22.05.2007
60. Filmfestspiele Cannes 2007

No audience was harmed in this movie…

IMPORT EXPORT
White Trash vor dem Feldstecher:
Import Export von Ulrich Seidl
(Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion)

Klimafreie Filme, Ulrich Seidls Kuriositätenkabinett und die Zurückweisung des Banalen

Von Rüdiger Suchsland

»This is a carbon neutral produc­tion.« Die Klima­ka­ta­stro­phen­hys­terie macht natürlich vor dem Kino am wenigsten halt. Und die Film­ab­spänne der Zukunft werden – Green Hollywood sei Dank – ausnahmslos garan­tiert neben manch anderem Schwach­sinn auch diesen Satz enthalten. Zum ersten Mal aufge­fallen ist er uns vor zwei Tagen im bereits zuletzt ausführ­lich erwähnten Film der Coen-Brüder. Wenn man direkt unten­drunter dann auch die bekannte »no animal was harmed...«-Floskel liest, ist es schwer, nicht zynisch zu werden. Denn es ist zwar beru­hi­gend, zu erfahren, dass die nied­li­chen Kampf­hunde der mexi­ka­ni­schen Drogen­dealer allesamt nur gut dres­sierte Schau­spieler waren, aber nach wenigen Filmen wirkt dieser Satz trotzdem depla­zierter, wie hier: Wenigs­tens kein Tier. Menschen aber schon. Denn No Country for Old Men heißt ja auch, wie er heißt, weil hier kaum einer alt wird, und wenn doch, dann sitzt er im Rollstuhl.
Tierliebe und ökolo­gi­sche Korrekt­heit gehen also durchaus mit Regis­seurs­mord­lust und mora­li­scher Rück­sichts­lo­sig­keit zusammen – was hier gar nicht negativ gemeint ist, denn der Film ist ja wunderbar. Wir wollen übrigens gar nicht wissen, was Abspänne wohl in ferner Zukunft noch alles alles enthalten werden: »A smoking free movie«? »A politics free movie«? »No religion was harmed in this movie«. Wie wär’s statt mora­li­scher Asepis mal mit »No audience was harmed in this movie«?

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Womit wir schon bei Ulrich Seidl wären. Mit Hundstage wurde der Öster­rei­cher vor sechs Jahren in Venedig berühmt. Jetzt ist er mit Import Export, was immerhin ein schöner Titel ist, im Wett­be­werb. Depres­si­ons­kino anderer Art, als aus Rumänien. Zwei­fellos kunst­voller. Zwei­fellos kälter. Auch besser? Das ist die Frage.

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Der Film ist derjenige Seidls, der eher als alle zuvor, eine Geschichte erzählt. Parallel dreht sie sich um zwei Menschen: Olga aus der Ukraine und Paul aus Wien. Im Laufe des Films reist er in die Ukraine, sie kommt nach Wien. Immer im Wechsel beob­achtet man Auszüge aus beider Leben: Olga arbeitet als Kran­ken­schwester, man sieht ein hustendes Baby auf dem Kran­ken­tisch. Olga arbeitet als Porno­dar­stel­lerin eines Inter­net­chats, man sieht sie allerlei demü­ti­gende Hand­lungen verrichten, und bei der Arbeit mit sadis­ti­schen Kunden. Olga lebt in einer Plat­tenbau-Traban­ten­sied­lung in einer öden Indus­trie­land­schaft mit viel Schmutz und Rauch und wenig Schönheit. Es ist auch noch Winter, das lässt die Szenerie und das dortige Geschehen noch kälter und grauer erscheinen.
Zur gleichen Zeit in Wien: Paul trainiert bei einer Sicher­heits­firma, er wird offenbar Wachmann. Paul hat sich einen Kampfhund zugelegt. Als er mit ihm seine Freundin besucht, ohne Rücksicht auf deren Angst vor Hunden, bekommt sie einen hyste­ri­schen Anfall und wirft Paul hinaus. Sein einziger Kommentar: »Geh scheißen« und »Der Hund ist mir garan­tiert immer treu. Aber weiß ich ob Du mir auch immer treu bist.« Den Kampfhund sehen wir später nicht mehr wieder.
Eines Tages wird Paul während seiner Arbeit bei einem Routi­ne­kon­troll­gang von einer Gruppe junger auslän­di­scher Männer ange­griffen. Sie über­wäl­tigen ihn, und demütigen ihn unter anderem, indem sie ihn ausziehen, fesseln, mit Bier über­gießen und zurück­lassen. So verliert er seinen Job. Er hat Schulden, bei seinem Stief­vater, einem Maul­helden und Macho mit allerlei Täto­wie­rungen am Körper und bei anderen, jüngeren Männern, die ihm zum Beispiel in der U-Bahn über den Weg laufen. Sie nutzen Pauls Lage aus, um ihm seine Schwächen vorzu­halten.
Olga lässt ihr Kind bei der Mutter zurück, reist nach Wien. Eine Freundin hilft ihr. Zuerst arbeitet sie bei einer Reini­gungs­firma in einer Putz­ko­lonne, dann bekommt sie eine Anstel­lung bei einer Familie. Dort kann sie sogar wohnen, im Keller in der Wasch­küche neben der Wasch­ma­schine. Doch sie ist der Willkür der uner­zo­genen Kinder und der Frau des Hauses ausge­setzt, und als sie sich beginnt, mit den Kindern besser zu verstehen, kommt auch noch der Neid der Mutter hinzu, und Olga verliert ihre Anstel­lung wieder.
Derweil sehen wir Paul beim Bewer­bungs­trai­ning des Arbeits­amtes: Er lernt, was »seriöses Warten« bedeutet, und »LMAA«: »Lächle mehr als andere«. Einen Job findet er auch mithilfe seines neuerwor­benen Wissens nicht. Also bekommt er durch seinen Stief­vater eine schwarze Arbeit als Fahrer. Auf seiner ersten Tour schafft er alte Spiel- und Süßig­keits­au­to­maten in die Ukraine. Danach betrinken sich sein Stief­vater und er, gehen in ein Nacht­lokal, reißen eine Frau auf, und landen mit einer jungen Prosti­tu­ierten auf dem Zimmer. Dort sagt sein Stief­vater zu Paul: »Ich zeig' Dir jetzt mal die Macht des Geldes«, und lässt das junge Mädchen sich selbst befrie­digen, auf allen Vieren kriechen und wie ein Hund bellen, und ihn oral befrie­digen.
Olga arbeitet wieder bei der Putz­ko­lonne – jetzt auf der Geria­trie­sta­tion. Sie lernt die uralten, oft genug debilen und inkon­ti­nenten, oder ander­weitig gestörten Menschen näher kennen. Einer der Männer sagt ihr, er wolle mit ihr zu sich nach Hause ziehen, und sie heiraten. Sie tanzt mit ihm. Als sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit kommt, ist er gestorben. Olga bekreu­zigt sich. Während ihrer Arbeit ruft Olga einmal heimlich auf der Kran­ken­haus­lei­tung zuhause an. Als sie ihrer Tochter ein Lied vorsingt, bricht sie in Tränen aus. Zugleich hat Olga mit der Kran­ken­schwester, die sie nicht mag, und die in ihr eine Konkur­rentin um die Gunst des feschen blonden Pflegers sieht. Bei der Faschings­feier, bei der die Alten zumeist apathisch, aber bunt geschminkt herum­sitzen, und ein Musiker das Lied singt – »Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.« –, eskaliert die Situation. Der Pfleger tanzt mit Olga, die Kran­ken­schwester versucht sie zu verprü­geln, aber erfolglos. Olga ist stärker. In der letzten Szene sehen wir den Schlaf­saal der Alten. Nicht alle können schlafen, »es stinkt« krächzt eine Alte, und dann die letzten Worte des Films: »Tot, tot.«

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Kleine Szenen. Anein­ander gereihte Ausschnitte aus dem Leben. Man muss das alles so ausführ­lich schildern, um sich eine Vorstel­lung von dem Film machen zu können. Denn klarer­weise geht es hier nicht nur um das, was erzählt wird, sondern auch um das wie. Und um den Zusam­men­hang zwischen beiden. Der ist hier nämlich entschei­dend. Seidl erzählt nicht konven­tio­nell narrativ, sondern nach Art eines Diaabends – nur das die einzelnen Bilder bewegt sind: Er zeigt uns eins nach dem anderen, ohne eine Hier­ar­chie zwischen ihnen herzu­stellen.
Weil aber im Zentrum die Macht des Geldes und die Demü­ti­gung von Menschen stehen, hängen Moral und Ästhetik eng zusammen, ist es eine Frage, wie man das zeigt, und ob überhaupt. Denn ein Doku­men­tar­film – Seidl firmiert ja immer noch als Doku­men­ta­rist, obwohl er auch schon in Hundstage einen Spielfilm gedreht hatte – über eine Porno­dar­stel­lerin bei der Arbeit ist dann, wenn man partout nichts ausblenden, nichts nicht zeigen will, in der Konse­quenz auch ein Porno. Dass Seidl diese Frage reflek­tiert, darf man annehmen, es ist dem Film aber nicht unbedingt anzusehen.

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Natürlich ist Import Export kein Porno. Mit einem Pornofilm gemein hat er zwar das Unhier­ar­chi­sche, Anein­an­der­ge­reihte, das manchmal aufdring­lich lange Hingucken, und die Unfrei­wil­lig­keit einer gewissen Stili­sie­rung. Mit Kunst­filmen haben Pornos ja zum Beispiel die langen Einstel­lungen gemeinsam, die das konven­tio­nelle Erzähl­kino vermeidet. Aber Seidl zeigt zwar alles, aber nur aus der Distanz. Insofern ohne eindrin­genden Blick, eher scheu, auf Abstand bedacht. Genau dies ist aber aus meiner Sicht das Kern­pro­blem von Import Export: Nicht so sehr, dass die Bilder ständig und unüber­sehbar signa­li­sieren: »Kunst!«. Sondern, dass der Film bei aller Nähe immer einen scheuen Abstand hält, Gren­zü­ber­schrei­tungen vermeidet, und sich deswegen seinen Gegen­stand vom Leib hält, während er ihn doch seziert, und dem genauen Hingucken auf eine fremde Welt ästhe­ti­schen Mehrwert abgewinnt.

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Denn der Film läuft ja in Cannes. Import Export kommt mir vor als ein typischer Film für die gebildete, kunst­be­gie­rige akade­mi­sche Mittel­klasse. Die sich wie hinter einer Glas­scheibe an den Riten des White Trash ergötzt, und durchaus auch mal erfüllt vom scho­ckierten Kitzel, ablacht. Sind sie wirklich so? Ein Borat Reloaded also für die geschmack­vollen Stände. Sind die Proleten wirklich so? Ja, sie sind. Sagt auch der Film und befindet sich im besten Einver­s­tändnis mit seinen Zuschauern. Da wird es dann voyeu­ris­tisch. In wohl­kom­po­nierten, edlen Bildern werden hier Angehö­rige der Unter­schicht, des Preka­riats ausge­stellt. Das geschieht mit ethno­lo­gi­scher Sach­lich­keit, die Seidl vermut­lich als Indiz für seine Menschen­liebe nehmen würde. Freunde, die mit Seidl arbeiten, betonen diesen Huma­nismus. Wüßten wir das nicht, käme es uns vor allem eitel vor. Als ob der Regisseur sich dauernd im Spiegel anguckt, und bestätigt: »Hey, was bin ich doch mensch­lich.«

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Das Ergebnis gleicht aber einem Kurio­si­tä­ten­ka­bi­nett. Einer Freak Show. Man muss noch mal betonen, dass die Bilder, die Seidl schafft, schön sind, etwas eindeutig Besonders, Unver­wech­sel­bares. Klas­si­sche Malerei und moderne Photo­gra­phie haben die Bild­kom­po­si­tion erkennbar beein­flusst. Ein bisschen sieht das Ergebnis aus, wie Malerei von Velasquez, auf der die Menschen Goyas zu sehen sind: »Dispa­rates«, »Desastres«, Irren­haus­bilder.
Aber so sehr der Film Kälte und Klischees zum Thema macht, so sehr ist er auch selbst von ihnen geprägt. Er will von Ausbeu­tung erzählen und beutet seinen Gegen­stand selber aus, für den idealen Festi­val­film.
Natürlich ist der Film ein kluges Portrait alltäg­li­cher Absur­dität und ganz normaler Abgründe. Er ist ein Portrait des Leidens, das uns sanft darauf hinweist, wohin das alles führt: In den Verfall des Alters, in die Stunde des Todes. Das Leben als Sein zum Tode. Ist Seidl ein Katholik a la Heidegger? Jeden­falls ist sein Film – das würde passen – ein Stück Anti­hu­ma­nismus, auch im heid­eg­ger­schen Sinn. Aber was will er? Was will er wirklich? Darüber werden wir hier noch lange disku­tieren.

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A propos Klischees: Die gefühl­volle und religiöse Ukrai­nerin, die sich um Alten kümmert ist ein einziges Klischee. Würde man sie aber als diebische Schlampe darstellen, wäre das nicht minder eines. Frage: Kann man überhaupt Osteu­ropäer jenseits des Klischees auf die Leinwand bringen? Wie? Oder sollte man jetzt einfach mal fünf Jahre lang keine Filme über Osteu­ropäer mehr im Kino zeigen? Man kann nur verlieren.

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Man muss das Schreiben über Import Export viel­leicht auch in dem Sinn von hinten aufzäumen, dass man über die Reak­tionen erzählt, die er bei den Zuschauern hinter­lässt. Unmit­telbar nach dem Screening fand ich mich nämlich in der unan­ge­nehmen Situation, mit Import Export einen Film vertei­digen zu müssen (und dann auch zu wollen), den zu vertei­digen ich gar keine Lust hatte, im Gegenteil. Das Gespräch beim Essen mit den zwei Kolle­ginnen vom BR und von arte kreiste nämlich etwas zu schnell um die bei Seidl aller­dings immer wieder rasch aufkom­mende Frage, warum man sich so etwas eigent­lich anschauen sollte.
»Das was er zeigt, passiert täglich auf der Welt.« meint Andrea. Mag sein. Aber ist das nun ein mora­li­sches Argument, muss man es also deshalb zeigen? Ist es überhaupt ein Argument? Aber natürlich bin ich auch dafür, dass Seidl seine Filme machen darf, und finde, man sollte sich sie auch anschauen – und sei es nur um dann wie hier zwei Stunden dagegen anzu­schreiben. Wir kommen ja nicht nach Cannes, um uns Spider-Man 3 3 anzu­gu­cken.

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Filme arbeiten, tun körper­lich etwas mit dem Zuschauer, und wenn sich in Cannes tagelang mehrere Filme wie Import Export anein­an­der­reihen, sehnt man sich nach einem Ausgleich. Viel­leicht heute Abend mit Tarantino.

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Die Toiletten entwi­ckeln sich hier zunehmend zum Ort ganz beson­derer Begeg­nungen. Von Fatih Akin habe ich schon erzählt. Heute nun wieder mal voller Festi­val­hektik auf dem Weg zum Örtchen ist die Tür versperrt, auch noch von einer in ein Gespräch vertieften Dame. Man setzt gerade an, um ihr betont genervt zu signa­li­sieren, sie möge doch bitte zur Seite gehen, da erkennt man – Isabelle Huppert. Schön wie im Kino sieht sie aus, und wie schade, dass sie nicht so gestern Abend in der Bar dastand. Was Isabelle Huppert nun vor der Herren­toi­lette zu suchen hatte, ist natürlich eine andere Frage.

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In Cannes kann einem eben alles passieren. Was uns aller­dings gestern passiert ist, kommt hoffent­lich erst in 60 Jahren wieder vor. Plötzlich riss nämlich eine Naht am Gürtel, wahr­schein­lich waren die vielen Buffets schuld, und er ließ sich nicht mehr schließen. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wäre die voriges Jahr in Italien gekaufte Jeans nicht derart modisch geschnitten, dass sie einem immer bis zum Ober­schenkel herun­ter­rutscht. Was tun? Eine gute Gele­gen­heit, die Impro­vi­sa­tions-Fähig­keiten von „German Films“ zu testen, die ja hier einen großen Stand haben, der nicht zuletzt dazu da ist, das Ansehen des Deutschen Films im Ausland zu befördern. Und da wäre ein Kritiker in Unter­hosen schon ein mittel­schwerer Schlag. Also durfte ich ins Mini-Hinter­zimmer des „German Films“-Pavillons, knotete drei nord­see­blaue „German Films“-Bändchen zusammen und dann um die Hose. Es hielt, und so kann ich den „German Films“-Pavillon guten Gewissens weiter­emp­fehlen. Da gibt es wirklich für alle Probleme eine Lösung.

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Nach dieser Werbe­ein­blen­dung kurz zur Eröffnung der Quinzaine. Die haben wir schon deshalb besucht, wie diese Reihe im Vorjahr die aller­beste des Festivals war, und weil der Trailer super ist. Bei der Eröffnung hielt Quizaine-Chef Olivier Pere dann eine sehr gelungene Rede, in der davon die Rede war, wie gute Filme zu sein haben: »poetic, explo­ra­trice, inde­pen­dente et un refus de banalité.« Vor allem das letzte, sollten sich viele hinter den Spiegel stecken. In Cannes wird Realität.