La Flor

Argentinien 2018 · 837 min.
Regie: Mariano Llinas
Drehbuch:
Kamera: Agustín Mendilaharzu
Darsteller: Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes Esteba u.a.
Außerordentlich leicht und heiter, musikalisch

Die Blumen des Kinos

Es beginnt mit einer Wüsten­land­schaft und einer jungen Frau: Lange braune Haare, ein roter Woll­pull­over mit Roll­kragen. Sie blickt nach vorne, knapp an der Kamera vorbei. Sofort ist man mit diesem Blick im roma­ni­schen Kultur­kreis. Aus Deutsch­land könnte das Bild jeden­falls nicht stammen, aus Skan­di­na­vien auch nicht, aus England und den USA kaum. Die Frau ist Flavia, sie hat tiefe, braune Augen und bald hat sie eine weiße Strähne im Haar, wie Susan Sontag. Davor wird in der Wüste eine Mumie gefunden. Und vieles erinnert bald an eine Film Noir-Detek­tivstory, an John Hustons Die Spur des Falken viel­leicht, in der dann Flavia der Detektiv wäre. Sie trifft dann auch auf einen unan­ge­nehmen Mann, ein Ekelpaket, das Frank heißt, wie Dennis Hoppers Figur in Blue Velvet.

Das ist kein cine­philes Name­drop­ping, sondern es steckt das Terrain ab, in dem dieser Film statt­findet. Gute Filme sind ein Raum, in dem man sich bewegt, sich aufhalten kann, zu dem man sich verhalten kann und muss. Filme sollten ihrem Publikum nichts vorkauen, sondern Schneisen öffnen und Orte der Sicher­heit wie der Heraus­for­de­rung schaffen. Ein solcher Film ist La Flor, eines der bemer­kens­wer­testen Kino­aben­teuer der letzten Jahre – und eine einmalige Erfahrung.

Der sinnliche Eindruck und die Atmo­s­phäre von La Flor, für dessen Insze­nie­rung der argen­ti­ni­sche Regisseur Mariano Llinás gemeinsam mit dem Film­kol­lektiv »Pampero Cine« zeichnet, erinnern tatsäch­lich zunächst an Kino von David Lynch, an B-Movie-Thriller, ob von Robert Siodmak oder von Claude Chabrol, und an die Filme von Carlos Saura – denn Musik und Gesang (und zwar Ohrwürmer, gute Schlager) spielen eine sehr wichtige Rolle, wie überhaupt die heiter-resi­gna­tive Stimmung der 70er Jahre.

Ein bisschen wirkt alles auch wie ein Kolpor­ta­ge­roman von Eugène Sue. Das Pathos ist das des 19. Jahr­hun­derts. Im Zentrum der Detek­tivstory steht ein obskurer Geheim­bund und die Suche nach einem geheim­nis­vollen Serum (ein »Metatoxin«), das ewige Jugend verleihen soll. Ein Gespräch kreist um »Epiphanie«: Pathos – Romantik – Paranoia sind die Pole zwischen denen sich dieser einmalige Film entfaltet.

Vier Anfänge, vier Haupt­fi­guren, drei Teile, acht Akte, sechs Geschichten, 14 Stunden Laufzeit mit einer Handvoll »Pausen«: So absurd ehrgeizig und offen mono­ma­nisch, zugleich selbst­iro­nisch in dieser Monomanie La Flor ist, so leicht­händig und selbst­ver­s­tänd­lich fühlt sich das beim Sehen an. Und unauf­dring­lich reflek­tiert: Denn der Regisseur taucht selbst im Film auf, erklärt dessen Funk­ti­ons­prin­zi­pien – was wiederum ein Teil des Films ist, und weniger an einen post­mo­dernen Spleen erinnert als an Shake­speare.

Auch wenn La Flor nun in Argen­ti­nien einige als »den längsten Film der Welt« feiern, sollte man diese Länge nicht zum Thema machen. Oder die Glie­de­rung in Episoden. Ein Film ist ein Film oder er ist es eben nicht. Und wenn er 14 Stunden lang ist, dann muss er so gezeigt werden – denn man schreibt über eine Filmdauer ja auch nicht, wenn die Filme kürzer sind. Schon Bela Tarrs Satan­stango oder Shoah von Claude Lanzmann (1985) kratzten seiner­zeit im Berlinale-Forum an der 10-Stunden Marke, die Festi­val­lieb­linge Lav Diaz oder Wang Bing stra­pa­zieren regel­mäßig mit Filmen ab vier Stunden das Sitz­fleisch auch der Profes­sio­nellen.

Auch umgekehrt gilt aber, dass Länge als solche einen Film noch nicht besser macht. Im Gegenteil. Im Fall von La Flor muss man aber keine Angst haben: alles ist außer­or­dent­lich leicht und heiter, musi­ka­lisch. Wie beim Binge-Watching auf der Couch wird jeder Zuschauer bald eigene Favoriten haben, bestimmte Figuren besonders lieben, eine Lieb­lings­epi­sode im Herzen tragen. So ist dies auch ein Film, der auf unsere neuen Sehge­wohn­heiten eine Antwort findet, die sich im Kino ereignet.

Ein Kollege hatte in Locarno für La Flor die schöne, treffende Formel gefunden: »Eine Serie, die das Kino meint.« Trotz seiner Länge sei diese Geschichte von vier argen­ti­ni­schen Frauen, deren Schick­sale mitein­ander verknüpft sind, aber gar keine Serie, insis­tiert wiederum der Regisseur. Und hat recht: Dies ist eher ein cine­philes Statio­nen­drama, eine vor Ideen über­quel­lende Reise durch Orte, Haltungen und Atmo­s­phären der Kino­ge­schichte, unter anderem auch durch Horror, Western, Musical, Casanova-Filme und ein Spio­na­ge­stück aus dem Kalten Krieg. Was man im Kino liebt, eben. Auch Berlin darf nicht fehlen: Dort fährt man wie es sich gehört natürlich auf einer »Fritz-Lang-Straße«.

Ein einzig­ar­tiger hoch­in­ter­es­santer Film ist dies, der schwer zu beschreiben und in seinem Erleb­nis­reichtum nicht mit einem Mal auszu­schöpfen ist. Ein offenes Kunstwerk. Und wer bei all dem Laby­rin­thi­schen, Rätsel­haften auch an Llinás' Lands­leute Cortázar und Borges denkt, liegt richtig.

Im Bann der Monsterblume

Eine cineastisch-botanische Sensation: Mariano Llinás Langfilm La Flor erblüht im Münchner Werkstattkino

Buena suerte, viel Glück, wünscht Regisseur Mariano Llinás dem Kino­pu­blikum mit sonorer Stimme aus dem Off. Ab diesem Moment sind es noch vier Stunden, 13 Minuten und 40 Sekunden bis zum Finale der dritten Episode von La Flor. Ungefähr zwei Stunden später, als der gelbe Zwischen­titel »Brüssel« einge­blendet wird, ertönt aus den Laut­spre­chern deut­li­ches Schnar­chen. Dann klingelt ein Wecker, und der Agen­ten­führer Casterman ist wieder auf dem Posten, um seine vier weltweit operie­renden Top-Spio­ninnen mit einem altmo­di­schen Bake­lit­te­lefon zu diri­gieren – wir schreiben die achtziger Jahre.

Ob in der argen­ti­ni­schen Pampa, ob bei einer überaus büro­kra­ti­schen Pass­kon­trolle in Ost-Berlin oder auf einem gedie­genen engli­schen Landsitz Aug' in Aug' mit der Erzfeindin Margaret Thatcher während des Falkland-Krieges: Das Darstel­le­rinnen-Quartett – Laura Paredes, Pilar Gamboa, Elisa Carricajo und Valeria Correa – brilliert in jeder Einstel­lung der vier­zehn­s­tün­digen kine­ma­to­gra­phi­schen Mons­ter­blume namens La Flor. Die Produ­zentin Laura Citarella, die bei den hitver­däch­tigen Songs des Musical-artigen zweiten Teils auch als Sängerin brilliert, erläutert die Idee dahinter: »Mariano Llinás nannte als Beispiel immer die Filme, in denen Ingrid Bergman unter der Regie von Roberto Rossel­lini spielt. Wenn man ihre gemein­samen Filme in der Gesamt­heit sieht, kann man die Verwand­lung einer Schau­spie­lerin erleben. Das war dieselbe Idee, aller­dings in einem einzigen Film über die Strecke von zehn Jahren. Jeder einzelne Teil von La Flor ist dann entstanden, wenn wir die Gele­gen­heit und das Geld zum Drehen hatten. Wir sagten uns: Episode eins – lasst sie uns schreiben. Episode zwei – lasst sie uns schreiben. Auf diese Weise haben wir zehn Jahre lang gear­beitet, um den Film zu vollenden.«

La Flor feierte seine Weltpremiere vor einem Jahr in Locarno. Zur Deutschlandpremiere beim Filmfest München waren unter anderem der Cutter Alejo Moguillansky und die Produzentin Laura Citarella angereist, beide selbst renommierte Regisseure (Por el dinero, Ostende). Citarella instruierte das Publikum folgendermaßen: »Sie können nicht aus diesem Kino gehen und glauben, Sie hätten La Flor gesehen, denn La Flor hat zwei weitere Teile. Um den ganzen Film zu sehen, müssen Sie alle drei Tage kommen. Wir werden das überprüfen… Sobald Sie von Skorpionen hören, bleiben Sie bitte noch sitzen, denn dann folgt bald die Pause.« Die Skorpione tauchen in der zweiten Episode auf. Darin mischt sich die herzzerreißende Liebesgeschichte eines Gesangsduos mit der eines aus Mailand angereisten Mafiaclans. Dieser verfolgt die Assistentin des Duos, die einen Skorpion versteckt hält.

Nicht nur musi­ka­lisch erweist La Flor Hitchcock-Werken wie Vertigo oder Notorious Reverenz, das ganze Projekt selbst ist eine atemberaubend freie und spielerische Hommage an diverse kinematographische Genres. So ließ der frankophile Llinás die vier Darstellerinnen im Spionage-Teil auf Französisch agieren, obwohl sie die Sprache zum Teil nicht konnten. Die lebhafte Pilar Gamboa, die im Musical-Teil unentwegt am Telefon zu hören ist, spielt nun eine stumme Killerin. Diese Wechsel verleihen dem Unternehmen etwas reizvoll Artifizielles, besonders wenn verschiedene europäische Schauplätze wie (Ost-)Berlin oder London mit seinen roten Telefonzellen ins Spiel kommen, aber auch die Transsibirische Eisenbahn in einsamen Schneelandschaften. Jedenfalls haben die KGB-Granden plötzlich ein ungeahntes südliches Feuer in den Augen. Llinás ließ die Darsteller zum Teil overvoicen oder bediente sich für die Dialoge im Internet. So entsteht von jenseits des Äquators eine ironische Sicht auf Europa mit integriertem Verfremdungseffekt.

Der Filme­ma­cher, Dreh­buch­autor, Produzent und Schau­spieler Mariano Llinás wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Er wurde an der dortigen Univer­sidad del Cine ausge­bildet, wo er derzeit lehrt. 2002 war er Mitbe­gründer des expe­ri­men­tell orien­tierten Produ­zen­ten­kol­lek­tivs »El Pampero Cine«, das unab­hängig von jeder staat­li­chen Film­för­de­rung arbeitet und auch sein eigener Produzent ist. Seine außer­ge­wöhn­liche insze­na­to­ri­sche Hand­schrift demons­trierte er bereits bei Filmen wie Balnea­rios oder Historias Extra­or­di­na­rias.

La Flor schießt nicht wirr ins Kraut, sondern folgt bota­ni­schen Ordnungs­prin­zi­pien. Der Film ist wie eine Blume aufgebaut, wie Llinás zu Beginn des Films anhand einer Skizze aufzeigt: Die ersten vier Episoden, die herkömm­liche Sehge­wohn­heiten enttäu­schen, da sie ohne Abschluss bleiben, symbo­li­sieren vier Blüten­blätter. Die fünfte Episode im Stil eines altfran­zö­si­schen Films à la Jean Renoir formt den Frucht­knoten. Und die sechste, in der sich die Schau­spie­le­rinnen unter anderem in rosa Trom­pe­ten­bäume verwan­deln, bildet den Stiel der Blume. Laura Citarella erklärt: »Wenn Sie den Film anschauen, dann werden Sie erkennen, inwiefern diese verschie­denen Blüten­blätter mitein­ander zusam­men­hängen und was sie mit den Episoden zu tun haben, die die Geschichte abschließen oder eben nicht abschließen. Die erste Idee, die wir zu La Flor hatten, war diese Zeichnung.«

Seit 2007 kuratiert Florian Borch­meyer, im Haupt­beruf Leitender Dramaturg der Berliner Schau­bühne, das stets heraus­ra­gende latein­ame­ri­ka­ni­sche Programm beim Filmfest München. Die Mitglieder von Pampero Cine zählen zu seinen regel­mäßigen Gästen. Mit La Flor hat sich auch für Borch­meyer das Kollektiv aus Buenos Aires künst­le­risch über­troffen: »Das ist also wirklich eine Form von Guerilla-Filme­ma­chen, die in eine ganz neue Dimension gerät, weil es einfach so komplett jenseits der Markt­me­cha­nismen funk­tio­niert. Wer kann schon einen Film von vier­zehn­ein­halb Stunden Länge wie La Flor sehen, aber das ist eben reali­sierbar, wenn man diese Art von Freiheit sich schafft, indem man alles selber macht. Dieses intel­lek­tu­elle Fieber, diese Rage, die in diesem Film steckt, das ist schon was, was sehr viel mit der Tradition der Literatur besonders auch am Rio de la Plata zu tun hat.«

Der Abspann von La Flor dauert ca. 37 Minuten und ist damit einer der längsten der Kino­ge­schichte. Von einem »außer­ge­wöhn­li­chen Werk, das die Pionier-Energie des Kinos wieder aufnimmt« spricht »La Libé­ra­tion«. Seit Olivier Assayas‘ fünf­stün­diger Film­bio­grafie Carlos – Der Schakal (2010) war eine solche von Südame­rika ausge­hende cine­as­ti­sche Welt-Umrundung nicht mehr gesehen. La Flor ist eine Liebes­er­klä­rung ans Kino, wie man sie sich phan­ta­sie­voller und kurz­wei­liger nicht vorstellen kann.

Aufführ­ter­mine von La Flor im Werk­statt­kino München:
Freitag, 2.8., 20:00 Uhr: Akt 1 (80 Min.) und Akt 2 (134 Min.)
Samstag, 3.8., 20:00 Uhr: Akt 3 (101 Min.) und Akt 4 (100 Min.)
Freitag, 9.8., 20:00 Uhr: Akt 5 (125 Min.) und Akt 6 (86 Min.)
Samstag, 10.8., 20:00 Uhr: Akt 7 (105 Min.) und Akt 8 (106 Min.)