Im toten Winkel

Deutschland 2023 · 118 min. · FSK: ab 16
Regie: Ayse Polat
Drehbuch:
Kamera: Patrick Orth
Darsteller: Katja Bürkle, Ahmet Varli, Çagla Yurga, Aybi Era, Maximilian Hemmersdorfer u.a.
Wer steht hier im toten Winkel?
(Foto: missingFilms)

Die Beobachtung der Beobachter

Rätselhaft: Der deutsch-kurdische Film Im toten Winkel der Filmemacherin Ayşe Polat

»Im toten Winkel der Gesell­schaft befindet sich die unver­ar­bei­tete, grausame Geschichte. Über Jahr­zehnte wurde übersehen und verdrängt, dass sie Geister gebiert, die sich verselbst­stän­digen und Menschen verfolgen. Erst wenn man sich mit der Vergan­gen­heit ausein­an­der­setzt, können und werden sie verschwinden. Das ist das Geis­ter­hafte der Geschichte. Und ein System, das Angst und Paranoia schürt, wird sich irgend­wann selbst auffressen.«
Ayşe Polat

Ein kleines Mädchen. Es steht nicht gerade von Anfang an im Mittel­punkt, aber es rückt allmäh­lich immer mehr in das Zentrum dieser Geschichte. Man bekommt dies langsam mit: Sie wirft schon früh immer wieder bedeu­tungs­volle Blicke auf das Geschehen; sie erzählt von sonder­baren Männern, von Geistern. Das tun die Erwach­senen im Film, aber auch wir Zuschauer zunächst als typische Kinder­phan­ta­sien ab. Dann aber merkt man allmäh­lich, dass da tatsäch­lich irgend­welche Leute sind, die das Kind anspre­chen und es offenbar mani­pu­lieren und benutzen, ohne dass ihr Umfeld es mitbe­kommt. Das Mädchen sieht Dinge, über die sie nicht sprechen kann. Horror... Mystery...

Gleich­zeitig ist dieser Film auch ein klarer, hand­fester Polit-Thriller, der sich in der Welt der Erwach­senen bewegt, in der es nicht wirklich Geister und Monster gibt. Oder nur im meta­pho­ri­schen Sinn. Denn dies ist kein Horror­film. Die Geister und Monster, das ist viel­leicht die Regierung der Türkei, es sind viel­leicht die verschie­denen Geheim­dienste, unter denen es offen­sicht­lich auch unter­ein­ander Riva­li­täten gibt.

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Um die Türkei geht es also zwar nicht nur, aber auch. Im toten Winkel der deutschen Regis­seurin Ayşe Polat (die alevi­ti­sche Wurzeln hat) ist ein Thriller, der im türki­schen Kurdistan spielt und nur scheinbar mit Mystery-Elementen arbeitet. Dafür wechseln hier die Haupt­fi­guren: Zuerst ist es ein deutsches Doku­men­tar­film­team, das im Nordosten der Türkei einen Film über eine alte Kurdin drehen will, deren Sohn einst von der Geheim­po­lizei entführt wurde. Unter­s­tützt werden sie von einem Menschen­rechts­an­walt. Dann ein Polizist, der Vater des kleinen Mädchens. Dann...

In Inter­views erinnerte Polat an frühere Filme von ihr, die sie im Nordosten der Türkei gedreht hat: Die Erbin aus dem Jahr 2013, eine fast persön­liche Geschichte, in der eine deutsch-türkische Autorin zum Geburtsort ihres Vaters fährt, um einem Vorfall aus der Vergan­gen­heit nach­zu­gehen. Und Die Anderen von 2016, ein Doku­men­tar­film über den Massen­mord an den Armeniern im kurdi­schen Teil der Türkei.

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Ayşe Polat weiß ganz genau, was sie tut, sie wagt viel – und gewinnt: Denn dies ist ein Paranoia-Thriller in großer Tradition – und weit entfernt von jeder Krimi-Durch­schnitts­ware, mit der der Film unver­s­tänd­li­cher­weise von ein paar wenigen bei der Premiere vergli­chen wurde. Man denkt eher an Francis Ford Coppola bei diesem Film, der ein sehr konkretes Ereignis schildert, dies aber aus mehreren Perspek­tiven. Jede Perspek­tive erzählt uns das Ereignis neu und erzählt ein bisschen mehr, dreht die Handlung weiter – so wie das einst schon der große Akira Kurosawa in Rashômon tat. Es gibt daher viele Über­ra­schungen in dieser Geschichte.

Es geht im Kern um Politik, aber nicht nur um die Politik in der Türkei, sondern auch um grund­sätz­liche Formen der Über­wa­chung; um die Macht der Geheim­nisse, um auto­ri­täre Regimes und um das Autoritär-Werden einer Demo­kratie, um den schlei­chenden Prozess der Entde­mo­kra­ti­sie­rung, wie ihn die Türkei erlebt hat und andere Staaten jetzt erleben.
Es geht um das Auto­ri­täre, das sich in die Demo­kratie hinein­schleicht und hinein­schreibt. Die Türkei ist ja nach wie vor eine Demo­kratie, zumindest auf dem Papier. Diese Gefahren thema­ti­siert die Regis­seurin.

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Zugleich ist dies auch ein Film über das Sehen. Also über das Kino selbst. Hier steht Im toten Winkel in der Tradition der Werke von Michael Haneke.
Man sieht in diesem Film mit unseren durch Haneke trai­nierten Augen. Und auch bei Hanekes eigenen Geschichten sind – wir erinnern uns – die Kinder wesent­lich. Als Träger der Unschuld, die schuldig werden, die hart und grausam und gnadenlos sind – und vor allem, verschlossen.

Man könnte sagen: Man sieht dem Sehen beim Sehen zu. Dem Sehen in all seinen Facetten. Man ist ein Beob­achter der Beob­achter des Beob­ach­tens. Man muss es so kompli­ziert ausdrü­cken – im Film, beim Zusehen ist es aber total schlüssig. Denn wir sehen anderen Leuten dabei zu, wie sie etwas entdecken, etwas entzif­fern, oder wie sie wiederum anderen Leuten zusehen, die das tun. Denn wie gesagt wird in verschie­denen Kapiteln so erzählt, dass es immer auch um das Weiter­schrauben der Beob­ach­tung geht, durch Beob­achter, die dann wiederum selbst beob­achtet werden, und durch diverse Medien: Das vom Doku­men­tar­film­team gedrehte Material, die Bilder von Über­wa­chungs­ka­meras, Handy­auf­zeich­nungen – das ist im Ergebnis sehr sehr spannend.

Man sieht darum manchmal auch das gleiche Ereignis mehrmals aus zwei oder gar drei Perspek­tiven. Und der tote Winkel des Titels ist natürlich – abgesehen davon, dass der Tod hier eine Rolle spielt – auch der eine Ort, den man nicht sieht.
Genau das, was nicht zu sehen ist in einer Welt, die scheinbar die totale Trans­pa­renz prak­ti­ziert, in der alles überwacht wird, alles zu sehen ist, ist ganz offen­sicht­lich äußerst politisch.

Für die exzel­lente Bild­ge­stal­tung dieses formal exzel­lenten Films ist Toni Erdmann-Kame­ra­mann Patrick Orth verant­wort­lich.

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Aus alldem folgt: Es ist völlig schlei­er­haft, wieso über diesen stilis­tisch bewun­derns­werten, heraus­ra­genden deutschen Film nicht viel mehr gespro­chen wird, warum er bei uns nicht in aller Munde ist? Die Antwort: er ist nicht so wahn­sinnig deutsch; hier ist der Himmel nicht rot, sondern blau, die Kata­strophe ist nicht privat, sondern politisch. Der Film meidet die Feri­en­häuser, die Lehrer­zimmer und die Poli­zei­büros des deutschen Films und ist so viel über­ra­schender als die aller­meisten deutschen Kinowerke.