. Ein brutaler Auftakt, der auch aus einem amerikanischen Vietnam-Film stammen könnte, und unser aller Angst vorm wilden Lateinamerika in Bilder fasst. Dann sieht man ein Boot durch den Dschungel tuckern, die peruanische Flagge signalisiert den Ort, Ricardo Darin, der den anderen Mann vom Anfang spielt, fährt hin, holt den Verwundeten aus dem Krankenhaus, nach Buenos Aires. Musik baut sich dabei auf, von Michael Nyman, diese Dschungelfahrt und Stadtankunft ist eine lange, sehr gute, schöne Szene; man glaubt noch eine Weile an einen Traumabewältigungsfilm, aber das ist dies ganz und gar nicht. Wie sich herausstellen wird, holt Julian, den Darin spielt den anderen, Nicholas, gespielt von Dardenne-Schauspieler Jeremie Renier, nur von einem Dschungel in den anderen, den bei uns.
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Dann die Titel-Credits zu einem schönen Rap: »las cosas que no se tocan« heißt der Song, und darin heißt es: »Me gusta la calle, me gusta Madonna, me gusta los perros, me gusta el trafic, me gusta arroz, me gusta ombra...«
Der Argentinier Pablo Trapero bietet in Elefante Blanco ein facettenreiches, emotional intensives Szenario rund um den titelgebenden »Weißen Elefanten«. So heißt im Volksmund ein riesiger Wohnblock am Rand der Slums von
Buenos Aires, der der zentrale Schauplatz von Traperos Film ist. Vom seinerzeitigen Minister Alfredo Lorenzo Palacios (1880-1965) im Jahr 1937 als ein sozialdemokratisches Vorzeigeprojekt errichtet, mehrfach gestoppt, und wieder begonnen, nie fertiggestellt, inzwischen verfallen und vermüllt, aber zugleich großartig: Eine Welt für sich, faszinierend wie ekelerregend, wo auf dem Dach schwer drogensüchtige Jugendliche vor sich hin vegetieren, im Erdgeschoss ein
Krankenhaus betrieben wird und diverse Hilfsorganisationen daran arbeiten, die Lage der Menschen in den Slums zu verbessern. Das Leben dort ist geprägt von Armut, Drogen, dem Desinteresse des Staates und von gnadenlosen Bandenkriegen. Wenn man sich für Buenos Aires interessiert: Gedreht wurde zum einen in den harten Slums der »Villa 31«, ansonsten in der »Villa Lugano« oder auch »Villa 15«, wo auch der Weiße Elefant steht. Trapero dokumentiert hautnah, voller Neugier und mit
menschlicher Anteilnahme diese mittelalterlichen Verhältnisse.
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Im Zentrum seines Films stehen zwei katholische Priester: Julian der Ältere ist seit Jahren vor Ort. Nicholas ist neu, mit seinen Augen lernen wir den Weißen Elefanten kennen. Er soll in die Rolle von Julians Nachfolger hineinwachsen, denn dieser ist, was nur wir Zuschauer wissen, todkrank. So ist dies zunächst einmal ein Film über selbstloses Engagement, über das, was die Priester motiviert, hierherzukommen. »So you both can afford to be poor.« sagt Luciana, die Sozialarbeiterin, die von Martina Gusman, Traperos Ehefrau, gespielt wird. Das hier bourgoise Leute Armen helfen, wird zum Thema gemacht, zugleich ist der Film selbst im besten Sinne old school: Wie Ken Loach nimmt er unverhohlen Partei.
Er zeigt Dreck und Häßlichkeit jeder Art, er zeigt die Realität der Armut, aber er zeigt all das in einem weit besseren Stil, als viele Kollegen: Virtuos, dynamisch, »dicht dran«. Trapero zeigt uns etwas, er zeigt uns alles. Sein Film ist voller Leben. In einer Szene geht Nicholas rein in einen Rückzugsort der Gangster, um dort eine Leiche zu holen, einen Toten von einer anderen Gang. Er weiß, dass er Angst hat, und dass er diese Angst überwinden muss. Dieser Weg ist eine Art Höllenfahrt: Mit verbundenen Augen, geführt von tätowierten Muskelpaketen. Die Gang hat ein eigenes Drogen-Labor, ein eigenes OP. Brutal und böse sind diese Zustände, »wie im Mittelalter«. Trapero zeigt uns alles.
Einziger kleiner Minuspunkt: Wenn hier Figuren etabliert werden, machen sie immer »Sinn«, sprich, sie sind nie für sich da, nie einfach da, sondern immer Teil der großen Geschichte.
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Es ist dies auch ein Film über Idealismus und Glaubensstärke. Die bleibt im Fall von Julian und Nicholas nicht ohne Anfechtungen, denn diese Priester sind überaus menschlich, sie machen Fehler, sind auch vor Todsünden wie Zorn und Eitelkeit nicht gefeit, und zu allem Überfluss verliebt sich Nicholas auch in die hübsche Sozialarbeiterin Luciana und fängt etwas mit ihr an, und während die Kamera den schönen Busen der Hauptdarstellerin streift, sieht man in Nicholas Augen und muss an den herrlichen Moment in Slavoj Zizeks The Pervert’s Guide to Cinema denken: »What am I doing here?«
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Aaahh die Priester… In letzter Zeit werden sie verstärkt zu Kinofiguren. Oft positiv besetzt, so wie hier. Wer erinnerte sich nicht an Des hommes et des dieux vor ein paar Jahren. Aber auch als Bösewichter wie im rumänischen Exorzistenfilm von Mungiu. Warum werden sie zu Projektionsfiguren? Weil sie »besser« sind, als wir, »reiner«. Mir scheint, weil an Figuren wie ihnen es Filmen noch erlaubt ist, positive Überzeugungstäter und sympathische Fanatiker und Idealisten zu zeigen. Politischer Idealismus hat ausgedient, gilt als bäh bäh.
Natürlich ist die Wiederkehr der Priester reaktionär, auch wenn sie hier eindeutig Linke sind. Man feiert an ihnen Religion ab. Nicholas war auch noch in einem Schweigekloster. Oh je. Aber in diesem konkreten Fall spielt die Religion immerhin eine vergleichsweise unwichtige Rolle. Und man sollte auch den Ideenstrang des christlichen Sozialismus nicht unterschätzen, auf den sich dieser Film konkret bezieht. Ein paar Szenen drehen sich um den linken Padre Carlos Mugica (1930-1974), der einst ermordet wurde, weil er für Reformen kämpfte. Sein Satz wird zitiert: »Senor, quiero vivir desde ahora y por adelante como un hombre libre.« Viele Wege führen zur Freiheit, das wissen wir spätestens seit Gauck.
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Weil an diesem Ort Gewalt aber an der Tagesordnung ist, ist dies auch ein Film über noch Existentielleres: Angst, und wie man sie überwindet, den Umgang mit Tod und Gefahr, und über Martyrium: Für was und unter welchen Umständen ist man bereit, sein Leben zu opfern? »Es ist leicht, ein Märtyrer zu sein, ein Held zu sein.« sagt Julian einmal zu Nicholas, und man denkt: Naja, so leicht ja nun auch wieder nicht... So ist dieser Film immer mal wieder für Augenblicke ein Katholo-Schlocker, in dem Menschen Sätze zitieren, wie »Herr ich will sterben für die Armen. Hilf mir für sie zu leben.«
Dann wieder eine Razzia, Verrat, Aufstand, alles zur Musik von Nyman – der Film hat viel, übertreibt manchmal, ist auch ästhetisch eindeutig katholisch, was fast immer etwas Gutes ist.
Am Ende hat ein Priester eine Pistole in der Hand und die neutrale, biedere Linie der Institution Kirche verlassen – so stellen wir uns kämpferisches Christentum vor. Im klammheimlichen Wunsch, Märtyrer zu werden, im Gedankenspiel mit dem ewigen Leben in der Erinnerung, ist auch
Eitelkeit des Priesters erkennbar. Aber das ist dann doch auch einfach ein Stück Wahrheit.
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Ein weiteres Highlight aus Lateinamerika ist der mexikanische Film Después de Lucia, das Debüt von Michel Franco, ebenfalls in »Un Certain Regard«. Stilistisch handelt es sich um hochästhetisches sehr stilisiertes Arthouse-Kino, in dem mit langen Einstellung gearbeitet wird, mit wenigen Worten, und viel Aussparungen. Manieriert. Die erste Szene ist typisch: Eine Einstellung, ein Mann im Auto, lange Autofahrt von hinten über die Schulter des Fahrers gefilmt. Jedem Zuschauer ist klar: Es kommt jetzt was. Und dann lässt der Fahrer das Auto in der Mitte der Ampel einfach stehen und geht zu Fuß.
Die Story dreht sich um ein junges Mädchen, Alessandra, die mit ihrem Vater in eine andere Stadt zieht, und auf eine neue Schule kommt. Die Mutter ist gerade gestorben.
In dieser angespannten, latent verzweifelten Situation hat der Vater mit eigenen Problemen zu kämpfen, die Tochter bleibt sie selbst überlassen. In der neuen Schule wird sie bald gemobbt, weil sie Sex mit einem Mitschüler hatte, der das ganze filmte und ins Netz stellt: Sie bekommt smse mit »Hola puta!«
Regisseur Franco inszeniert dies geduldig, er scheut sich nicht, auch Unangenehmes und Teenager-Demütigungen zu zeigen, und erinnert daran an den Naturalismus des US-Amerikaners Larry Clark dessen Film »Kids« vor 15 Jahren einen Kinoskandal provozierte. Nur fragt man sich halt schon, warum sie das alles mit sich machen lässt, und ob es nicht doch irgendwo irgendeinen Lehrer gibt, der mal was mitbekommt.
Zugleich ist Después de Lucia das triftige soziale Panorama einer amoralischen reichen korrupten dekadenten Oberklasse in einem Staat, der manche Zuständigkeiten schon aufgegeben hat: Wer sich gute Anwälte leisten kann, dessen Kinder können auch Verbrechen begehen. Als Alessandra – nur wir Zuschauer wissen, dass sie in Sicherheit ist – rächt sich ihr Vater an einem der Täter im Schüleralter. Er knebelt ihn und schmeißt den Jungen einfach ins Meer. Ohne Worte, wie Müll. Und fährt zurück, ohne sich umzusehen. Eine starke Szene. Moral: Der mexikanische Mann ist halt so. Alle Papas waren auch mal kleine Jungs. Und irgendwie sind sie alle gleich in einer Welt des Fressens gefressen werdens…
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Viel Spaß hatte offenkundig Ken Loach – doch ist The Angels' Share relaxte Unterhaltung mit etwas Tiefgang. Angesiedelt im Loach-typischen britischen Proletariermilieu geht es um einen jungen Kleingangster in Glasgow, der eigentlich keine Chance mehr hat, sie aber denn doch nutzt, um ein neues Leben zu beginnen. Fast wie ein Märchen erscheint diese Geschichte die aus der Gewaltspirale der Vorstädte in eine witzige, leichthändige Räuberstory a la Rififi in den schottischen Highlands mündet, bei der ein wertvoller Whiskey zum Schlüssel ins Glück wird, und Loch offenbar vor allem Whiskey-Revier drehen wollte. Die »market fucking forces« werden ausgetrickst, die Moral ist bieder und schlicht: »Do something!«