Der vermessene Mensch

Deutschland 2023 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Lars Kraume
Drehbuch:
Kamera: Jens Harant
Darsteller: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker, Max Koch u.a.
Das Angesicht eines neuen Denkens
(Foto: STUDIOCANAL)

Blick zurück mit sanften Augen

Lars Kraumes behutsam erzählter Film über den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, wagt aber zu wenig, um mehr als nur Wissensvermittlung zu sein

Kolo­ni­al­ge­schichte mit all ihren Gräueln ließ sich eigent­lich immer schon gegen Zahlung von Entwick­lungs­hilfe oder mit der klamm­heim­li­chen Akzeptanz neuer auto­kra­ti­scher Struk­turen recht elegant verdrängen. Seien es die Konzen­tra­ti­ons­lager der Engländer in Südafrika oder Kenia, die syste­ma­ti­schen Morde der Belgier an Indigenen im Kongo oder der wohl erste Genozid des 20. Jahr­hun­derts, die von der deutschen Schutz­truppe im heutigen Namibia unter Gene­ral­leut­nant Lothar von Trotha verant­wor­tete Vernich­tung eines großen Teils der Herero und Nama, die zwischen 1904 und 1908 gegen die Besat­zungs­macht aufbe­gehrten.

Im Schatten des südafri­ka­ni­schen Mandats nach dem 1. Weltkrieg, durch das später die Apartheid auch in Namibia imple­men­tiert wurde, geriet dieses Kapitel fast in Verges­sen­heit und auch die Unab­hän­gig­keit im Jahr 1990 änderte nicht sehr viel daran, denn die Befrei­ungs­partei SWAPO bestand mehr­heit­lich aus Ovambo, die im Norden Namibias lebten und an den Aufständen Anfang des Jahr­hun­derts nicht beteiligt waren und die Forde­rungen nach einer offi­zi­ellen Aner­ken­nung des Genozids seitdem nur halb­herzig verfolgten.

Dabei gab es durchaus Kritik an dieser Verdrän­gungs­po­litik. Uwe Timm veröf­fent­lichte 1978 seinen Roman Morenga, der immerhin 1985 als epischer Drei­teiler ins deutsche Fernsehen kam und über den deutschen Ober­ve­te­rinär Gott­schalk die Geschichte des charis­ma­ti­schen Nama-Gueril­lafüh­rers Jakobus Morenga und den Kampf der Nama und Herero gegen die deutsche Schutz­truppe schildert. Einen Kampf, dem sich übrigens auch der Comic­zeichner und Kari­ka­tu­rist Gerhard Seyfried in seinem belle­tris­ti­schen Debüt Herero 2003 widmete. Doch auch innerhalb der deutschen Gemeinde in Namibia taten sich Risse auf, wurde etwa der deutsch-nami­bia­ni­sche Schrift­steller Giselher W. Hoffmann wegen seiner lite­ra­ri­schen Umsetzung von indigener Geschichte, so auch in dem Herero-Roman »Die schwei­genden Feuer« (1994), immer wieder als »Nest­be­schmutzer« diskre­di­tiert.

Doch das war es dann auch schon. Umso wichtiger ist deshalb Lars Kraumes Anliegen, dieses so gut verdrängte Kapitel deutscher Geschichte erneut zu präsen­tieren, mehr noch, als es seit Jahren ein recht­li­ches Ringen von Hereros mit der deutschen Regierung gibt, das erst 2021 zu einer ersten, aller­dings umstrit­tenen Einigung geführt hat.

Kraume, der schon in Filmen wie Der Staat gegen Fritz Bauer (2015) oder Das schwei­gende Klas­sen­zimmer (2018) deutschem Rechts­emp­finden kritisch und diffe­ren­ziert Paroli bot, versucht auch in diesem anspruchs­vollen Streifzug durch deutsche Kolo­ni­al­ge­schichte vorsichtig und bedacht Fehler zu vermeiden, die ihm nach einem Screening vor Mitglie­dern des deutschen Bundes­tags nun dennoch vorge­worfen worden sind: von Aneignung (das Thema dürfe nur von nami­bia­ni­schen Filme­ma­chern verar­beitet werden) über Repro­duk­tion von rassis­ti­schen Stereo­typen bis zu der Kritik an der White-Saviour-Perspek­tive des jungen deutschen Ethno­logen Alexander (Leonard Scheicher), der sich in die Herero-Dolmet­scherin Kezia (Girley Charlene Jazama) verliebt und sich dadurch zunehmend von den in dieser Zeit geltenden evolu­tio­nis­ti­schen Rassen­pa­ra­digmen der Ethno­logie entfremdet und während der mili­tä­ri­schen Ausein­an­der­set­zung zwischen Herero und Deutschen zunehmend zwischen die Fronten gerät.

Wie grotesk bzw. euro­zen­tris­tisch und im Kern »aneignend« diese Vorwürfe sind, lässt sich viel­leicht am besten an den Vorab-Scree­nings Anfang März in Namibia ablesen, die sowohl über die von Sunshine Cinemas orga­ni­sierten Open-Air-Scree­nings als auch im Goethe-Institut in Windhuk auf reges, dankbares Interesse stießen und die deutsche Perspek­tive dort weniger kriti­siert, als vielmehr zum Anlass genommen wurde, doch bitte nach diesem durchaus berech­tigten Film auch einen Film aus indigener Perspek­tive folgen zu lassen.

Das dürfte dann auch das wich­tigste Argument für Kraumes Film in Deutsch­land sein: ein wichtiger Baustein im pädago­gi­schen Kanon zu sein, um Erin­ne­rungs­kultur zu etablieren und über eine vorsichtig erzählte Geschichte anzu­deuten, was deutscher Kolo­nia­lismus in Deutsch-Südwest­afrika war, wie er funk­tio­niert hat und dass es tatsäch­lich einen Völker­mord gab.

Dieser Ansatz sollte auch in jedem Klas­sen­zimmer funk­tio­nieren, für eine erfolg­reiche Kino­aus­wer­tung dürfte es Kraumes Film jedoch schwer haben. Denn Der vermes­sene Mensch ist, wie schon einige Male ange­deutet, vor allem ein sehr bedachter und vorsich­tiger Film. Man merkt dies an allen Ecken und Enden der Erzählung, die immer wieder mit der harschen Realität auf Konfron­ta­ti­ons­kurs geht. Denn die über Tage­bücher, Zeitungen und Korre­spon­denzen aus dieser und heutiger Zeit über­lie­ferte Sprache war erheblich rüder aka rassis­ti­scher als das, was in Kraumes Film gespro­chen wird.

Kraume hat im Interview mit der Berliner Zeitung diesen Punkt nicht nur eingeräumt, sondern auch vertei­digt. Das klingt ein wenig nach dem in letzter Zeit um die Bücher von Roald Dahl entbrannten Konflikt um die mora­li­sche Berei­ni­gung von Sprache, die Kraume für seinen Film in Zusam­men­ar­beit mit der Kommu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­lerin Natasha A. Kelly entschärft hat, um gerade dem Vorwurf der Repro­duk­tion von Rassismen entge­gen­zu­wirken, die allein schon durch eine zu infla­ti­onäre Nennung des »N-Worts« entstehen kann, so wie es ja im Moment auch Wolfgangs Koeppens Roman »Tauben im Gras« und seiner Posi­tio­nie­rung im Schul­kanon vorge­worfen wird.

Diese im gegen­wär­tigen Klima von Political-Correct­ness- und Trigger-Warnings und einer immer rigider operie­renden Cancel-Culture durchaus verständ­liche Vorge­hens­weise, die sich auch auf die Darstel­lung des eigent­li­chen Völker­mordes auswirkt, der hier nur in äußerst behut­samen Andeu­tungen ausfor­mu­liert wird, nimmt Kraumes Film aller­dings die Spreng­kraft, die Wucht, die Ankla­ge­kom­pe­tenz und die Ambi­va­lenz, die es braucht, um einen Film über ein derartig düsteres Kapitel deutscher Geschichte auch für ein breites Publikum nicht nur inter­es­sant zu machen, sondern die »Schuld« tatsäch­lich wie einen brutal-narra­tiven Keil in das Bewusst­sein des »Volks­kör­pers« zu treiben. So wie es etwa Steve McQueen mit seinem immer wieder auch mit Explo­i­tion-Motiven expe­ri­men­tie­renden 12 Years a Slave für die Thematik Sklaverei getan oder wie es die Klassiker über den Holocaust ohne Rücksicht auf Publi­kum­st­rau­ma­ti­sie­rung und mit dezi­dierter Nennung des »J-Wortes« ebenfalls riskiert haben.