Kleine Germanen

Deutschland/Ö 2018 · 89 min. · FSK: ab 12
Regie: Mohammad Farokhmanesh, Frank Geiger
Drehbuch: , ,
Kamera: Marcus Winterbauer
Schnitt: Andrew Bird, Frank Geiger, Habiba Laout
Ungeahnte erzählerische Kraft und »Wahrheit«

Jenseits von Eden

»Wie geht das Neue, wenn die, die es machen sollen, ihre Schuld nicht bewäl­tigen können? Wie ohne Psycho­be­steck Millionen desolater Kriegs­seelen versorgen, damit sie sich mit aller Energie der großen Umschrei­bung widmen können?«
Ines Geipel, Umkämpfte Zone

»Ich habe jahrelang mit Nazis Roll­ho­ckey gespielt, frater­ni­siert und was weiß ich, und was hat es meinem Charakter geschadet?«
Wolfgang Herrndorf

Eine Doku­men­ta­tion über Kindsein und Großwerden im neurechten Umfeld zu wagen ist ein schwie­riges Unter­fangen. Wie nur all den Untiefen und Gefahren auswei­chen, allen Ansprüchen gerecht werden? Zum einen die kaum mehr realis­tisch erschei­nenden Ideen von Per Leos, Max Steinbeis und Daniel-Pascal Zorns Anleitung Mit Rechten reden umsetzen, zum anderen eine kritische, aber gerechte Analyse des Gegenüber versuchen und am besten auch noch eine Fall­ge­schichte erzählen. Wie soll das gehen?

Dass dies dann doch und auch sehr gut gehen kann, zeigen Frank Geiger und Mohammad Farokhma­nesh in ihrem teil-animierten Hybriden aus Spiel- und Doku­men­tar­film Kleine Germanen. Geiger und Farokhma­nesh führen dazu mehrere Gesprächs­ebenen zusammen. Zum einen lassen sie – unkom­men­tiert – rechte Intel­lek­tu­elle und poli­ti­sche Akti­visten zu Wort kommen. Götz Kubit­schek, Geschäfts­führer eines Klein­ver­lags für rechte Literatur und seine Frau, die Publi­zistin und Jour­na­listin Ellen Kositza sprechen ebenso über ihr Weltbild und Kindsein wie die Publi­zistin der neuen Rechten, Sigrid Schüßler, die früher bei der NPD aktiv war und sich jetzt beim Ring natio­naler Frauen engagiert. Und auch ihre Kollegin Ricarda Riefling sowie Martin Sellner von der Iden­ti­tären Bewegung Öster­reich erzählen von und mit einer Alltäg­lich­keit, die spürbar macht, wie stark sich inzwi­schen parallele Welt- und Denk­sys­teme in Deutsch­land etabliert haben. Diese Diskre­panz ist noch einmal schwie­riger zu ertragen, hält man sich die in anderen Kontexten erheblich aggres­siver vorge­tra­genen Leit­bilder der Inter­viewten vor Augen.

Die Antipode zu dieser Realität bilden die Inter­views mit Bernd Wagner von EXIT-Deutsch­land, einem Verein, der Ausstei­gern aus der rechten Szene hilft. Zusammen mit der Sozio­login Prof. Dr. Michaela Köttig und einer »Stimme eines Mitglieds der rechts­ex­tremen Szene, das anonym bleiben will« hinter­fragen diese Gespräche ebenso unkom­men­tiert das Selbst­ver­s­tändnis der neuen Rechten.

Zusam­men­ge­halten werden diese Blöcke jedoch nicht durch ihren schnitt­tech­nisch erzeugten Diskurs-Charakter, sondern durch ein zwischen die Gespräch­spas­sagen montiertes Anima­ti­ons­drama, das Geiger und Farockhma­nesh aus mehreren gesam­melten Fall­ge­schichten zu einem Narrativ kompi­liert haben. Wie sinnvoll das Andocken von persön­li­chen Erin­ne­rungen und wissen­schaft­li­cher Histo­ri­zität sein kann, um gerade NS-Vergan­gen­heit und rechts­po­pu­lis­ti­sche Gegenwart zu erzählen und zu erklären, haben in den letzten Monaten Géraldine Schwarz mit ihren Gedächt­nis­losen: Erin­ne­rungen einer Europäerin und Ines Geipel und ihre Umkämpfte Zone gezeigt. Geiger und Farockhma­nesh über­führen diesen lite­ra­ri­schen Ansatz aber nicht nur einfach in eine filmische Doku­men­ta­tion, sondern entscheiden sich auch noch dafür, die Geschichte von Elsa, die von ihrem Großvater, einem ehema­ligen SS-Soldaten entschei­dend sozia­li­siert wird, animiert zu erzählen.

Damit wird nicht nur der Zugang zu den formu­lierten Traumata – ähnlich wie bei Ari Folmans Waltz With Bashir oder in Raúl de la Fuentes und Damian Nenows Another Day of Life – erleich­tert, sondern auch deutlich gemacht, dass jedes Erinnern immer auch Konstrukt und persön­li­ches, aber nie allge­mein­gül­tiges Narrativ sein kann. Und dennoch – und das haben ja auch Autoren wie Annie Ernaux und Édouard Louis in ihren auto­bio­gra­fi­schen Annähe­rungen gezeigt – kann persön­liche Erin­ne­rung eine ungeahnte erzäh­le­ri­sche Kraft und »Wahrheit« entfalten. Und im Fall von Frank Geigers und Mohammad Farokhma­neshs klugem, zärt­li­chem, traurigem und sehr wichtigem Film vor allem das schaffen, was die beiden doku­men­ta­ri­schen Fronten in ihrem „entfernten“ Dialog kaum vermögen – so etwas wie iden­ti­fi­ka­to­ri­sches Sehen ermög­li­chen, und verstehen lernen, was gerade mit uns und unserer Gesell­schaft passiert.