Deutschland 2013 · 96 min. · FSK: ab 12 Regie: Stefan Ruzowitzky Drehbuch: Stefan Ruzowitzky Kamera: Benedict Neuenfels Schnitt: Barbara Gies |
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Strenge Nachkonstruktion à la Lars von Trier – zumindest im Szenenbild |
Der österreichische Drehbuchautor und Regisseur Stefan Ruzowitzky erhielt für sein auf wahren Begebenheiten beruhendes KZ-Drama Die Fälscher im Jahre 2008 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Der Film machte aus der unglaublichen Tatsache einer während des Zweiten Weltkriegs in einem KZ mit Häftlingen betreibenden Nazi-Fälscherwerkstatt einen spannenden Spielfilm. Jetzt legt Ruzowitzky mit Das radikal Böse eine Dokumentation zu den NS-Einsatzgruppen in Osteuropa vor, die von 1941 bis 1943 zwei Millionen Juden erschossen. Doch kann man dieser unfassbaren Thematik tatsächlich damit gerecht werden, indem man – wie in diesem Essayfilm – Schauspieler aus Tagebüchern und aus Briefen der Täter vorlesen lässt, während dazu Laiendarsteller als Nazis posieren? Man kann.
Der Ausgangspunkt zu diesem Filmprojekt lag in der Einsicht, dass ein heutiger Dokumentarfilm zur NS-Zeit alleine aus der Tatsache heraus einen neuen Ansatz verlangt, dass es kaum noch lebende Zeitzeugen gibt. Auch stellt sich inzwischen die Frage, inwieweit man Aussagen der noch lebenden Zeitzeugen bei einem derartigen zeitlichen Abstand wirklich noch trauen kann. Im besonderen Fall der zwei Millionen in Osteuropa ermordeten Juden kommt die äußerst bittere Tatsache hinzu, dass die deutschen Einsatzgruppen so gründlich gemordet haben, dass es in den betreffenden Ortschaften schlicht keine überlebenden Juden mehr gibt.
Nur in einem einzigen ukrainischen Ort werden die noch lebenden nichtjüdischen Einwohner zu den damaligen Ereignissen befragt. Das sind Geschichten, wie die von dem alten Mann, der als Kind zusammen mit ein paar anderen Jungs eine Grube für die zu erschießenden Juden ausheben musste. Die Opfer wurden gezwungen, sich nackt mit dem Gesicht auf den Boden zu legen. Waren alle erschossen, wurden die Kinder zurückgerufen, um die Leichen soweit mit Erde zu bedecken, dass die nächste Lage an Opfern Platz fand. Am meisten hatte den alten Mann damals die Erschießung eines vierjährigen Kindes mitgenommen. Erstens waren sie zu der Zeit selbst noch Kinder. Zweitens würde der Junge heute noch leben. Aber »so war das damals«...
Der größte Teil von Das radikal Böse besteht aus der Wiedergabe der Aussagen der Täter, die direkt aus alten Briefen und Tagebüchern und aus Vernehmungsprotokollen zitiert werden. Als Stellvertreter für die tatsächlichen Autoren posieren Statisten in mal ungezwungenen, mal starren Posen. Von der Darstellung von Gruppen von Soldaten, wechselt das Bild immer wieder zu unterschiedlichen Split-Screens, in denen die Individuen innerhalb einer Gruppe sichtbar werden. Und immer wieder tastet die Kamera in Großaufnahme einzelne Gesichter ab, als ob sie dort eine Antwort auf das allgegenwärtige »wieso?« suchen würde. Natürlich kann sie dort nichts finden, da es sich ja nur um Stellvertreter handelt. Zugleich spiegelt sich in der Leere und der Bedenkenlosigkeit vieler dieser Gesichter die innere Leere in den Aussagen vieler Mörder.
Diese Einsatzgruppen, die über Jahre hinweg tagein, tagaus Hunderte von unschuldigen Zivilisten erschossen haben, beschreiben ihre Tätigkeit in der Regel als eine zwar »undankbare Aufgabe«, die jedoch »einer tun müsse, da ansonsten die Juden das Gleiche, nur tausendfach schlimmer mit den Deutschen tun würden«. Die Kernthese von Das radikal Böse besteht darin, dass der ganz überwiegende Teil dieser Massenmörder nicht aus heimlichen Sadisten, sondern aus ganz normalen Menschen bestand. So bescheinigte auch eine psychologische Untersuchung im Rahmen der Nürnberger Prozesse den Tätern eine »vollkommene geistige Gesundheit«. Die Frage, die der Film stellt, lautet folglich, wie man ganz normale Durchschnittsbürger zu solchen unbeschreiblichen Taten bewegen kann. Denn eine der besonders erschreckenden Erkenntnisse besteht darin, dass niemand der den Befehl zur Teilnahme an einem Erschießungskommando verweigerte, mit ernsthaften Sanktionen zu rechnen hatte.
Wie passt das also zusammen, das es sich bei dem Gros der Täter um im Alltag völlig normale Durchschnittsmenschen gehandelt haben soll, die solche Taten trotzdem über Monate und Jahre hinweg freiwillig begangen? An dieser Stelle kommt eine Reihe von Experten zu Worte, die vom Holocaustforscher bis zum Militärpsychologen reichen. Auch wird auf eine Reihe bekannter Experimente verwiesen, in denen gruppendynamische Prozesse in Bezug auf Gewalt und Grausamkeit und in Bezug auf offensichtliche Fehlentscheidungen untersucht wurden. Bei einer Laufzeit von nur 90 Minuten gelangen einige dieser Aussagen leider nicht über Allgemeinplätze hinaus und viele weitere können nicht befriedigend vertieft werden. So sind es mehr kleine Erklärungshäppchen, die in Das radikal Böse präsentiert werden. In ihrer Gesamtheit geben sie jedoch trotzdem einen ersten Eindruck davon, wie normale Menschen bei entsprechender ideologischer Indoktrinierung und in Zusammenhang mit den gruppendynamischen Prozessen in einer von ihrer Familie abgeschiedenen Sondereinheit zu Taten fähig werden können, die sie in ihrem normalen Alltagsleben vollkommen ablehnen würden.
Das Kernstück bilden die Aussagen der Täter. Diese reichen über Schilderungen des schönen Wetters und des guten Essens bis hin zu ausführlichen Details zu der möglichst effizienten Erschießung Hunderter von Juden und Zigeunern. Da finden sich Aussagen, wie »das Ausheben der Grube dauert am längsten, die eigentliche Erschießung geht recht schnell, so vierzig Minuten für Hundert Menschen«. Es wird auch gezeigt, dass die meisten Männer bis zum Erlangen solch einer unglaublichen Abgestumpftheit und Abgebrühtheit einen Prozess durchlaufen sind, der oft mit Übelkeit, Erbrechen und anschließender Trunkenheit bei den ersten Erschießungskommandos begann. Doch auch hier schockieren wiederum die angeführten Gründe, weshalb die meisten trotz der Möglichkeit des Ausscheidens trotzdem weiterhin an Erschießungskommandos teilnahmen. Da geht es um Ängste, wie »als nicht männlich genug zu gelten« oder schlicht »Nachteile bei den nächsten Beförderungen zu erleiden«. Es ist die Banalität des Bösen, die immer wieder überrascht und schockiert.
Ein Verdienst des Film besteht darin, dass die konkreten Taten der Einsatzgruppen im Osten während des Zweiten Weltkriegs als Ausgangspunkt genommen werden, um zu versuchen allgemeingültige Aussagen zu den beschriebenen Prozessen bei der Verwandlung von unbescholtenen Bürgern zu mordenden Bestien zu gewinnen. Somit ist dies nicht einfach nur eine weitere Dokumentation, die sich mal wieder mit der Nazizeit beschäftigt. Das radikal Böse beschreibt die Möglichkeit zum Bösen als Teil der menschlichen Natur. – Darf man das? Kommt das nicht einer moralisch unerträglichen Entschuldigung der Täter gleich? – Diese Art von Argumenten greift zu kurz. Selbstverständlich verringert die Zunahme eines allgemeinen Verständnisses nicht die konkrete Schuld bei den real begangenen Taten. Aber dieses Verständnis könnte in der Zukunft unter Umständen dazu beitragen ähnlichen Massakern entgegen zu wirken. Außerdem zeigt Das radikal Böse ebenfalls, dass es auch eine Minderheit von mutigen Menschen gab, die sich trotz allem diesen Befehlen entzogen hat.