China 2013 · 130 min. · FSK: ab 16 Regie: Jia Zhang-Ke Drehbuch: Jia Zhang-Ke Kamera: Yu Likwai Darsteller: Jiang Wu, Wang Baoqiang, Zhao Tao, Luo Lanshan, Zhang Jia-yi u.a. |
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Kristallene, ernüchternde Schönheit |
Bereits Jia Zhangkes Still Life (2006) hat nachhaltig verstört. Bilder von versehrten Landschaften und einer völlig traumatisierten menschlichen Gefühlswelt formen sich dort zu einer Synthese von Welt, die mit Menschsein nichts mehr gemein hat; jeder Außerirdische steht einem näher, als das von Zhangke reflektierte Bild des modernen China und seiner Bewohner. Zhangkes ging damit sogar noch einen Schritt weiter als sein literarisches Pendant Liao Yiwu, der in seinen großartigen literarischen Reportagen [1] bei aller sozial-politischer Destruktivität zumindest in Ansätzen auch so etwas wie menschliche Wärme, Solidarität und Hoffnung aufspürte. Doch auch bei Yiwu ist präsent, was in Still Life schließlich am nachhaltigsten schockierte – die bei all dem Grauen kaum zu begreifende Abstinenz von Widerstand jeglicher Art.
Doch Widerstand war und ist in bislang jeder menschlichen Notsituation nur eine Sache der Zeit; mehr noch in Zeiten fehlender Rechtssicherheit, wie Kleist dies am Beispiel von Michael Kohlhaas bereits vor 206 Jahren atemberaubend veranschaulichte. Und natürlich erst recht im China der Gegenwart, wo nach sieben Jahren, die seit Still Life vergangen sind, Widerstand zu einer tatsächlichen Option geworden ist, da der Graben zwischen Reich und Arm sich noch einmal dramatisch geweitet hat und die Rechtssicherheit auf allen gesellschaftlichen Ebenen weiterhin mehr fragile Versprechung denn Realität ist.
Jia Zhangke schildert diese Transformation zur Gewalt in ebenso atemberaubend tristessen Bildern wie schon in Still Life. Und auch in A Touch of Sin vertraut Zhangke zurecht auf den episodischen Charakter seines Plots, der ihm die Möglichkeit gibt, „sein“ China von unten aus mehr als nur einer Perspektive zu schildern und Geschichten zusammenzuführen, die sonst kaum zusammen kämen – vom kohlhaasschen Rächer mit tarantinoesker Maske über anarchistische und völlig apolitische, an Italo-Western erinnernde Selbstbereicherung bis zu zarten, fast lyrischen Momenten erstickter Liebe, die sich sowohl in aggressiven als auch autoaggressiven Reaktionen zu befreien sucht. Eine Gewalt voller Facetten, die jedoch eins gemein hat – so still wie die Täter, so still sind die Sterbenden.
Die Bandbreite, die Zhangke damit bedient ist so außerordentlich wie die filmische und erzählerische Eleganz, mit der er operiert. Kein Satz, kein Schnitt, kein schauspielerisches Attribut ist redundant, die Fotografie von einer kristallenen, ernüchternden Schönheit – allein schon Zhangkes Einstellungen von abfahrenden Zügen wären es wert, als ausgekoppelte „Videoinstallationen“ auf jeder Kunstbiennale gezeigt zu werden. Dadurch erreicht Zhangke eine realistische Dichte, die mehr als verstört, ja nicht einmal den Wunsch nach Zweifeln an dem Gesehenen aufkommen lässt, geschweige denn, in eine der zahlreichen anderen filmischen Realitäten des modernen China ausweichen zu wollen, der inzwischen immerhin drittgrößten Filmindustrie der Welt.
A Touch of Sin ist darüber hinaus aber auch ein weiterer Meilenstein der legendären 6. Generation chinesischer Filmschaffender, der sogenannten „Nach-Tian‘anmen-Generation“, die sich wie kaum eine andere Generation von Filmschaffenden für die Subkulturen Chinas und die Verwerfungen der sozialen Schichten in China im Zeitalter der Globalisierung einsetzt. Doch so groß wie die von ihnen dargestellten Kontraste einer bis zum Zerreißen gespannten Gesellschaft sind, so groß ist inzwischen auch der Abstand zum chinesischen Mainstream-Kino, ein Kontrast, so bizarr wie die Kontraste in China selbst und der vielleicht am besten erfahrbar wird, wenn man sich nach Jia Zhangkes A Touch of Sin einen der letzten finanziellen Großerfolge der chinesischen Filmindustrie ansieht, Xu Zhengs LOST IN THAILAND.
[1] Liao Yiwu, Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2009.