08.09.2011
68. Filmfestspiele von Venedig 2011

Wer hat Angst vor der Revo­lu­tion?

Un Été Brûlant
Louis Garrel und Monica Bellucci in Un Été Brûlant
(Foto: Wild Bunch)

Der Untergang des Abendlandes – Reiner Populismus, philippinische Gerechtigkeit und der Weg nach Walhalla - Rüdiger Suchslands Venedig-Tagebuch 2010, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

Der heilige Marco Müller, die Akkre­di­tie­rung für die Akkre­di­tie­rung, chine­si­sche Amour Fou in Paris und kosten­lose Gondel­fahrten; das Wohn­zimmer als Druck­kammer, Basis, Überbau, schöne Bücher und andere Werte

Venedig, 30.8.2011»We are sorry for the inter­rup­tion. The screening will start as soon as possible.« Erste Vorfüh­rung am ersten Tag – wir sind wieder in Venedig. Mitten im Trailer, der knalligen Lumieres-Burleske die im Auftrag des Festi­val­lei­ters Marco Müller einge­färbt und am Computer aufge­peppt wurde.
Genau gesagt, ist es noch gar nicht der erste, sondern der vorerste Tag, der Tag »-1«. Ein paar Pres­se­vor­füh­rungen laufen schon, die ersten Gäste klappern mit ihren Roll­kof­fern über den Lido, beziehen die Appar­te­ments, die für knapp zwei Wochen Zuhause, Büro und Flucht­punkt zugleich sein werden. Erst am Abend des nächsten Tages werden die Film­fest­spiele von Venedig offiziell eröffnet – und alles hier vor Ort sagt uns, was für eine Frechheit es aber auch ist, einfach zu erwarten, dass hier über einen Tag vorher schon etwas funk­tio­nieren muss.

»Please take your seat. The screening is about to begin.« sagt die warme, aber auto­ri­täre Frau­en­stimme aus der Dose jetzt schon zum zweiten Mal, Lacher im Saal, denn das ;Licht geht nach 30 Sekunden wieder an. Es dauert 20 Minuten, dann erst beginnt die Vorstel­lung von Love and Bruises, der die Neben­reihe Giornate Degli Autori, inter­na­tional auch »Venice Days« genannt, eröffnet. Der Regisseur ist kein Gerin­gerer als der Chinese Lou Ye, und man wundert sich ein bisschen, dass ein Film dieses Regis­seurs in einer Neben­reihe läuft. Schließ­lich hat Lou Ye, Regisseur unter anderem von Suzhou River und Summer Palace und einer der inter­es­san­testen und besten Filme­ma­cher Chinas, zuletzt in Cannes einen Drehbuch-Preis gewonnen; seine letzten drei Filme liefen im dortigen Wett­be­werb.

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Love and Bruises hat schon mal vieles, was einen einnimmt: Er ist ein richtiger Paris-Film und handelt von Chinesen. Produ­ziert wurde in Frank­reich von Isabelle Glanchet (Why Not Produc­tions). Es geht los mit einem Streit mitten auf der Straße: »Je t'aime plus« sagt ein fran­zö­si­scher Enddreißiger im Anzug, »I loved you in Beijing. You are in Paris. You are free now.« Die Frau, eine Chinesin, die viel­leicht Ende 20 ist – »28« sagt sie später einmal, aber das muss ja nicht stimmen – oder auch Anfang 30, ist sichtbar erschüt­tert. Wie im Trance taumelt sie vom Ort der Nieder­lage... Über eine Brücke... Über einen Markt... Um dort einen weiteren Schlag zu bekommen – ein Balken, der von einem Markt­ar­beiter getragen wird, trifft sie unglück­lich am Kopf, sie stürzt zu Boden. Der Arbeiter kümmert sich um sie und als er sieht, dass sie nur etwas benommen, aber nicht weiter verletzt ist, beginnt er sofort zu flirten. Er ist charmant, sie lässt sich zum Essen einladen. Er heißt Mathieu, sie heißt Hua. Als er sie nach Hause bringt erwartet er eine Gegen­leis­tung, als sie sich sträubt, kommt es an einem Maschen­draht­zaun zu einem nicht sehr eindeu­tigen Sex, halb zieht er sie, halb sinkt sie hin. Dann aber geht sie mit ihm mit, und so ist alles eine Mischung aus sexueller Gewalt und Leiden­schaft.

Mathieu und Hua sind zwar nicht ganz Seberg und Belmondo, aber diese sich nun entspin­nende, wech­sel­hafte Amour Fou erinnert doch eine Weile an »Außer Atem«. »Life’s good« steht auf seiner großen Werbe­tafel. Aber Mathieu ist in Klein­kri­mi­na­lität verwi­ckelt, seine Freunde tendieren zu Rassismus und Frau­en­ver­ach­tung, er selbst spricht bald von Heirat, Kindern und davon, dass sie dann zuhause bleiben soll – »Your science is crap.«, sie lacht nur und will doch nicht von ihm lassen. Viel mehr als Sex und Gespräche über Döner und Musik haben sie nicht gemeinsam, und man muss ihrem chine­si­schen Ex-Lover zustimmen, der sagt: »Er ist unter Deinem Niveau.«
So erzählt der Film über diese Story einer chine­si­schen Akade­mi­kerin und eines fran­zö­si­schen Arbeiters noch viel mehr: Von Liebe, die nur Sex ist, von Klas­sen­kon­flikten und Milieus, von kultu­reller Differenz. »What’s chinese for you?« fragt Hua einen ihrer Profes­soren.

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Und es geht um Politik: »The fight continues« sagt einer von Huas Profes­soren in der Vorlesung, erzählt von Frau­en­eman­zi­pa­tion in den 60ern. Darüber legt Lou Ye dann pathe­ti­sche Streicher-Musik, voller Ernst und Heißblut. Irgend­wann ist Hua dann zurück in China. Dort arbeitet sie als Dolmet­scherin für eine fran­zö­si­sche Jour­na­listin. Und wir hören folgendem Dialog zu: »Gibt es eine Oppo­si­tion in China?« – »Das ist eine typisch westliche Frage. … Ich bin kein Dissident. Ich habe eine andere Meinung. … Demo­kratie ist ein Lern­pro­zess. … Auto­ma­ti­sches Vergnügen ist kein echtes Vergnügen. Das sieht man an den Olym­pi­schen Spielen.« Klarer in seinen poli­ti­schen Aussagen kann ein chine­si­scher Film nicht sein. Auch was ihr ein Vorge­setzter sagt, als sie sich entschließt, in China zu bleiben ist ein klares Statement: »We need people like you, Comrade Hua. contri­bute building your country.« Das ernste Leben ist besser, als die Flucht in die Spaß­ge­sell­schaft. Und in China ist das Leben ernst.

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Momente wie diese dürften der Grund sein, warum der Film nicht im Haupt­wett­be­werb läuft, den Marco Müller lieber Staats­tra­gendem vorbehält. Müller ist bekannt­lich Chine­sen­ver­steher, ganz wörtlich gemeint, denn er spricht angeblich 17 (oder waren es 18) chine­si­sche Dialekte. Aber ganz so wörtlich ist das sowieso nicht gemeint, eher meta­pho­risch, so wie man über einen mittel­al­ter­li­chen Heiligen schon mal sagte, er könne die Stimmen der Tiere verstehen. Müller muss so ein Heiliger sein. Und wie man diese nicht versteht, wenn sie mit den Tieren reden, so versteht man eben auch Müller manchmal nicht.

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Noch einmal ist Hua in Frank­reich, in Arras in einer Arbei­ter­sied­lung aus dem 19. Jahr­hun­dert, die, mit Kohleberg gleich daneben, direkt aus Germinal stammen könnte. Sie besucht Mathieu, weiß aber schon, dass sie den Chinesen heiraten wird, der sie füttert, sich um ihren Vitamin­haus­halt sorgt, und verspricht »Keine Lügen.« Im Gegensatz zu Mathieu, der ihr sogar seine erste Ehe vorent­hielt. Und da setzt die Männer­so­li­da­rität ein: »You are getting married and you are here? You are a real bitch« sagt Mathieu.

Die schlechthin groß­ar­tige (Hand-)Kamera von Yu Lik Wai – der auch selbst Regisseur ist, und viel für Jia Zhang-ke arbeitet, fängt das alles in leichten, luftigen Bildern ein. Sie fliegt und fließt ein ums andere Mal, mitunter gehen Paris und Peking inein­ander über, und auch sonst herrscht in diesem tollen Film ein wunder­barer Frag­men­ta­rismus, eine expe­ri­men­telle Grund­hal­tung. Wenigen gelingt diese Art flir­renden Kino so gut, wie Lou Ye.

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Mannheim – Venedig oder: Die Modi­fi­ka­tion – Wir sind wieder in Venedig. Die Menschen sind braun­ge­brannt, die Frauen (und manche Männer) leicht bekleidet. Das Wetter herrlich, so schwül, dass es sogar den Mücken zu anstren­gend ist. Das ist auch körper­lich eine ziemliche Umstel­lung denn nur einen Tag zurück lag der kalte deutsche Regen­sommer. Für die Film­aus­wahl­sich­tung fürs Festival Mannheim Heidel­berg, die vergan­gene Woche stattfand war das ganz passend. Und dann wurde mit zwölfs­tün­diger Zugfahrt alles anders. Ein Wandel der Welt, die über München und Villach immer verschlampter und lockerer wurde – oder soll man sagen: südlicher? – bis zu dem Moment, wo wir in Venedig Mestre ausstiegen, und kein Zug mehr in die Stadt fuhr, auch kein Bus, sondern nur Taxen, die groteske 25 Euro für die kurze Fahrt wollten. Und dann, als wir uns gerade breit­schlagen ließen, das zu bezahlen, kam ein Bus, unfahr­plan­mäßig, eben italie­nisch aus dem Nichts. Der Fahrer wollte noch nicht einmal Geld, drängelte nur zur Eile und fuhr uns in fünf Minuten zur Piazzale Roma. Dort tuckerte dann die Nacht­gondel eine Drei­vier­tel­stunde lang durch ein wunder­schön verschla­fenes nächt­li­ches Venedig.

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Vor dem Film kam der Trailer der »Giornate«. Gesponsort hat die Firma Luce, also sieht man zur Musik von The Battle of Algiers (von Morricone) alte Schwarz­weiß­auf­nahmen: Der junge Berto­lucci, ein Fußball­spiel, ein Filmset. Schön. Unklar. Eindrucks­voll.

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Wenn man seine Akkre­di­tie­rung will, und nicht die ausge­druckte Bestä­ti­gungs­mail vorweisen kann, muss man sich bevor man den Palazzo des Festival betritt, einen Ein-Tages-Pass abholen. Also eine Akkre­di­tie­rung für das Abholen der Akkre­di­tie­rung.

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Alles scheint also wie es war, aber nichts ist, wie es gerade noch war. Eine Modi­fi­ka­tion des ganzen Leben. Warum schreibe ich hier eigent­lich? Und vor allem: Für wen? Natürlich für die, die nicht da sind, sondern weit weg. Für die, die ganz nahe sind. Für Freunde. Für Filme­ma­cher. Auch für die Kollegen. Für Josef Schnelle, der hier ist, und nicht mehr genannt werden will. Für Michael Althen, der leider nie mehr hier sein wird, und doch nicht wegzu­denken ist. Für die, die es lesen, und für die die es nicht lesen, für die, die mir daraufhin Mails schreiben, für die, die anderen Mails schreiben, für die, die sich über die Texte freuen und für die, die sich über sie aufregen.

In diesem Sinne: Have fun! Denn wie der gute alte Münchner Kollege Bodo Fründt neulich ganz wunderbar formu­liert hat: Ein Film­fes­tival muss vor allem Spaß machen.

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Venedig, 31.8.2011, erster Tag – In den Abgründen der PR-Gesell­schaft »You can start a war, you can bankrupt the country, you can do all possible things, but the only thing, you can’t, is fuck your interns.« – dieser Satz ist es wohl, der die ganze Absur­dität des ameri­ka­ni­schen Poli­tik­be­triebs auf den Punkt bringt. Er fällt ziemlich gegen Ende von The Ides of March, einem brisanten Polit­thriller, der zugleich als Satire auf seinen Gegen­stand funk­tio­niert. Mit ihm wurden gestern Abend die Film­fest­spiele von Venedig eröffnet. George Clooney selbst führt hier nicht nur Regie, er spielt eine der Haupt­rollen: Mike Morris, einen Gouver­neur der Demo­kra­ti­schen Party, der sich um die US-Präsi­dent­schaft bemüht. In Ohio stehen Mitte März die entschei­denden Vorwahlen an. Die eigent­li­chen Haupt­fi­guren des Films sind aber Morris' Berater im Hinter­grund: Ein Hoch­leis­tungs­team, das den Wahlkampf so effizient und skru­pellos führt, wie eine Truppe einen Feldzug, eine verschwo­rene, aber immer durch Inter­essen bestimmte Gemein­schaft.

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Einmal, da bekommt Ryan Gosling, der in diesem Film Stephen heißt, und die rechte Hand des Wahl­kampf­ma­na­gers spielt, einen Anruf. Er kommt von seinem schärfsten Konkur­renten, dem Wahl­kampf­ma­nager der Gegen­seite. Eigent­lich dürfte Stephen gar nicht mit ihm sprechen. Erst recht dürfte er nicht auf das Angebot eingehen, sich unter vier Augen zu treffen. In dem Moment, in dem er es doch tut, verharrt die Kamera etwas zu lange auf seinem Gesicht, folgt seinen Blicken durch die Glas­scheibe hindurch über den rest­li­chen Raum, auf die arbei­tenden Kollegen. Musik aus dem Off setzt ein, zum ersten Mal in dem Film, der da schon eine Vier­tel­stunde alt ist. Und jeder im Zuschau­er­saal spürt, dass dies ein ganz entschei­dender Moment, ja: der entschei­dende Moment ist in diesem Film.

Es gibt noch zwei, drei andere Momente in The Ides of March, die ähnlich intensiv, ähnlich aus der Zeit gefallen sind. Und wie er diese Inten­sität herstellt, den Mut zum Pathos hat, ohne dass der Film nun deshalb pathe­tisch oder gar kitschig würde, das ist die große Kunst des Regis­seurs George Clooney.

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Ziemlich am Anfang spielt und singt ein Barpia­nist das Lied: »We'll meet again, don’t know where, don’t know when.« Zwei Männer sitzen in der Bar, ihnen gehört später auch die vorletzte Szene des Films. Dann ist alles anders geworden. Es sind der junge PR-Berater Stephen Myers (Ryan Gosling), der wich­tigste Mitar­beiter des erfah­renen Wahl­kampf­ma­na­gers Paul Zara (Philip Seymour Hoffman). Stephen hat sich im Stahlbad des Politik-Geschäfts einen Hauch Idea­lismus bewahrt. Doch er macht Fehler. Nicht nur, dass er mit der Prak­ti­kantin Molly ins Bett geht. Viel schwerer wiegt, dass er in das heimliche Treffen mit dem Wahl­kampf­ma­nager der Konkur­renz einwil­ligt. Nun hat er Pauls Vertrauen verloren und ist erpressbar geworden. Und damit nicht genug: Irgend­wann erfährt Stephen, dass Molly auch mit dem Kandi­daten Morris etwas hatte – und ein Kind erwartet...

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Immer dichter und kompli­zierter wird das Netz aus wech­sel­sei­tigen Intrigen, dass Clooney spinnt. Er zeigt den demo­kra­ti­schen Poli­tik­be­trieb durch und durch desil­lu­sio­nie­rend als Welt, in der verlogene Rhetorik und mora­li­sche Korrup­tion den Ton angeben, in der jeder jederzeit stürzen kann, jede Handlung und Äußerung hoch­ge­fähr­lich ist, und in der man manchmal zynisch sein muss, wenn man seine Ideale verwirk­li­chen will. Er schildert Verfüh­rung, Mani­pu­la­tion und Verschwörung, die keine der Figuren unberührt lassen – wie in einem Shake­speare-Drama. »Die Iden des März«, das ist natürlich eine Anspie­lung auf die Geschichte von Julius Caesar, die auch William Shake­speare – des charis­ma­ti­schen Herr­schers, der als Retter der Republik begann und als Begründer der Diktatur endete. Mit dem Unter­schied, dass man bis zum Schluss nicht sicher ist, wer hier Caesar, wer Brutus und wer Marc Anton ist. Vor allem aber ist dies einer der ersten Filme, die unsere Gesell­schaft in ihrem Wesen als PR-Gesell­schaft beschreiben, als Welt, in der die PR-Berater, und das »Verkaufen« von Inhalten und Werten wichtiger geworden sind, als diese Inhalte selbst.

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Im Unter­schied zu einem Film wie Primary Colors, der vom Clinton-Wahlkampf erzählte, ist hier der Kandidat keine Witzfigur und keine Mario­nette seiner Ehefrau. Aber er ist auch nicht frei. Er trifft seine Entschei­dungen nach den Vorgaben der PR-Consul­tants.
Nebenbei werden viele zumindest beden­kens­werte Aussagen getroffen: »Wenn man sagt: ›Umver­tei­lung des Wohl­stands‹, dann schreien die Reichen ›Sozia­lismus‹. Darum sage ich: Ich bin gegen die Umver­tei­lung des Wohl­stands – zu den Reichen!« Oder über die Repu­bli­kaner: »They are meaner, rougher, and more disci­plined than we are.«

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»Dies ist kein poli­ti­scher, sondern ein mora­li­scher Film. Es geht um die Frage, ob man bereit ist, seine Seele zu verkaufen, damit das richtige Ergebnis heraus­kommt.« Mit offenem Hemd, geschmack­vollem mittel­grauen Anzug, genau passend zum asch­grauen Haar, saß George Clooney dann gestern nach der Pres­se­vor­füh­rung im alten marmornen Casinobau von Venedig, wo alljähr­lich die Pres­se­kon­fe­renzen des Film­fes­ti­vals statt­finden. Wie gewohnt eloquent und charmant stellte sich der Weltstar den Fragen der Jour­na­listen, antwor­tete auf Nahe­lie­gendes, wie die Botschaft seines neuen Films: »Es ist gerade schwierig, Politik zu machen. Aber das wird sich ändern.« Oder auf Weit­her­ge­holtes: Ob er je in die Politik gehen wolle, gar fürs Präsi­den­tenamt kandi­dieren? »Sehen Sie, Präsident Obama ist sympa­thisch, sehr klug, leiden­schaft­lich. Trotzdem ist es ihm fast unmöglich seine Arbeit zu tun. Warum sollte irgend­je­mand das frei­willig machen? Ich bin mit meinem Beruf sehr zufrieden.«

Bei den Film­fest­spielen von Venedig, die gestern Abend mit The Ides of March eröffnet wurden, ist Clooney ein Dauergast, schon mit acht Filmen war er hier. Clooney, bekannt­lich Wahlita­liener, Besitzer einer schicken Villa am Comer See und Werbe­figur einer Espresso­firma, liebt einfach den Lido mit seinem einma­ligem Flair aus Fin-de-Siecle-Dekadenz, schwülem Spät­som­mer­strand­leben und quirlig-grellem Yuppietum der Neurei­chen, die in der mittel­al­ter­li­chen Finanz­me­tro­pole heute die Macht haben. Und dafür lieben ihn die Italiener. Diesmal jedoch ist er in einer beson­deren Rolle unterwegs: Als ein Haupt­dar­steller, als Regisseur und dann auch noch Stargast zur Eröffnung.

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Venedig, 1.9.2011, zweiter Tag»Eres un romantico.« meinte Conxita aus Spanien. Ein Kompli­ment hoffent­lich, aber viel­leicht auch eine kleine Verar­schung. Und das nur, weil ich mich als Fan von Un été brûlant, oute, Philippe Garrels neuem Film im Wett­be­werb. Der hat, mehr als alles andere bislang in Venedig, das Publikum sofort in zwei Hälften gespalten: Die Hassenden und die Liebenden. Etwas dazwi­schen scheint es kaum zu geben, und das spricht, finde ich, doch schon einmal sehr für den Film. Allen­falls Carlos vom BR nimmt die Zwischen­po­si­tion eines Wohl­wol­lenden, aber Distan­zierten ein. Auch wenn ich einige sehr nette Menschen kenne, die mit dem Film gar nichts anfangen können, bin ich ganz froh, dass ich in diesem Fall wieder einmal zu jenen gehöre, die einen Film lieben, und vertei­digen können, weil das natürlich im Zwei­fels­fall die ange­neh­mere Position ist. Dabei hatte ich, vor Beginn der Vorstel­lung gar nichts erwartet, und mich eher darauf einge­stellt, zehn Minuten vor Schluss aus dem Kino zu gehen, um mir Amir Naderis Cut anzusehen. Aber von wegen! Cut muss jetzt bis Samstag warten.

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Der Augen­blick, an dem ich sicher war, dass ich den Film toll finde, kam nach etwa drei Minuten. Da sah man Louis Garrel, den Sohn des Regis­seurs im Auto, einen großen BMW, sitzen, und nachts über eine Land­straße fahren. Schnitt: Nur die Straße, auf der die Mittel­streifen hinweg­zu­fliegen scheinen, gefilmt durch die Front­scheibe. Wieder ein Schnitt: Eine kurze Groß­auf­nahme des Fußes, der das Gaspedal durch­tritt. Schnitt: Das Gesicht von Louis Garrel, mit Tränen in den Augen. Und dann unver­hofft ein lauter Knall. Es knallt richtig. Der Knall war so laut und so echt, so metallen und berstend und grob, so laut und böse, wie man es seit Jahren nicht im Kino gehört hatte. So und nur so muss es klingen, wenn einer sein Auto mit voller Wucht gegen einen Baum fährt. Dann setzt zum ersten Mal die Erzäh­ler­stimme ein aus dem Off: »Mon ami Frederic est mort.«

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Alles ist ssoooo old school: Garrel, sein ganzer Ansatz, die Haltung dieses Films. Der nahezu völlige Verzicht auf Plot. Der nahezu völlige Verzicht auf Psycho­logie. Die ganze Chuzpe, mit der hier einer einen persön­li­chen Film dreht und einfach macht, was er will, was ihn inter­es­siert. Mit der er sich um das Publikum nicht schert. Warum gehe ich sonst ins Kino? Damit jemand versucht, es mir mit allen Mitteln recht zu machen, es einfach zu machen. Doch wohl eher damit mich jemand über­rascht und über­for­dert.

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Dies ist erstmal nicht Überbau, sondern Basis: Das Material und seine Plas­ti­zität. Die Farben. Das Material ist Film, offenbar alt, oder jeden­falls in einer Weise aufge­nommen, die sofort ins Auge sticht, sich sofort erkennbar macht, deutlich werden lässt, dass hier etwas anders ist, als in den ganzen Filmen zuvor, die mit tollen Digi­tal­din­gern gedreht wurden und jetzt aber wirklich »fast wie Film« aussehen. Warme Farben, grobe Körnung, unmit­telbar erkenn­bare Textur. Dazu gehört auch eine sehr konse­quente Farb­dra­ma­turgie, die gar nichts mit Story zu tun hat, sondern mit Stim­mungs­lage und Atmo­sphäre. Alles hier ist blau, grün, schwarz, grau. Genauer: Blaugrau, grüngrau, grau­schwarz. Azulos­cu­ro­ca­si­negro hieß mal ein Film vor Jahren, daran musste ich denken. Darum fällt jedem im Saal auf, wenn es doch mal anders ist: Rot. Haut­farben. Nie aber Gelb.

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Was man auf der Leinwand sieht, ist dann ziemlich erratisch: Rückblick vor die Zeit des Unfalls zu Beginn. Tolle, aber zunächst unver­bun­dene Szenen. Louis Garrel, der einen Maler spielt, auf der Couch, voller Ennui. Der Erzähler, ein Schau­spieler, auf einem Film-Set. Der Film, der gedreht wird, geht um die Resis­tance. Resis­tance-Mädchen in Uniform. Geballer. Der Schau­spieler ist jetzt mit einem der Mädchen zusammen. Sie heißt Elisabeth, sagt Sätze wie »If a man has no money, a woman doesn’t want to be with him.« oder »I don’t need much. I need to be loved.« und erzählt, sie habe ein paarmal versucht, sich umzu­bringen. Was mit einem macht, dass man dann ab sofort ganz anders auf die Figur blickt.

Der Schau­spieler verteilt irgend­eine Revo­luzzer-Zeit­schrift: »Insur­rec­tion«. Eine tolle Kame­ra­fahrt, die zurück­führt, von leicht links einschwen­kend geradeaus, wonach ein paar Zivil­po­li­zisten Immi­granten fest­nehmen. »Fucking Sarko!« Frauen beim Klei­de­r­an­pro­bieren, da taucht im Klei­der­schrank eine Ratte auf – ein gut funk­tio­nie­render Schock­mo­ment.

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Was sie allmäh­lich heraus­kris­tal­li­siert: Garrel erzählt von zwei gebil­deten Bürger­paaren. Das eine ist der Maler Frederic, der mit einer älteren italie­ni­schen Schau­spie­lerin (Monica Bellucci) liiert ist. Sie werden in Rom besucht von dem Erzähler Paul und Elisabeth, die im Filmset zu Beginn die Resis­tance-Chick spielte. Sie verbringen einen Sommer mitein­ander. Eine Story gibt es ansonsten kaum, statt­dessen sieht man in »typisch fran­zö­si­scher« Manier schöne Menschen essen, denken und vor allem viel reden. Sie sprechen zum Beispiel über Kunst und über Revo­lu­tion. »I need the hope.« sagt Paul, der für Revo­lu­tion ist. »Ohne Hoffnung kämpft man nicht.« Dem Hinweis auf Millionen Tote begegnet er mit der Bemerkung, in Zukunft werde das anders sein. Und weiter zu Frederic: »Du kannst nicht gegen Revo­lu­tion sein. Dann wärst Du ein Reak­ti­onär, fast ein Faschist.« Ich bin nur für Love and Art erwiedert dieser. Es sei doch »evident, dass es keine Alter­na­tiven« gebe. Die Gene­ra­tion des Groß­va­ters habe »noch eine Wahl« gehabt. Auch die Wahl zwischen Hitler und Stalin sei eine echte Alter­na­tive gewesen. Und so wird der Film unter der Hand zum Portrait einer Gene­ra­tion, der die Ideale abhanden gekommen sind – und der ihrer Großväter, die in der Resis­tance gegen die Nazi-Besatzer kämpften.

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Er wird auch zur Reflexion über Liebe und Bezie­hungen, über bürger­li­ches Leben heute, oder das, was man dafür hält. Ist Treue etwa kein »outdated petit-bourgois concept«? Am Ende verlässt die Italie­nerin den Maler für einen anderen, und der will nicht mehr leben. Garrel ist mögli­cher­weise ein Macho, und er glaubt ganz offen­sicht­lich, dass Männer Männer sind, Frauen Frauen, er hat eine altmo­di­sche Geschlech­ter­theorie. Aber: who cares? Genauso wie des unwichtig ist, dass das Drehbuch zusammen mit Caroline Deruas geschrieben wurde, Garrels Frau. Vor allem ist das ein Film über Schönheit, Tränen, Liebe, Leben, Sinn.

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Das einzige Problem ist Monica Bellucci. Bellucci ist fast uner­träg­lich anzusehen in ihre affek­tierten Art, und da hilft auch nicht, dass einem schon klar ist, dass man es hier eher mit einem filmi­schen Zeichen für »Superweib« zu tun hat, als mit einer Schau­spie­lerin. Trotzdem ist der Film gut.

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Der 1948 geborene Garrel zieht in Un été brûlant eine Summe der Ideen­kämpfe seiner Gene­ra­tion, die sehr persön­lich ist: So hat nicht nur sein Sohn, sondern auch sein Vater Maurice einen Auftritt: In einer berüh­renden Szene, deren Charakter – doku­men­ta­risch oder nicht – nicht ganz klar ist, erzählt der 1923 geborene, im Juni verstor­bene berühmte Schau­spieler unter anderem in Filmen Truffauts und Sautets von einem Resis­tance-Gefecht, bei dem er »nur durch Glück« überlebte. »Unsere Leben hängen von beinahe nichts ab.« Er versucht den Enkel in seinem Liebes­kummer zu trösten, und erklärt ihm, er werde andere finden. Eine klare, aber folgen­lose Zurück­wei­sung der Amour Fou. Und fällt gegen Ende fällt noch der schöne Satz: »En amour, c'est chacun en soi.«

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Kalt gelassen hat mich im Vergleich dazu der neue Film von Roman Polanski. Man kann ihn sogar ganz gut mit Un été brûlant verglei­chen. Denn auch darin geht es um bürger­liche Befind­lich­keiten und die Werte­krise des Westens. Carnage ist eine Verfil­mung des derzeit sehr ange­sagten Thea­ter­s­tücks »Der Gott des Gemetzels« von Yasmina Reza, und trumpft vor allem mit seiner Star­be­set­zung auf: Kate Winslet (die hier in gleich drei Filmen zu sehen ist) und Christoph Waltz, Jodie Foster und John C. Reilly spielen zwei gutsi­tu­ierte Ehepaare, das eine mehr links­li­beral, das andere reak­ti­onäre Yuppies, die sich nach einer Schlä­gerei ihrer beiden Söhne zu einem freund­li­chen Schlich­tungs­ge­spräch treffen. Dies eskaliert zunehmend a l.a »Wer hat Angst...« – es wird geflucht, geschrien, gekotzt. Letzteres in der schönsten Szene auf die Bücher der Haus­herrin, was diese natürlich mehr mitnimmt, als alle Gemetzel der Kinder. Bald bröckeln die Fassaden der Gutbür­ger­lich­keit an jeder Ecke. Das Wohn­zimmer wird zur Druck­kammer. So sehr einem die Künst­lich­keit des Spiels und die Hysterie der Dialoge auf die Nerven gehen kann, so sehr überzeugt der Film als Portrait des Mittel­standes in der Krise. Politisch ist das alles billig – kann diese letzt­end­lich billige bürger­liche Selbst­kritik und die Verach­tung progres­siver Werte noch wirklich inter­es­sieren? Überzeugt das Gewettere gegen Doppel­moral, gegen verratene Ideale? Die Gleich­ma­cherei zwischen Rechts und Links ist zumindest unpräzise. Denn zwischen Reak­ti­onären und Progres­siven gibt es bei allen Gemein­sam­keiten eben doch noch viele Unter­schiede. Da Jodie Fosters Figur als liberale Verfech­terin von Moral und »Political Correct­ness« zudem die unsym­pa­thischte Figur ist, beschleicht einen der Verdacht hier räche sich Polanski auch stell­ver­tre­tend ein wenig am Prototyp jener, die ihn vor einein­halb Jahren gern im US-Gefängnis gesehen hätten – an der phal­li­schen Frau an sich. Die zu verachten macht Foster einem leicht: Mit verknif­fenen Lippen, boshaft und selbst­ge­recht und hyste­risch ist sie so unan­ge­nehm, wie zuletzt 1997 in Contact. Was bleibt ist ein sehr gut gemachter, übrigens auch lustiger, aber unendlich kühler Film, der mit den stilis­ti­schen Vorlieben letzt­end­lich alle Ansichten und Vorur­teile seines Publikums bestätigt, anstatt sie heraus­zu­for­dern.