Deutschland/Schweiz 2012 · 135 min. · FSK: ab 6 Regie: Harald Bergmann Drehbuch: Harald Bergmann Kamera: Elfi Mikesch Darsteller: Heinz Wismann, Klaus Wyborny, Rainer Sellien, Ronald Steckel, Katerina Medvedeva u.a. |
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Das seltene Glück geöffneter Zeitfenster |
Die Erinnerung ist das Thema der Romane von Vladimir Nabokov: Jenseits aller Skandale, der Lolitas und der Inzest-Szenarien ist es die rätselhafte Beziehung zwischen der Zeit und dem Gedächtnis, die diesen Schriftsteller zeitlebens vor allem beschäftigt hat: »Erinnerung sprich« sind die autobiografischen Aufzeichnungen Nabokovs betitelt.
Wie verfilmt man Literatur? Diese Frage bleibt schwierig, auch wenn es sich bei über der Hälfte aller Spielfilme auf die eine oder andere Art um Literaturverfilmungen handelt, nur meist um die Verfilmung völlig unbekannter Vorlagen. Die Schwierigkeit ist noch einmal verstärkt, wenn es sich um einem Schriftsteller wie Nabokov handelt, dessen Literatur sich nicht in Plots, in Geschichten, die einen oder mehrere Figuren von A über B nach C führen, zusammenfassen lässt, dessen Texte mit Andeutungen und Aussparungen, mit Elipsen und theoretischen Reflexionen arbeiten. Und wenn nicht einfach ein Roman verfilmt werden soll, sondern ein solches eher philosophisches Kapitel.
Wer wäre geeigneter für diesen Film, als Harald Bergmann? Der Kölner Regisseur hat sich mit ebenso unkonventionellen, wie spannenden Literatur-Essays mit Texten von Friedrich Hölderlin (Hölderlin-Trilogie) und Rolf-Dieter Brinkmann (Brinkmanns Zorn) auseinandergesetzt. Brinkmanns neuer Film Der Schmetterlingsjäger hat nicht zufällig den Untertitel: 37 Karteikarten zu Nabokov. Das ist programmatisch für die Produktionsmethode des Schriftstellers Nabokov. Dieser Essay-Film passt sich insofern ganz seinem Gegenstand an, indem er dessen Form des diskontinuierlichen Puzzles und losen Arrangements übernimmt. Das Material sind erfundene und nachgestellte Momente im Leben Nabokovs, Szenen aus seinen Romanen, vor allem aber die Sprache Nabokovs selbst, gelesen aus dem Off von dessen Sohn. Die Form des Films ist insofern ungewohnt und kompliziert, als das Bergmann dafür die Produktion des eigenen Films in diesen mit einmontiert hat. Der Experimentalfilmer Klaus Wyborny spielt den Regisseur, der im Schneideraum mit dem Philosophiehistoriker Heinz Wismann das Material sichtet und dabei über Nabokovs Ideenwelt und über die Unmöglichkeit des eigenen Unterfangens sprechen. Das ist selbstironisch, erschließt sich in seinem Charme aber gewiss nicht jedem.
Harald Bergmann empfindet erkennbar viel Leidenschaft für den Schriftsteller Nabokov. Wer Nabokovs Romane schätzt, wird diesen Film leicht verstehen und ihm viel abgewinnen. Wer sie nicht kennt, wird in zwei Stunden sehr viel von einem der größten Romanautoren des 20. Jahrhunderts erfahren.
Zweierlei wird hier unbedingt vom Zuschauer vorausgesetzt: Neugier und Wohlwollen. Wer keine Lust hat, sich von einem Regisseur an die Hand und mit auf eine Reise nehmen zu lassen, wer uninteressiert ist an den unentdeckten Kontinenten des Kinos, der wird hier nicht glücklich werden, dem muss alles hier prätentiös und sperrig und quälend langsam erscheinen. Er sollte dann aber besser auch nie ein Buch von Nabokov zu lesen versuchen.
Am manchen ersten Internet-Reaktionen auf diesen Film ist leicht bemerkbar, welch ein Abgrund an Unbildung und welch arrogante Ignoranz uns von den Zeiten trennt, als Schriftsteller wie Nabokov und Alain Robbe-Grillet um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Literatur neu zu erfinden wagten. Worauf die Spießbürger sich empörten und mit dem allererwartbarsten, allerbilligsten Einwurf konterten: Das ist doch gar keine Literatur! So brüllt der Mob heute Bergmann entgegen, das sei ja kein Kino. Als sei er der neue Godard. Was Bergmann nun auch nicht ist.
Der Schmetterlingsjäger hat Schwächen. Er macht es seinen Zuschauern gelegentlich schwer, weil er auf jedes diskursive Einfallstor verzichtet, sich selbst mitunter aber etwa zu leicht, indem er sich auf die »gesellschaftlich verbotene Lust ... nicht unbedingt marktgerechter Erzählformen« herausredet, wo mit etwas mehr eigener Anstrengung vielleicht noch ein besseres Ergebnis erzielt worden wäre.
Andererseits gibt es hier so oder so viel zu entdecken und zu verstehen. Man kann diesen Film nicht mögen, oder sogar schlecht finden. Wer diesen Film aber nicht versteht, und das zum Argument nimmt, er sei schlecht, der erinnert an den Ausspruch eines anderen Schriftstellers: Lichtenberg hatte mal geschrieben, wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstießen, und es klänge hohl, dann läge es meistens nicht am Buch.
Der Schriftsteller Vladimir Nabokov war ein Wanderer zwischen verschiedenen Welten und eine faszinierende Persönlichkeit. Sein Weg führte ihn von Russland über London und Berlin in die USA und schließlich in die Schweiz. In den Vereinigten Staaten arbeitete Nabokov zuerst als Schmetterlingsexperte und erst später als Literaturprofessor. Sein von Stanley Kubrick (1962) und Adrian Lyne (1997) verfilmter Skandalroman „Lolita“ (1955) erschien zunächst nur in Frankreich bei dem auf englischsprachige Erotika spezialisierten Verlag Olympia Press. Der umtriebige Verlag hatte zuvor bereits Werke, wie Henry Millers autobiografischen Roman „Sexus“ (1949) herausgebracht.
Doch erst mit der Veröffentlichung von „Lolita“ in den USA kam der große finanzielle Erfolg, der es Nabokov ab 1958 erlaubte sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. In Folge schrieb Vladimir Nabokov eine Reihe bedeutender Werke, die denkbar verschieden von „Lolita“ waren. In seinem zweiten Hauptwerk „Ada oder Das Verlangen“ (1969) befasst der Autor sich auf philosophisch tiefgehende Weise mit dem Wesen der Zeit; ebenso in seiner Autobiografie „Erinnerung, sprich.“ (1967).
Diese beiden Werke dienen dem deutschen Filmemacher Harald Bergmann als Ausgangsbasis für eine Auseinandersetzung mit Nabokov in Form des Essayfilms Der Schmetterlingsjäger. Leider klingt dies wesentlich interessanter, als es ist. Der Untertitel 37 KARTEIKARTEN ZU NABOKOV deutet bereits an, dass es sich bei diesem Essayfilm um ein gleichermaßen sperriges, wie prätentiöses Werk handelt, das zudem mit einer Laufzeit von 135 quälend langsamen Minuten eine gute Stunde zu lang geraten ist. Immerhin kann festgehalten werden, dass sich auf diese Weise der Zuschauer zwangsweise Gedanken über das Wesen der Zeit macht, wenn auch wahrscheinlich aus anderen Gründen, als von Harald Bergmann intendiert. Dabei beginnt alles recht klassisch, aber vielversprechend:
Schwarzweiße Originalaufnahmen zeigen Bilder aus der Kindheit des Schriftstellers. Hinzu treten Zitate aus seinem Werk, als die fiktive Stimme Nabokovs aus dem Off. Dieser betrachtet das Leben des Menschen in der Zeit als ein kurzes Aufleuchten inmitten einer großen Finsternis. Hierbei interessiert Nabokov die Frage, wo oder was wir vor unserer Geburt waren beinahe noch mehr, als die Frage, was mit uns nach unserem Tod geschieht. – Würde Der Schmetterlingsjäger auf diese Weise weitergehen, so wäre dies formal wahrscheinlich wenig innovativ, aber inhaltlich hochinteressant.
Aber dieser Weg war dem Essayfilm-Experten Harald Bergmann (Brinkmanns Zorn, Hölderlin Trilogie) anscheinend zu banal. Stattdessen schwebte ihm ein hochkomplexer Essayfilm im Stile von Jean-Luc Godards 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS (1967) vor. – Doch ist gewollt nicht automatisch auch gekonnt. – So schwankt das Ergebnis die meiste Zeit zwischen Langatmigkeit, unfreiwilliger Komik und arrogantem Ärgernis:
Wichtige Texte Vladimir Nabokovs werden von dessen Sohn Dimitiri verlesen. Dimitri war zu diesem Zeitpunkt bereits hochbetagt und starb im Jahre 2012. Trotz seiner Liebe zum Werk des Vaters merkt man dieses hohe Alter Dimitris schwacher und brüchiger Stimme durchaus an. Spätestens, wenn Dimitiri eine Buchpassage über die in einem von seinem Vater gefühlte Ekstase vorliest, ist das Ergebnis bestenfalls problematisch.
Ein weiteres wichtiges Element in dem collagenhaft-assoziativen Film sind nachgestellte Ereignisse aus dem Leben des Schriftstellers. Hierbei wird kein Unterschied zwischen belegten und nur von Nabokov imaginierten Episoden aus seinem Leben gemacht. – So behauptet der Schriftsteller z.B., dass seine erste Erinnerung aus seiner Säuglingszeit stammt. Als er eines Tages als Baby im Kinderbett lag, wäre er beinahe von einem sich aus der Decke lösenden und herabfallenden Stein erschlagen worden. In diesem Vorfall sieht Nabokov den Auslöser für sein frühes Grübeln über philosophische Fragestellungen. – Andere Anekdoten wirken wiederum willkürlich gewählt. Recht schlecht gespielt sind sie allesamt, was man zumindest den neben einzelnen Profis auftretenden Laienschauspielern nicht verübeln kann.
Zwischen den zumeist von Dimitri mit schwacher Stimme vorgelesenen Ausschnitten aus Nabokovs Werk und verschiedenen realen oder imaginierten und dilettantisch gespielten Episoden aus Nabokovs Leben fährt immer wieder ein Mann in einem Sportwagen durch die Schweizer Alpen. Das soll vermutlich ähnlich enigmatisch wirken, wie wenn eine sexy Motorradfahrerin namens „Sara Zeitgeist“ (!) in Alain Robbe-Grillets Mystery-Drama DIE SCHÖNE GEFANGENE (1983) durch die Nacht düst. Aber bei Harald Bergmann wirkt auch dies nur fürchterlich abgeschmackt und hart am Rand der Lächerlichkeit.
Zu schlechter Letzt wartet der überlange Essayfilm mit einer selbstreflexiven Ebene in Form eines Gesprächs zwischen dem französischen Philosophen Heinz Wisman und dem deutschen Regisseur Klaus Wiborny auf. Das Thema ihres Diskurses ist kein geringeres, als die Frage, wie bzw. ob man überhaupt einen Film über Nabokov machen kann. Dabei ist sowohl der Untersuchungsgegenstand als auch das Ergebnis dieser intellektuellen Höhenflüge ein „work in progress“ in Form des vorliegenden Films. Dies erinnert sehr euphemistisch betrachtet erneut an ein Werk von Alain Robbe-Grillet, und zwar an dessen zweiten Spielfilm TRANS-EUROP-EXPRESS (1967).
Die Grundidee dieses Films von Alain Robbe-Grillet ist die, dass ein selbst im Film auftretender Schriftsteller an einer Geschichte arbeitet (und dieses ständig umschreibt), welche genau die Geschichte ist, die der Film zeigt. Dieser Bezug zu Der Schmetterlingsjäger zeigt vorrangig, wie steinalt die von Harald Bergmann präsentierte Idee bereits ist. Leider hat der deutsche Filmemacher nichts vom leichten Charme des entfernten französischen Vorgängers übernommen. Im Gegenteil ist es der Franzose Heinz Wisman der mit seiner erbarmungslosen Arroganz und seiner penetranten Schulmeisterlichkeit dem Projekt mit sicherer Hand endgültig den Todesstoß versetzt:
Wismans Gespräch mit dem deutschen Regisseur Klaus Wiborny ist das eines Lehrers mit einem dummen Schüler. Wagt es Wilborny einmal seine Sicht der Dinge kundzutun, würgt ihn Wisman einfach mit dem Hinweis „Jetzt ist aber genug, das ist doch trivial!“ ab. Mit zunehmender Konfusität von Film und Dialog und Dialog über den Film gerät Wiborny immer mehr in Panik („Jetzt weiß ich aber wirklich nicht mehr weiter“). Wisman hingegen freut sich und verkündet in gnadenloser Jovialität: »Aber genau so muss es sein! Man muss sich zunächst völlig verlieren, (…)!«
Fazit: Das Wesen der Zeit, wie dieser Film es uns zeigt, ist das von vergeudeten 135 Minuten.