F/D/I/B 2020 · 130 min. · FSK: ab 12 Regie: Bruno Dumont Drehbuch: Bruno Dumont Kamera: David Chambille Darsteller: Léa Seydoux, Benjamin Biolay, Blanche Gardin, Juliane Köhler u.a. |
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Die Kriegsreporterin | ||
(Foto: MFA/Filmagentinnen) |
»Frankreich durchläuft eine schwere Krise«, wendet sich die Journalistin France de Meurs an den Präsidenten der Grande Nation.»Stellen Sie sich hier nicht etwas taub?« Bam! Die Frage hat gesessen, ihre Kollegin nickt grinsend, als wäre alles ein abgekartetes Spiel. Eine Mutprobe unter Journalisten womöglich: Wetten, du traust dich nicht, Macron als »taub« zu titulieren? Dann die Antwort des ausgebufften Präsidenten: »Meine Politik mag Schwächen haben, das kann man immer besser machen. Aber ich bin sicherlich nicht taub.« Der Rest ist mäanderndes Politiker-Sprech, das untergeht im Feixen der Journalistinnen, die sich über den Präsidenten lustigmachen und ihm mit obszöner Mimik imaginär einen blasen, warum nicht.
»Emblematisch« hat Bruno Dumont diese Auftaktszene seines neuen Films France bei der Premiere im Münchner Theatiner-Kino genannt. Es geht um Wahrheit und Fake, um das Grauen der Wirklichkeit und um die Bilder, die von diesem Grauen gemacht werden. »Das Leiden anderer betrachten«, hat die amerikanische Medientheoretikerin Susan Sontag 2003 die mediale Darstellung menschlicher Not genannt. Damals, vor fast zwanzig Jahren, war 9/11 mit der TV-Dauerübertragung der Katastrophe noch nicht verarbeitet, der Krieg der angelsächsischen Großmächte gegen den Irak, der ein frühes Beispiel für den »Informationskrieg« mit der Kriegsberichterstattung per Fernsehübertragung wurde, hatte erst begonnen. Genau mit diesen medialen Bildern spielt Dumont in France, hinterfragt ihre Produktion und haucht den mediatisierten Katastrophen durch die tiefe Krise, durch die er seine Hauptfigur schickt, schließlich Menschlichkeit ein.
Die Journalistin France de Meurs reist an die Krisenherde der Welt, das sind bei Dumont überformte und keineswegs konkrete Kriegsschauplätze, die an Sarajewo, den Irak, Syrien und heute auch Mariupolis erinnern könnten. France gibt Anweisungen an die Kämpfenden vor Ort, die mal eben mit einer Kalaschnikow durchs Bild rennen sollen, die sich, anders als ihre Kombattanten, nicht zurückziehen dürfen, sondern in den Herd der Straßenkämpfe vordringen müssen, das Fernsehteam immer mit ihnen, ebenso France de Meurs, »embedded«. Einmal gibt sie einem Soldaten auch die Anweisung, in den Himmel zu sehen, als hätte er dort etwas Wichtiges entdeckt. Der Sinn dieser Aufnahme ergibt sich dann erst am Schneidetisch, im Zusammentreffen der Bilder und im Kommentar der Reporterin, die immer wieder aufgeregt direkt in die Kamera spricht. »All is fake«, lässt sich dazu sagen, die Bilder, die die Reporterin France mitbringt, sind allesamt inszeniert und deshalb falsch, auf der Basis einer dehnbaren Wirklichkeit.
Bruno Dumont hat mit France de Meurs, die mit Verve von Léa Seydoux verkörpert wird, eine allegorische Figur geschaffen. Ihr Name bedeutet übersetzt »Frankreich der Sitten«, uns erwartet also auch eine höchst moralische Kinolektion. Sie wird über den journalistischen Anstand gehen, den France de Meurs systematisch negiert, über die medialen Bilder, die vom Grauen der Wirklichkeit produziert werden, über ihren Effekt, vor allem geht es aber auch um Eitelkeit und Narzissmus der Medienberichterstatter. Die Reportagen von France de Meurs sind Machwerke, die nicht an der Wahrheit der Kriege, über die sie angeblich berichten, interessiert sind, sondern in denen es vor allem darum geht, eine Exklusivität der Bilder herzustellen und die Reporterin als deren todesmutige Mediatorin hervorzuheben. Dumont transportiert hier einen recht schmalspurigen und schnell entlarvend wirkenden Aufklärungsjournalismus, der an die frühen Werke des Medienmahners Michael Haneke erinnern mag. Der Zeigefinger bleibt aber unten; Dumont inszeniert den Casus fehlgeleiteten Journalismus' obendrein als skrupellose Komödie. Dazu gesellt sich Blanche Gardin, die die Kollegin von France de Meurs spielt, eine Signaturbesetzung, da sie bekannt ist für intelligente Abgedrehtheiten wie Effacer l’historique (die unter dem unsäglichen deutschen Titel Online für Anfänger lief).
Der naheliegende Blick auf France als Mediensatire würde aber übersehen, dass es Dumont nicht wirklich um Medienschelte geht. Das wäre platt und offensichtlich. Ihm geht es genau um die auf erster Ebene angeprangerte Überformung der Wirklichkeit durch die mediale Darstellung. Ihre Transformation in der Montage durch Schnitt und Kommentar und die Produktion einer Wirklichkeit zweiter Ordnung interessieren ihn, in der sich die Journalistin France de Meurs dann auch narzisstisch spiegeln kann. Medien, das ist die Folge, produzieren eine notwendig moralisch entleerte Wirklichkeit, um aus sicherer Position das »Leiden anderer« betrachten zu können.
Ein klischeehafter Vorfall trübt das Hochglanz-Leben des Medienstars France de Meurs. Sie fährt einen Motorradfahrer mit Migrationshintergrund an, er kann nicht mehr arbeiten, sie versucht, mit Geld zu entschädigen, und mimt Anteilnahme. Eine Episode wie aus einem »Fotoroman«, so Bruno Dumont, andere Yellow-Press-Schicksalsschläge im Leben der aufgedrehten Reporterin folgen. Der Film nimmt eine melancholische Wende, was sich mit Einblicken in ihr Privatleben verstärkt, in dem ein depressiv wirkender Ehemann (wie immer großartig niedergeschlagen: Benjamin Biolay) und ein wohlstandsvernachlässigtes Kind in einer in Schwarz und Blutrot gehaltenen Wohnung mit schweren Gemälden – Antichambre wahlweise zur Hölle oder zum Louvre – vor sich hinleben.
France ist von nun an leicht zu Tränen gerüht. Léa Seydoux weint still, aber sichtlich, mit verzogenem Mund, während die Tränen nur so fließen, getriggert durch kleinste Eintrübungen der Wirklichkeit. Sie gerät in eine Art mystische Krise mit der modernen Welt, die an die Melancholie grenzt. Es ist der Moment, wo sie die Oberfläche abstreift und zu einer Heldin wird, die Humanität empfinden kann.
Dumont arbeitet mit dem Tränenfluss eine bislang unbekannte Seite der Ausnahmeschauspielerin heraus, die neben ihren anspruchsvollen Arthouse-Rollen auch Auftritte in Großproduktionen wie dem neuen David Cronenberg Crimes of the Future oder zuvor dem lang erwarteten James Bond Keine Zeit zu sterben hat. Das unglaubliche Fließen ihrer Tränen könnte zu einem neuen Markenzeichen von Seydoux werden, auch in dem neuen Film von Mia Hansen-Løve An einem schönen Morgen zeigt sie ans Wasser gebaute Empfindsamkeit.
Bruno Dumont hat Philosophie studiert und, bevor er mit dem Filmemachen begann, sich mit Ausprägungen eines kritisch-rationalen Christentums, wie es Ernest Renan im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, befasst, sein erster Film La Vie de Jésus war eine Interpretation von dessen Hauptwerk. Auch sein Jeanne d’Arc-Zweiteiler war christlich-philosophisch grundiert und adaptierte ein Werk des katholischen Essayisten und Dichters der letzten Jahrhundertwende Charles Péguy. Dumont hat bis vor kurzem vor allem mit Laiendarstellern gedreht, meist in seiner Heimatregion Pas-de-Calais an der Grenze zu Flandern, in die er jetzt auch Léa Seydoux zur Läuterung schickt.
Anders aber als das Kino der Brüder Dardenne, die aus dem benachbarten Belgien stammen und deren Filme den frühen Dumonts sehr ähnlich sehen, ist dieser aber nicht an einer Soziologie im Kino interessiert. Ihn treibt der Unterschied an zwischen einer scheinbar naturalistischen Kunstform und der Transgression des Realen durch die künstlerische Gestaltung. Mehr als die Abbildung soziologischer oder psychologischer Prozesse interessiert ihn die Überhöhung und Transformation des Wirklichen durch die Mittel des Kinos. In einer atemberaubenden Szene bringt Dumont diese epistemologische Lust zum überschießenden Exzess, mit dem medialen Verstärker der Zeitlupe und im Verzicht auf den erlösenden Schnitt. In der Plansequenz, so Dumont, liege für ihn die Wahrheit der Bilder, während die Montage eine Signatur des Künstlichen und des »Fake« ist.
Der Soundtrack wurde wie schon für Jeanne d’Arc von dem kürzlich verstorbenen Schlagersänger Christophe komponiert und bringt zur schicksalhaften Geworfenheit des Menschen zusätzlich reinste Metaphysik in den Film: Die politischen und persönlichen Krisen werden unter den sphärischen Klängen seiner tragisch-kitschigen Musik unserer diesseitigen Problemwelt entrissen. Die Ursache des Leids, so bleibt zu schlussfolgern, ist nicht zu ergründen und kann sich deshalb nur in der eigenartigen Mischung des komischen Melodrams manifestieren – und in der ganzen Unausgegorenheit des Menschlichen.