Petite Maman – Als wir Kinder waren

Petite maman

Frankreich 2021 · 73 min. · FSK: ab 0
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch:
Kamera: Claire Mathon
Darsteller: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne, Margot Abascal u.a.
Heterotopie der Vergangenheit
(Foto: Alamode)

Nelly im Wunderland

Céline Sciamma inszeniert in Petite Maman Trauerarbeit als tief berührenden Zeitreisenfilm

Zeit­reisen in die jüngere Vergan­gen­heit haben zwei Vorteile. Erstens: Man kann dem jüngeren Ich anderer begegnen. Dieses kann sich dann, womöglich auf Augenhöhe, ganz anders erklären, als dies das spätere Ich der Gegenwart kann. Aus der direkten Anschauung der Vergan­gen­heit heraus lässt sich die Gegenwart viel besser verstehen. Zweitens: Man kann dem jüngeren Ich verraten, wie der Lauf der Dinge sein wird. Ohne also in die Gescheh­nisse einzu­greifen – was Zeit­rei­senden streng verboten ist –, kann man in der Vergan­gen­heit auch Zuver­sicht säen oder Trost spenden. Und den Menschen der Vergan­gen­heit das Leben, das auf sie zukommt, ein wenig leichter machen. Wenn alles gut ausgeht. Mit Para­do­xien und Aporien muss ein Zeit­rei­sender natürlich klar­kommen.

Auch Céline Sciammas neuer Film Petite Maman ist ein Zeit­rei­sen­film. Die acht­jäh­rige Nelly, benannt nach ihrer Groß­mutter, begegnet in ihm ihrer Mutter Marion, als diese so alt ist wie sie selbst. Nelly und Marion – mit gran­dioser Burschi­ko­sität verkör­pert von den eineiigen Zwil­lingen Joséphine und Gabrielle Sanz – ist die Anagno­risis ihrer verwandt­schaft­li­chen Beziehung versagt; sie freunden sich einfach wie zwei Mädchen gleichen Alters an. Erzählt wird aus der Perspek­tive von Nelly, die die Zeit­rei­sende ist, und nur sie hat das Bewusst­sein vom Genera­tio­nen­sprung, der in der Begegnung passiert.

Reisen in die Vergan­gen­heit werden meist erzählt, um für eine dysto­pi­sche Zukunft Rettung zu holen, was dann aber wie bei Chris Markers La jetée (1962) zu einem onto­lo­gi­schen Zirkel­schluss führen kann. Oder sie werden erzählt, um die Abhän­gig­keit linearer Ereig­nisse deutlich zu machen, wenn die eigene Zukunft fast verhin­dert wird und die Zeit droht, in einer Sackgasse stecken zu bleiben, wie in Robert Zemeckis’ Back to the Future (1985). Petite Maman funk­tio­niert eher auf einer psycho­ana­ly­ti­schen Ebene, die durch die Rahmen­hand­lung als starke Setzung einge­führt wird. Nach dem Tod ihrer Groß­mutter fährt Nelly mit ihren Eltern in das Haus ihrer Oma, das ausgeräumt werden muss. Es liegt in einem Wald­grund­s­tück, es ist Herbst, die verfärbten Laubbäume tauchen das Grund­s­tück in Goldgelb und Rostrot, gefilmt hat Claire Mathon, die schon in Porträt einer jungen Frau in Flammen das Licht und die Farben durch die Bilder Fluten ließ. Im Haus­in­neren ist alles in milchig und grünlich, Möbel werden gerückt, alte Tape­ten­reste kommen zum Vorschein, alte Schul­hefte tauchen auf. Irgend­wann wird es der Mutter, die gerade die eigene Mutter verloren hat, zu viel, die Vergan­gen­heit umzu­wälzen, und sie verschwindet. Der Vater bleibt mit der Tochter allein.

Nelly hängt von da an ziemlich durch, dünstet eine Mischung aus Überdruss und Lange­weile aus. Schließ­lich geht sie mit einem alten Jokari-Ballspiel, mit dem man früher Einzel­kinder beschäf­tigte, nach draußen. Schlägt kräftig auf den Ball; die Gummi­schnur, an der der Ball hängt, reißt prompt, der Ball fliegt in die Büsche. Wie Alice dem weißen Kaninchen folgt und ins Wunder­land gerät, sucht Nelly nach dem Ball und kommt auf eine Lichtung, auf der sie auf jenes andere Mädchen trifft, das wie ihre Mutter Marion heißt und ihr selbst zum Verwech­seln ähnlich sieht. Die Zeitreise ist vollzogen. Es folgen wech­sel­sei­tige Besuche im selben Haus, Pfann­ku­chen­ba­cken und Pyjama-Gespräche. Zwei Freun­dinnen haben sich gefunden, gezeigt wird Kompli­zen­schaft und Einver­ständnis

Man kann sich die »kleine Mama« auch deshalb gut als »amie imagin­aire« vorstellen, als einge­bil­dete Freundin, die sich Nelly, getrig­gert durch die Schul­hefte, die Kinder­spiele, aber vor allem auch durch das Verschwinden ihrer Mutter in ihrem Allein­sein herbei­fan­ta­siert – das wäre jedoch eine sehr prosai­sche und unma­gi­sche Sicht­weise. Denn alles ist letztlich sehr real, wenn bei den wech­sel­sei­tigen Besuchen die kleine Marion auch den Vater von Nelly begrüßt und wenn Nelly ihrer Oma bei den Kreuz­wort­rät­seln hilft, wie sie es vor ihrem Tod im Altenheim gemacht hat. Und gleich­zeitig ist auch alles sehr magisch, denn in jedem Moment wird auch die Einma­lig­keit der Begegnung über die Zeit hinweg spürbar, als eine tief berüh­rende Zusam­men­kunft, die der Trau­er­ar­beit großen Ausdruck verleiht.

Der stille Ernst der Mädchen, die immer ein wenig älter wirken als sie sind, ihr entschlos­sener Gang, das freie Spiel im Wald und die grund­sätz­liche Verschwie­gen­heit lassen den Film immer ein wenig verhalten und in sich ruhend wirken. Und auch, wenn sie zwischen­durch einmal kichern: Die Mädchen scheinen in Melan­cholie versunken, sie tragen einen tiefen Schmerz in sich. Verar­beiten den Tod der Oma, das Verschwinden der Mutter, die kleine Marion die Angst vor einer bevor­ste­henden Operation. Sie erzählt Nelly, dass ihre Trau­rig­keit schon jetzt da ist, als Kind. Damit nimmt sie Nelly auch eine große Last von den Schultern: Sie wird, indem sie die Vergan­gen­heit kennt und erkennt, auch befreit. Eine psycho­ana­ly­ti­sche Volte womöglich, die tief berührt, und die diesen kleinen Film ganz groß werden lässt.

Selbstverständliche Gegenwelten

Schön, ruhig und sehr wirkungsvoll: Céline Sciammas Petite Maman

Am Anfang ein Abschied: Gleich dreimal hört man »Au Revoir!« – das sind die ersten Worte des Films, gespro­chen von einem kleinen Mädchen. Acht Jahre alt ist Nelly, und gerade ist ihre geliebte Groß­mutter gestorben. Jetzt beschenkt sie die Patienten des Kran­ken­hauses mit verschie­denen Dingen, die sie für ihre Groß­mutter aufge­hoben hat. Der Mecha­nismus der Substi­tu­tion als Schutz­re­ak­tion der Psyche auf Stress (das Unter­be­wusst­sein der Kinder funk­tio­niert viel besser als das rationale Denken) wird in der Eröff­nungs­szene des Films bereits entfaltet.

An den nächsten Tagen wird Nelly mit ihren Eltern das alte Haus der Groß­mutter am Rand eines großen Waldes ausräumen und entrüm­peln.
Bald muss die Mutter über­ra­schend wegfahren, und so bleibt Nelly mit ihrem Vater allein in dem unbe­kannten, recht altmo­di­schen, großen Gebäude. Viele Stunden verbringt sie dann dort, sich selbst über­lassen, auf den Spuren der Kindheit ihrer Mutter, um deren Eltern­haus es sich handelt. Mehr und mehr taucht Nelly dabei auch ein in die Gefühls­welt ihrer Mutter zu der Zeit, als diese selbst nicht älter war als sie jetzt. Sie blättert in deren alten Schul­heften, sie entdeckt Spielzeug in den Schränken, und sie fürchtet sich vor dem Panther, der nachts wie ein Schatten am Fußende ihres Bettes zu kratzen scheint.
Sie spielt auch im Wald, wie ihre Mutter früher. Eines Tages trifft sie dort ein anderes Mädchen, das etwa so alt ist wie sie und das zu ihrer Spiel­ge­fährtin wird. Gemeinsam bauen sie an einem Baumhaus, etwa an jener Stelle, wo auch die Mutter einst eines hatte. Die neue Freundin, sie heißt Marion, nimmt sie irgend­wann mit in ihr Eltern­haus und spätes­tens in diesem Moment begreift jeder Zuschauer, was hier eigent­lich vor sich geht: Denn dieses Eltern­haus ist mit dem von Nellys Groß­mutter identisch. Die acht­jäh­rige Marion ist eine frühere Version von Nellys Mutter!

Das ist die phan­tas­ti­sche Wendung, die dieser Film etwa zu seiner Hälfte nimmt. Uner­wartet, scho­ckie­rend in dem Wechsel des Tons, den er für den Film bedeutet, und zugleich ganz natürlich, ganz selbst­ver­ständ­lich im Übergang zwischen der einen Welt zu der anderen.

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Im Kino ist alles möglich. Und alles erlaubt. Man kann jetzt als Zuschauer deuten, inter­pre­tieren, man kann diese Wendung ins Phan­tas­ti­sche als ein naives oder roman­ti­sches Märchen auffassen, als eine Form magischer Realismus, man kann dem Ganzen eine psycho­ana­ly­ti­sche Deutung geben und sich sagen, dass Nelly sich das alles nur einbildet. Aber ganz so einfach ist es nicht – nur ist es völlig egal, wie man sich die Sache letzt­end­lich erklärt; und am besten lässt man alles auf sich beruhen und nimmt es mit ähnlicher Selbst­ver­ständ­lich­keit wie die acht­jäh­rige Haupt­figur: Kein Grund zur Beun­ru­hi­gung; kein Grund, sich in seinen Welt­bil­dern irri­tieren zu lassen.

Es ist jetzt einfach so: Nelly trifft ein paar Tage lang täglich ihre eigene Mutter als Gleich­alt­rige.

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Man könnte diesen Film als Fantasy-Film bezeichnen, oder auch als einen natu­ra­lis­ti­schen Science-Fiction. Einmal sagt sie ihrer (wie gesagt hier gleich­alt­rigen) Mutter: »Ich komme von dem Pfad hinter dir.«

Was wir nun erleben, während wir zwei jungen Mädchen dabei zuschauen, wie sie spielen, wie sie ein Baumhaus bauen, wie sie ziemlich albern und laut kichernd Pfann­ku­chen backen, wie sie Rollen­spiele spielen – das ist die Annähe­rung der Tochter an die Mutter und eine Art Versöh­nung, die durchaus etwas Gegen­sei­tiges hat. Nelly trifft auch die Groß­mutter, die sie gerade verloren hat, wieder, die nur eine viel jüngere Frau ist, und kann das nachholen, was sie zuvor verpasst hatte: Sie kann sich richtig verab­schieden.

Zum eigent­li­chen Höhepunkt wird aber der letzte Tag, den die beiden mitein­ander verbringen, und der einzige Moment des Films, in dem Musik alles erfüllt – eine Schlüs­sel­szene, wie sie für die Regis­seurin Céline Sciamma typisch ist. Sie zeigt eine gemein­same Schlauch­boot-Tour der kleinen Mädchen auf einem See, in dessen Mitte die absurd-moder­nis­ti­sche Nach­ah­mung einer azte­ki­schen Sonnen­gott-Pyramide steht. Hier fahren die beiden auch kurz in eine Höhle hinein, die wiederum wie das Tor zu einer anderen Welt aussieht. Märchen und Gegen­welten sind hier selbst­ver­ständ­lich, vieles liegt im Auge des Betrach­ters, aber insgesamt ist dieser gut gemachte, schöne, ruhige Film sehr wirkungs­voll.

Dies ist ein Film über den Tod, über die Angst vor dem Tod und dem Tod der Anderen. Ein Film über das Verab­schieden und Verar­beiten. Insofern ist der mitten während der Pandemie-Monate gedrehte Petite Maman, »kleine Mutter«, ein Film, der zu Corona sehr gut passt.

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Dies ist ein Zeitreise-Film, der den Kanon der Zeit­reisen kaum streift. »Alles ist möglich« scheint die Regis­seurin dem Zuschauer ins Ohr zu flüstern.
Petite Maman hat von seiner Prämisse her etwas von einem Murakami-Roman. Wenn man die Realität um eine Vier­tel­dre­hung dreht, werden Dinge deutlich, die sonst unsichtbar bleiben würden. Jede noch so einfache Szene ist voller Bedeutung. Das Spiel der Mädchen, die Eröff­nungs­szene, in der sich Nelly von den alten Menschen im Pfle­ge­heim verab­schiedet, die Szenen der häus­li­chen Intimität mit ihrem Vater und ihrer Mutter. Und das alles in einem Ton, der zärtlich und sensibel, aber keines­wegs senti­mental ist.

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Petite Maman steht auch fast exem­pla­risch für eine bestimmte Form des Kinos, die wir zur Zeit verloren haben, obwohl sich viele Zuschauer nach ihr sehnen: Filme, die Ernst und Unernst verbinden, die das Wirkliche und das Phan­tas­ti­sche verbinden, die grund­sätz­liche Fragen nach dem Sinn des Lebens stellen und die diese Fragen, je grund­sätz­li­cher sie werden, umso leichter und heiterer stellen, nicht schwerer. Immerhin darf man konsta­tieren, und das ist schon ein großes Glück des Zuschauens: Petite maman kommt diesen zurzeit vermissten Filmen nahe wie leider nicht sehr viele im augen­blick­li­chen Kino.

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Tatsäch­lich ist Petite Maman ein simpler, aber rührender Film (in dem die Kinder besser und prägnanter spielen als die Erwach­senen) über Kind­heits­trauer und einen typisch kind­li­chen Maxi­ma­lismus, der Nellys eigen­sin­nigen Charakter gefangen nimmt. Nellys unge­formte Persön­lich­keit versucht, stell­ver­tre­tend für die eigene Mutter Antworten auf Fragen zu finden, die die Tochter ihrer erwach­senen Version nicht stellen kann. Mit Petite maman beweist Sciamma, dass sie tief in die Kinder­seele eintau­chen kann und ein großes Verständnis für soziale Dynamik und Kinder­wahr­neh­mung besitzt. Wo verlieren wir unsere Jugend? Wo verlieren wir den Menschen, der wir waren? Diese Zeit kann nicht nach­ge­holt werden. Gerade weil wir immer ein Kind bleiben.

Die Stärke dieses Films liegt darin, dass er die Gefühle nie über­treibt, sondern alles in Einfach­heit und Nüch­tern­heit präsen­tiert, aller­dings auch in einem prächtig photo­gra­phierten Herbst­licht – für die Kamera ist Claire Mathon verant­wort­lich – und in wunder­schönen, einfach gestal­teten Innen­räumen, die jederzeit einen lebens­echten, ganz und gar normalen Eindruck vermit­teln. Räume, die, so die Regis­seurin, »an das kollek­tive Gedächtnis über fran­zö­si­sche Innen­räume in der zweiten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts erinnern.«

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Céline Sciamma, diese unge­wöhn­liche Französin, hat zuletzt mit dem mythisch aufge­la­denen, teilweise etwas akade­misch und explizit geratenen Histo­ri­en­film Porträt einer jungen Frau in Flammen unisono welt­weites Lob für ein Kino der neuen Weib­lich­keit einge­heimst. Petite Maman ist auf den ersten Blick viel weniger anspruchs­voll als Porträt einer jungen Frau in Flammen. Wenn man sich aber von dieser Referenz erst einmal gelöst hat, entfaltet er eine ähnlich natu­ra­lis­tisch grun­dierte Poesie, verzau­bert ebenso, und funk­tio­niert nicht minder als Selbst­re­fle­xion dieser Künst­lerin.
Céline Sciamma, die zuvor mit Filmen wie Bandes des Filles unge­wöhn­liche, intensive Blicke aus viel­fäl­tigen Perspek­tiven auf das Frank­reich von heute warf, beweist einmal mehr ihr beson­deres Faible für junge Figuren – auch sonst fügt sich dieser Film in Sciammas Filmo­gra­phie voller Geschichten über kurze, intensive, lebens­prä­gende, aber auch sich verfeh­lende Begeg­nungen.