Das Mädchen mit den goldenen Händen

Deutschland 2021 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Katharina Marie Schubert
Drehbuch:
Kamera: Barbu Balasoiu
Darsteller: Corinna Harfouch, Birte Schnöink, Peter René Lüdicke, Jörg Schüttauf, Imogen Kogge u.a.
Paraderolle einer trotzigen Einzelgängerin
(Foto: Wildbunch Germany)

Drei Farben: Petrol

Katharina Marie Schuberts Debütfilm Das Mädchen mit den goldenen Händen verwebt geschickt die gesellschaftlichen Verwerfungen der Wendezeit

Eine Zugfahrt im Spätherbst 1999: Während vor den Fenstern grau­braune Felder vorü­ber­ziehen, amüsiert sich ein junges Paar aus West-Berlin über ihm offen­sicht­lich unbe­kannte ostdeut­sche Ortsnamen wie Nenn­hausen oder Stendal. Unfrei­willig hört ihnen Lara (Birte Schnöink) zu, die aus Berlin zum sech­zigsten Geburtstag ihrer Mutter Gudrun in ihren Geburtsort irgendwo in Sachsen-Anhalt reist. Sie guckt so reser­viert, dass sich das gluck­sende Pärchen bei ihr entschul­digt. Das ist der erste ost-west­deut­sche Haarriss, dem in Katharina Marie Schuberts Film Das Mädchen mit den goldenen Händen weitere folgen, darunter durchaus plumpe wie ein in den Osten versetzter schwä­belnder Bank­di­rektor, der gierig belgische Pralinen verschlingt – die »herrlich muffige« Scho­ko­lade aus Delitzsch hat da keine Chance. Katharina Marie Schubert war Ensem­ble­mit­glied am Burg­theater und an den Münchner Kammer­spielen und ist häufig im Fernsehen (»Tatort«) zu sehen. Nun führ sie das erste Mal bei einem Langfilm Regie und insze­niert ein eigenes Drehbuch, an dem sie nach eigenen Angaben sieben Jahre gear­beitet hat. Schubert wurde 1977 im nieder­säch­si­schen Gifhorn geboren, das bis zur Wieder­ver­ei­ni­gung 1990 im soge­nannten Zonen­rand­ge­biet lag – dieser Umstand mag ihr eine gewisse Sensi­bi­lität in inner­deut­schen Ange­le­gen­heiten mitge­geben haben.

Das einzige, was der Haupt­figur Gudrun Pfaff – Corinna Harfouch in der Para­de­rolle einer trotzigen Einzel­gän­gerin – auf ihren Lebensweg mitge­geben wurde, ist ein Sammel­band mit den Kinder- und Haus­mär­chen der Gebrüder Grimm. Das schwere Buch in Frak­tur­schrift soll in dem Körbchen gelegen haben, mit dem sie im Herbst 1939 vor dem örtlichen Kinder­heim ausge­setzt wurde. Sechzig Jahre später will Gudrun in dem leer­ste­henden Gebäude in großer Runde ihren Geburtstag feiern, gefolgt von Silvester `99. Sie hat sich entschlossen, das statt­liche Anwesen – gedreht wurde unter anderem auf Schloss Gleina bei Naumburg und in Zeitz – auf eigene Faust zu reno­vieren, um daraus eine kommunale Begeg­nungs­stätte zu machen. Dafür ist sie bereit, alles zu geben, ganz wie der Müller in Grimms 31. Märchen »Das Mädchen ohne Hände«: Vom Teufel über­listet, der ihm »volle Kisten und Kästen« versprach, opfert der arme Mann statt eines Apfel­baums seine Tochter, der er in seiner Verzweif­lung die Hände abschlägt.

Bei der Erin­ne­rung an das Märchen­buch huscht Gudrun ein Lächeln übers Gesicht. Auch die verschlos­sene Lara erinnert sich gerne daran, wie ihr die Mutter mit ihrer schönen Stimme daraus vorge­lesen hat – einer der wenigen zärt­li­chen Momente in dieser schwie­rigen Mutter-Tochter-Beziehung, die das Zentrum des Films einnimmt. Gudrun, die als Waise ohne Liebe aufwuchs, nimmt ihrer Tochter anhaltend übel, dass sie wegge­gangen ist. Lara arbeitet in Berlin als Kostüm­bild­nerin an der Oper und fühlt eine unbe­stimmte Sehnsucht nach ihrem unbe­kannten Vater. Von ihrer Mutter, einer Mathe­matik- und Sport­leh­rerin, kann sie ihre musische Veran­la­gung jeden­falls nicht geerbt haben.

Mit diesem Konflikt verwebt die Regis­seurin geschickt die gesell­schaft­li­chen Verwer­fungen der »Wende«-Zeit und stellt sich damit in eine Reihe neuerer Filme wie Gunder­mann, In den Gängen oder Adam und Evelyn, die sich allesamt um einen ideo­lo­gisch unver­stellten und empa­thi­schen Blick auf die späte DDR und Umbruch nach dem Mauerfall bemühen. Auch die Klein­stadt­ge­sell­schaft, die über­wie­gend von renom­mierten Schau­spieler:innen mit Ost-Biogra­phie wie Gabriele Maria Schmeide und Ulrike Krum­biegel als Klas­sen­ka­me­ra­dinnen (»Ick kam neben Gudrun zu sitzen«) oder Jörg Schüttauf verkör­pert wird, ist vom System­wechsel tief verun­si­chert. Während der Geburts­tags­feier kommt heraus, dass der Bürger­meister, den Jörg Schüttauf mit der für ihn typischen char­manten Lässig­keit spielt, das ehemalige Kinder­heim west­deut­schen Inves­toren verspro­chen hat: Aus dem Schloss soll ein Luxus­hotel werden und damit einigen im Ort zumindest kurz­fristig Arbeit verschaffen. Auf diese Nachricht hin lässt Gudrun ihre Gäste verdutzt zurück und rast mit dem Rad in die Nacht. Als sie am nächsten Morgen im Rathaus vorspre­chen will, wird sie von einem Auto ange­fahren.

Das ist der erste von zwei Unfällen, den die benei­dens­wert alterslos Wider­spens­tige erleidet und im Kran­ken­haus mit Blick auf das Kinder­heim ausku­rieren muss. Sie struk­tu­rieren den Film im Grunde mehr als die Kapitel, in die er einge­teilt ist. Katharina Marie Schubert gibt in einem Interview an, stark vom polni­schen und rumä­ni­schen Kino beein­flusst worden zu sein. An Krzystof Kieś­low­skis »Drei Farben«-Trilogie orien­tiert sich jeden­falls die Kapi­tel­ein­tei­lung in Rot (Gudrun), Blau (Lara) und Petrol – offenbar abge­leitet von einem Bade­mantel, den Gudruns allzu zahmer Ehemann Peter (René Peter Lüdicke) trägt. Jedoch hält sich die Drama­turgie nicht streng daran, sondern verwebt Laras Vater­suche in West-Berlin mit dem vorder­grün­digen Klein­stadt-Melodram. Gudrun und Lara sind Suchende. Folglich müssen sie sich durch lange Gänge bewegen – ob im Kran­ken­haus, einer U-Bahn­sta­tion oder Berufs­schule.

»Ich selber mag es, wenn man im Kino nicht immer alles sofort weiß, wenn man zum Detektiv wird, der den in der Geschichte ausge­legten Spuren folgt«, sagt Katharina Marie Schubert. Das ist ihr trotz mancher Längen und Vorher­seh­bar­keiten mit ihrem ersten Spielfilm durchaus gelungen. Sensibel und voller Vertrauen in ihr bemer­kens­wertes Ensemble lotet sie den Zusam­men­hang fami­liärer und poli­ti­scher Verwer­fungen aus. Dabei lässt sie ihre Darstel­le­rinnen und Darsteller wirklich ins Spiel kommen, ermö­g­licht durch die unge­wöhn­lich langen Einstel­lungen des Kame­ra­manns Barbu Bălăşoui, der durch Cristi Puius Film Sier­ane­vada bekannt wurde. Sie habe sich »getraut«, einen Rumänen zu enga­gieren, sagte die Regis­seurin in einem Interview. Da sind sie wieder, die feinen Verwer­fungen zwischen Ost- und West­eu­ropa.