17.02.2011
61. Berlinale 2011

Die Vielfalt der Geschichten

Dreileben: Komm mir nicht nach
Komm mir nicht nach: Dominik Grafs Film im Film Dreileben

Eines der ungewöhnlichsten deutschen Filmprojekte der letzten Jahrzehnte, die zwei Gesichter Bergmans und andere Notizen von der Berlinale

Von Rüdiger Suchsland

Das große »B«. Einige haben sich schon gewundert, als sie das große »B« auf dem dies­jäh­rigen Berlinale-Plakat gesehen haben, und während manche da gleich zur Freude von Festi­val­chef Dieter Kosslick an »Berlinale« und »Berlin« und »Bär« und »Bubli­kums­fes­tival« und »besoffen« dachten, dachten ein paar andere wohl auch an »Bückware« und »B-Liga«, weil sie die letzten Festi­val­jahr­gänge noch nicht ganz vergessen haben. Einige, die sich erinnern, dass die Berlinale als »A-Festival« gilt, fragen sich, ob viel­leicht gemeint war, die Berlinale wolle jetzt nur noch ein »B-Festival« sein. Aber man kann davon ausgehen, dass sie da falsch liegen. Höchstens ist der Berlinale da mit dem Plakat eine Freudsche Fehl­leis­tung unter­laufen, die viel mehr verrät, als sie sollte.

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Das Kino ist ein dunkler Wald. Im Wald da sind die Räuber. Da sind Geister, und Menschen, die sich zurück­ziehen wollen aus der Welt, da sind in Höhlen und im Unterholz oder auf Bäumen und im dichten hohen Gebüsch, auch die Träume und Alpträume der Menschen, das Unbewußte und Verdrängte unseres Lebens. Und in allen drei Geschichten, von denen hier die Rede ist, in allen drei Leben, in die wir Zuschauer eintau­chen, neben einigen anderen, denen wir begegnen, geht es auch um die Wieder­kehr dieses Verdrängten. Wir können uns nicht entfliehen, das zeigt sich auf der Leinwand, und das, was wir sind, steht unserem Glück, das wir haben wollen, manchmal unrettbar im Weg.

Um Glück geht es für das bosnische Flücht­lings­mäd­chen Ana, für die Poli­zei­psy­cho­login Johanna und für das Mutter­söhn­chen Frank. Sie alle begegnen sich in Dreileben, streifen sich flüchtig, sie alle drei sind Fremde hier, wo sich trotzdem ihr Schicksal erfüllt.

Dreileben, das ist zunächst einmal der Name des Ortes. Ihn gibt es wirklich, wenn auch westlich von Magdeburg und nicht in den roman­ti­schen Wäldern von Thüringen, wie dieser Film behauptet. Dieser Film? Ist es überhaupt einer oder sind es doch drei? Denn bei Dreileben, der jetzt im Forum der Berlinale Premiere hat, handelt es sich um eines der unge­wöhn­lichsten deutschen Film­pro­jekte der letzten Jahr­zehnte, und ohne Frage um einen Höhepunkt des Programms. Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hoch­häusler haben zusammen einen Film gemacht. Er besteht aus drei Teilen, die jeweils einen eigenen Titel haben, und alle im gleichen Kaff am Waldrand nahe Oberhof spielen. Jeder spinnt ein wenig die Geschichte der zwei anderen weiter, die Hand­lungen über­lappen sich an kleinen Punkten, und es gibt einen gemein­samen Krimi­nal­plot – ein verur­teilter Mörder ist geflohen und soll wieder einge­fangen werden – im Hinter­grund.
Trotzdem sind es ande­rer­seits drei jeweils völlig eigen­s­tän­dige Filme geworden, und gerade die Gemein­sam­keiten führen nur dazu, dass noch mehr auffällt, wie verschieden diese drei Regis­seure, die alle zu den begab­testen im deutschen Kino zählen, dann doch sind.

Dies ist das Inter­es­san­teste an diesem viel­schich­tigen Expe­ri­ment: Was es uns verrät über das Kino. Denn am Anfang von allem stand ein e-mail-Austausch, initiiert von der Debatte um das Kino der »Berliner Schule«, seinen Stil und dessen Vor- und Nachteile. Während Petzold und Hoch­häusler dieser losen Gruppe dezi­dierter Kunstfilm-Regis­seure zuge­rechnet werden, die im Ausland auf mehr Interesse und Wohl­wollen stößt als bei den hiesigen Bran­chen­funk­ti­onären, hat Graf, bei aller Wert­schät­zung, aus seiner grund­sätz­li­chen Distanz zu diesen Film kein Hehl gemacht. Einen Teil dieses hoch­in­ter­es­santen Trialogs, der vieles auf den Punkt bringt, was das deutsche Kino umtreibt kann man im Internet und im Heft 16 der Zeit­schrift »Revolver« nachlesen – und viele sehr lesens­werte Erläu­te­rungen zu alldem bietet auch der Forums­ka­talog.

Man möchte nicht zuviel verraten von der Handlung und ihren verzweigten Fäden – dazu ist noch genug Gele­gen­heit. Und im Zentrum von Dreileben steht viel­leicht auch etwas anderes: Wie sehr diese Regis­seure gerade durch ihre Zusam­men­ar­beit auf sich und ihre je eigene filmische Ausdrucks­weise zurück­ge­worfen werden. Wie das in der freund­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit doch auch enthal­tene Element des Wett­be­werbs – wer will schon den dritten Platz in so einer Konkur­renz? – alle drei beflügelt, und dazu führt, dass hier Filme gelungen sind, die im jewei­ligen Werk recht weit oben rangieren. Sehr bemer­kens­wert auch, wie hier einer­seits Geschichten erzählt werden, die nur in Deutsch­land erzählt werden können, wie sich ande­rer­seits ältere und andere Formen und so etwas wie das kollek­tive Unbe­wusste in diese Film­ge­schichten einschreibt: Grimms Märchen ganz offen bei Petzold, und etwas versteckter bei Hoch­häusler, Melodram, Psycho­ana­lyse und Ost-West-Spaltung bei Graf, der auch den Dialog mit seinen eigenen Filmen kräftig weiter­spinnt; und das Weimarer Kino vor allem Fritz Langs Drachen­höhlen und Wald aus den Nibe­lungen und die Menschen­hatz aus »M« – bei Hoch­häusler.

Viel­leicht ist die Schuld­frage, also die Frage, wo so etwas wie Unschuld gefunden werden könnte, und wie man mit ihrem Verlust oder ihrer Unmög­lich­keit umgeht, das, was alle drei Filme verbindet – Dreileben, der, von der ARD produ­ziert, wahr­schein­lich nicht ins Kino kommen wird, ist ohne Frage einer der inter­es­san­testen und besten Filme des Jahres. Ein seltenes Ereignis!

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Bergmans zwei Gesichter. Ist eigent­lich ein größerer Unter­schied denkbar, als der zwischen diesen beiden Frauen? Harriett Andersson und Liv Ullmann waren – trotz Ingrid Thulin und Bibi Andersson – die beiden prägnan­testen Gesichter der Filme dieses vom mensch­li­chen Angesicht so faszi­nierten Regis­seurs. Beide waren über jeweils mehrere Jahre seine Lebens­ge­fähr­tinnen. Bergman verließ für Andersson seine dritte Frau und für Ullmann seine vierte; Andersson drehte neun Filme zwischen 1952 und 1982 mit Bergman, Ullmann sogar zehn. Und es wird schon seinen guten Grund haben, dass beide auf der Berlinale an sorgsam getrennten Terminen ihre Auftritte zur Bergman-Retro­spek­tive hatten. Wer die beiden erlebte, weiß warum: Andersson, zwar sieben Jahre älter als Ullmann, wirkt aber immer noch ein bisschen wie ein junges Mädchen: so quick­le­bendig wie Monika in dem gleich­na­migem Film in jenem Sommer vor fast 60 Jahren, erfüllt von einem ironi­schen Schalk, der sie ihrer Umgebung immer ein wenig überlegen macht, ohne sie von ihr zu distan­zieren. Etwas einneh­mend Ungra­vi­tä­ti­sches strahlt Andersson aus, und es ist leicht zu sehen, wie unglaub­lich attraktiv dieses Frau ihr Leben lang war, nicht erst wenn sie davon spricht, dass Frauen natürlich gerne »hübsche Jungen« angucken. Natürlich sei Bergman »ein bisschen boshaft« gewesen, erzählt sie von der Arbeit, und es ist hinrei­chend deutlich, dass das wohl auch für Andersson selbst gilt, und vermut­lich gerade die Anziehung zwischen beiden ausmachte; ebenso, dass Andersson, die in ihrem Leben über 90 Kino­rollen gespielt hat, sich immer eine gesunde Distanz bewahrte, zu dem großen Mani­pu­lator, der auch ein begna­deter Gesprächs­partner und Charmeur gewesen sei, aber eben auch ein einsamer kleiner Junge, der endlich spielen durfte, und dem alle zuhören mussten – »manchmal auch verrückt«, und da habe es nicht immer genügt, wenn er sich kurz nach seinen Ausbrüchen dann entschul­digt habe: »Du weißt doch, wie ich bin.« – »Ja, das wusste ich schon... aber trotzdem«, sagt Andersson und lächelt viel­sa­gend.

Ullmann strahlt dagegen auch heute ein wenig von der stör­ri­schen Beflis­sen­heit aus, die jene Tochter charak­te­ri­siert, die sie an der Seite Ingrid Bergmans in Herbst­so­nate gespielt hat. Sachlich erzählt sie von Bergmans Arbeits­weise, das man dem Meister keine Fragen stellen durfte, und sagt mehrfach, wie »ungeheuer privi­le­giert« man gewesen sei, für ihn zu arbeiten. Immer wirkt das, als spräche hier eine Einser­schü­lerin, und es ist leicht erkennbar, dass sich Ullmann, obwohl sie selber sechsmal Regie führte, aus dem Schatten von Bergman ihr Leben lang nie wirklich gelöst hat. Bergman, das wird auch an Peter Cowie deutlich, der beide Gespräche in Berlin mode­rierte, war für viele die ihm begeg­neten, eine lebensprä­gende erschüt­ternde Erfahrung: »Er sagte, er müsse einem Menschen nur lange genug in die Augen sehen, früher oder später zeige er sein wahres Gesicht.« Immer habe sie neuro­ti­sche Frauen gespielt, fügt Ullmann hinzu: »Ich war Ingmar« – und da ist in ihrem Gesicht beides zu sehen: Die Anstren­gung, die es bedeutete, zum filmi­schen Alter Ego des Regis­seurs zu werden, und wie sehr das einer Darstel­lerin schmei­cheln kann.

Sie reprä­sen­tieren Bergmans zwei Gesichter: Ullmann den Mora­listen, den, der die düsteren Seelen­qualen des modernen Menschen immer wieder aufs Neue unter­sucht, der keinem Schmerz auswei­chen will. Und Andersson das Humane seiner Filme, das Wissen um die Schwächen und die Befreiung von ihnen in der Schönheit, im Glück, in der Evidenz und im Augen­blick.

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Chine­si­scher Western. Für Opulenz und histo­ri­sche Stoffe hat sich Chen Kaige schon immer inter­es­siert. Kaige, in den 80er Jahren der Vorreiter der legen­dären »Fünften Gene­ra­tion«, die Chinas Kino vom Propa­gan­daschwulst befreite und dem Westen erschloss, wurde spätes­tens mit der Goldenen Palme für Lebewohl, meine Konkubine 1993 in seiner Heimat unsterb­lich. Seine Arbeiten der letzten zehn Jahre konnten aber an die frühere Meis­ter­schaft nicht recht anknüpfen. Das gilt auch für sein neuestes Werk Sacrifice, einer von nur zwei Filmen aus China im offi­zi­ellen Programm der Berlinale – ein auffal­lend geringer Anteil, was noch stärker ins Gewicht fällt, weil mit Kaige und Zhang Yimou ausge­rechnet Regis­seure einge­laden wurden, die ihre beste Zeit hinter sich haben. Gibt es unter den vielen jungen Filme­ma­chern gerade keine Talente, die eine Einladung verdient hätten, oder ist es die Berlinale, die derzeit nicht in der Lage ist, solche Entde­ckungen zu machen?

Sacrifice ist eine typisch chine­si­sche Mischung aus Rache­tra­gödie und Königs­drama mit Martial-Arts-Elementen. Ange­sie­delt in der Jin-Ära des achten vorchrist­li­chen Jahr­hun­derts, geht es um den General Tu Angu, den das Schicksal in den höfischen Kabalen an den Rand gedrängt hat. Daraufhin setzt er alles auf eine Karte, und zettelt seiner­seits eine Intrige gegen die Familie des Kanzlers, die Zhao an. In einem großen Massaker werden schon nach einer Vier­tel­stunde des Films alle drei­hun­dert Zhao ermordet, die Witwe des Clan­füh­rers tötet sich selbst – aber erst nachdem sie zuvor ihren frisch­ge­bo­renen Sohn in die Obhut ihres Arztes Cheng gegeben hat. Als Tu Angu daraufhin alle Neuge­bo­renen der Haupt­stadt entführen lässt, wird im Laufe verschie­dener Verwechs­lungen Chengs eigener Sohn für den letzten Zhao gehalten und ermordet. Nun zieht der Arzt den Über­le­benden zu einem Krieger heran, mit dem festen Vorsatz, ihn später doppelt Rache nehmen zu lassen – für die Ausrot­tung der Zhaos, wie für den Mord am eigenen Sohn.

Kino als große Oper also, als Melo über wider­strei­tende Loya­li­täten zwischen Staat und Familie, das aller­dings nach viel­ver­spre­chendem Auftakt deutlich abflacht. Im Prinzip funk­tio­niert Sacrifice – wie viele der in Chinas Antike ange­sie­delten Histo­ri­en­filme – ähnlich wie ein Rache­wes­tern über die Vorbe­rei­tung eines großen Showdowns, der sich aller­dings in diesem Fall als Bluff entpuppt. Als west­li­cher Beob­achter ist man geneigt, derartige Stoffe immer auch als verkappte Kommen­tare zur poli­ti­schen Gegenwart zu sehen. Und eine Weile glaubt man, auch weil der Schurke einem nicht völlig unsym­pa­thisch ist, hier gehe es wie in Zhang Yimous ungleich besserem Hero um eine Versöh­nung zwischen Macht und Wider­stand, Kaiser und Atten­täter. Aber dann kommt doch wieder alles anders, als man dachte, und es wäre auch zuviel in Sacrifice hinein­in­ter­pre­tiert. Dies ist eher ein Film, der zwar leidlich unterhält, den man aber auch schnell wieder vergessen hat – und damit ist er als »Berlinale Special« außerhalb des Wett­be­werbs ganz richtig platziert. Klar ist dabei auch, dass Kaige offen­kundig im Frieden mit sich ganz gelassen weiter Filme macht, ohne sich unter künst­le­ri­schen Hochdruck zu setzen. Sacrifice ist ein Film fürs breite Publikum in China, Starkino einer Film­in­dus­trie, die immer noch im Werden ist – und darin erinnert er an die routi­nierte Unter­hal­tung, wie sie auch im frühen Hollywood gemacht wurde: Ein ganz normaler Western eben.

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Scheidung auf Persisch. Im Wett­be­werb geht es indi­rekter zu. Vom irani­schen Kino kennt man das: Die Filme von dort arbeiten mit Symbolen und Auslas­sungen. Kinder sind die Haupt­fi­guren, ein Papier­dra­chen wird da zum Stell­ver­treter des Schick­sals. Der Regisseur Asghar Farhadi, dessen letzter Film Elly noch im deutschen Kino läuft, erzählt in Jodaeiye Nader az Simin von einer Trennung – es gibt schon Doku­men­tar­filme über »Scheidung auf Persisch«, aus ihnen weiß man, wie kurios in unseren Augen so etwas im Iran abläuft. Hier nun erlebt man in Spiel­film­form: Zwei Familien, es geht um Geld und Anstand, um Form und Drohungen, aber nicht um Liebe. Es geht auch um Politik, um die feinen Nuancen, in denen Frauen ihren Tschador tragen und ähnliche Unter­schiede, um Subti­lität und viele Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keiten. Der Film ist dynamisch und sehr stark, aber nie platt – der erste große Favorit auf den Goldenen Bären. Das Festival begab sich in Soli­da­rität mit dem Protest zugunsten des inhaf­tierten Regis­seurs und Jurors Jafar Panahis.

Nicht weniger politisch, aber anders subtil ist Our Grand Despair des Türken Seyfi Teoman: Ender und Çetin, Ende 30, sind gute Freunde. Sie nehmen die Schwester eines Freundes gezwun­ge­ner­maßen in ihre Männer-WG auf, doch nach einer Weile entwi­ckelt sich tiefe Vertraut­heit. Irgend­wann verlieben sich beide unab­hängig vonein­ander in die junge Frau… Teoman bricht in seinem zweiten Spielfilm klas­si­sche Rollen- und Bezie­hungs­muster auf, zugleich bricht er mit den Stereo­typen des türki­schen Kinos, das sich gern in die Natur zurück­zieht, den Zwängen der Moderne ausweicht. Ein ausge­zeich­neter Film, und ebenfalls einer der besseren Filme in einem Wett­be­werb mit weniger Licht als Schatten.