Minari – Wo wir Wurzeln schlagen

Minari

USA 2020 · 116 min. · FSK: ab 6
Regie: Lee Isaac Chung
Drehbuch:
Kamera: Lachlan Milne
Darsteller: Steven Yeun, Yeri Han, Youn Yuh-jung, Alan S. Kim, Noel Cho u.a.
Mit den Augen eines Kindes die Welt verstehen
(Foto: Prokino/Studiokanal)

Heimat nicht nur als Versprechen

Lee Isaac Chungs preisgekrönter, semi-autobiografischer Migrationsfilm ist eine so zärtliche wie ernüchternde Familienchronik aus einer Zeit, als Amerika noch nicht „Nomadland“ war

»Severed from any national alle­gi­ance or family ties by micro-chip based gadgets . . . the consumer-citizens of the world’s privi­leged regions will become rich nomads. . . . These wealthy wanderers will ever­y­where be confronted by roving masses of poor nomads — boat people on a planetary scale — seeking to escape from the destitute periphery, where most of the earth’s popu­la­tion will continue to live.«
J. Attali, Mill­en­nium: Winners and Loosers in the Coming World Order (1992)

In den 1980er Jahren war von globalen oder lokalen Nomaden nur in extremen Krisen- und Kriegs­zeiten etwas zu hören und von reichen Nomaden im Grunde gar nichts. Der stete „Migra­ti­ons­fluss“, den Jacques Attali bereits 1992 für das neue Jahr­tau­send korrekt prognos­ti­ziert hatte und der unsere Gegenwart seit Jahren prägt, schien damals völlig unwirk­lich und Biogra­fien wie sie in Chloé Zhaos dies­jäh­rigem Oscar-Gewinner Nomadland gezeigt werden, wären damals wahr­schein­lich als Bilder aus den Zeiten der Great Depres­sion inter­pre­tiert worden.

Denn in den 1980er Jahren standen die Wohnwagen noch still, so wie in Lee Isaacs Chungs Minari – Wo wir Wurzeln schlagen, wo der 7-jährige korea­nisch-ameri­ka­ni­sche David (Alan S. Kim) mit seinen Eltern Monica (Han Ye-ri) und Jacob (Steven Yeun) und seiner älteren Schwester Anne (Noel Kate Cho) von der Westküste in den länd­li­chen Süden der USA, nach Arkansas zieht. Dieser Umzug ist für Davids Eltern bereits die zweite Etappe, nachdem sie aus Korea in die USA migriert sind, doch dieses Mal erhofft sich vor allem Davids Vater mehr Erfolg als an der Westküste, mehr noch als er eine inno­va­tive Idee hat: er will korea­ni­sches Gemüse, u.a. das titel­ge­bende Minari (Wasser­fen­chel) anbauen, um sie an korea­ni­sche Einwan­derer zu verkaufen. Doch ange­fangen von dem rudi­men­tären Mobilheim, in dem sie leben müssen, bis zu dem prekären Nebenjob in einem Hühner-Befruch­tungs­be­trieb und der ange­spannten Beziehung der Eheleute läuft das erträumte Erfolgs­mo­dell aller­dings nur sehr schlep­pend an.

Aus dieser fast doku­men­ta­risch vorge­tra­genen Grund­dis­po­si­tion bewegt sich Chungs Film so still und langsam voran, wie die Land­schaft und das Leben in diesem Teil Amerikas geprägt ist. Die Familie wird – anders als es viel­leicht heute der Fall wäre – ohne nennens­werte Rassismen in die Gemeinde inte­griert, so wie die Familie selbst die Gemeinde in ihr Leben aufnimmt. Ein Wünschel­ru­ten­gänger wird bezahlt, um die richtige Wasser­stelle zu finden, ein Kriegs­ve­teran aus dem Korea­krieg wird ihr Ernte­helfer. Die nur korea­nisch spre­chende Groß­mutter (Yoon Yeo-jeong) taucht irgend­wann auf und hilft so gut es geht mit und baut eine besondere Beziehung zu David auf, aus dessen mal verwun­derten, dann wieder neugie­rigen Augen wir der Chronik dieses Alltags folgen.

Es ist der beschwer­liche Alltag, der bäuer­li­ches Leben schon immer geprägt hat. Ein Leben, von dem Romane wie Knut Hamsuns Segen der Erde oder Władysław Reymonts Meis­ter­werk „Die Bauern“ erzählt haben und natürlich auch Filme, ange­fangen von den Western seit ihren Anfängen bis zu Filmen der jüngsten Zeit, wie etwa John Chesters 2018 erschie­nene Doku­men­ta­tion Unsere große kleine Farm. Auch Chung erzählt von Rück­schlägen und kleinen Erfolgen, erzählt von fami­liären Neufin­dungen, erzählt von beschwer­li­chen, mühe­vollen Assi­mi­la­ti­ons­pro­zessen.

Chung erzählt dieses Geschichten mit einer zärt­li­chen Empathie und Alltags­de­tails, die schnell deutlich machen, dass Chung hier auch von seiner eigenen Kindheit spricht, die er auf einer Farm in Arkansas mit seinen korea­ni­schen Eltern verlebt hat und die zahl­reiche Kinder korea­ni­scher Migranten nicht nur in den USA ganz ähnlich erlebt haben, gerade mit dieser ikoni­schen, von Yoon Yeo-jeong über­zeu­gend verkör­perten Groß­mut­ter­figur, einem lebenden Binde­glied zwischen alter Heimat und Kultur und den dann doch sehr anderen Regeln und Gebräu­chen der neuen Heimat.

Und es dürfte wohl gerade diese so komplexe wie simple Intro­spek­tive zweier Welten sein, diese Innen­schau eines vorsich­tigen, aber steten und erfolg­rei­chen Migra­tions- und Assi­mi­la­ti­ons­pro­zesses, der uns aus der Vergan­gen­heit Hoffnung für unsere Gegenwart und Zukunft spendet, der Minari bei Kritikern und Film­fes­ti­vals (mit inzwi­schen über 100 Preisen) glei­cher­maßen so erfolg­reich und beliebt gemacht hat. Dabei geht Minari mit seinem über­ra­genden Ensemble und einem so klugen wie vorsich­tigen Drehbuch noch weit über das Prozess­hafte hinaus und zeigt nicht nur, dass steter Tropfen irgend­wann auch den härtesten Stein höhlt, sondern das Wohnwagen auch zum Still­stand kommen können, dass Heimat nicht nur ein Verspre­chen, sondern Realität werden kann.