USA 1996 · 98 min. · FSK: ab 16 Regie: Joel Coen Drehbuch: Ethan Coen Kamera: Roger Deakins Darsteller: William Macy, Steve Buscemi, Frances McDormand, Harve Presnell u.a. |
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Menschen und Leichen im Schnee |
Der nördliche Mittelwesten der USA wirkt, bei Nacht vom Flugzeug aus betrachtet, wie ein gigantischer, marmorgefliester Fußboden. So weit das Auge reicht nur völlig flache, rechtwinklig abgegrenzte Felder, mit Schnee bestäubt und vom landwirtschaftlichen Anbau mit Mustern durchzogen. Nur ab und zu erblickt man, verloren in diesen Weiten, kleine Ansammlungen von Lichtern. Dies sind die spärlich gesäten Städte, die Namen tragen wie Brainerd, Wahpeton, und eben Fargo. Dies ist keine Gegend, in die sich viele Touristen verirren, und auch die Amerikaner in den übrigen Regionen des Landes interessiert an ihr nur, daß dort ein Großteil ihrer Nahrung produziert wird. Ansonsten kann dieser Landesteil kaum mit Attraktionen aufwarten, und seine Bewohner gelten als etwas rückständig, langsam und verschroben.
Es ist keine Landschaft, die eine große Zahl von Filmemachern anzieht. Regisseure lassen ihre Geschichten lieber in den Metropolen der Küsten spielen, oder in den mythischen Südstaaten. Und wer hier aufwächst und Kino machen möchte, der bemüht sich, möglichst schnell nach Kalifornien zu entkommen. So auch die Coen-Brüder, Joel und Ethan, die seit längerem zu den erfolgreichsten Filmemachern aus den Nischen Hollywoods abseits des Mainstream gehören. Spätestens mit Barton Fink wurden sie zu Lieblingen der Kritiker, und der unerwartete Erfolg dieses Films hat dazu geführt, daß ausgerechnet der Spezialist für große Action-Projekte, Joel Silver, ihnen einen erstaunlich hohen Etat und kreative carte blanche für ihren nächsten Streifen zur Verfügung stellte. Der sträflich unterschätzte The Hudsucker Proxy fand dann allerdings beim großen Publikum doch nicht den vom Produzenten erträumten Anklang, und so sind die Coen-Brüder mit ihrem neuen Film wieder zu bescheideneren Dimensionen zurückgekehrt. »Back to the roots« lautet die Devise, und dies nicht nur insofern, als Fargo in vielem an das Erstlingswerk der Coens, Blood Simple, erinnert, sondern auch da sie sich in Fargo ihrer ehemaligen Heimat widmen, eben dem nördlichen Mittelwesten, der Gegend um Minneapolis.
Jerry Lundegaard (William Macy, der mit seiner großartigen Leistung beweist, daß er mehr verdient hat, als stets nur die ihm üblicherweise zugedachten Nebenrollen zu spielen) ist ein Gebrauchtwagenhändler, der nur zu gerne an das Geld seines Schwiegervaters Wade Gustafson (Harve Presnell, den Fans alter Musicals ein Begriff) herankäme. Dazu hat er einen geschickten Plan ausgetüftelt: er läßt seine Frau (Kristin Rudrud) entführen, läßt die Entführer ihn als alleinigen Geldboten bestimmen, steckt den Großteil der Beute selbst ein und zahlt mit dem Rest die von ihm angeheuerten Kidnapper aus. In der Theorie klingt das wunderbar einfach, doch wie so oft läuft alles nicht so wie geplant. Es fängt damit an, daß die beiden von Jerry mit der Entführung beauftragten Kriminellen die Sache nicht so fest im Griff haben wie erhofft. (Steve Buscemi, in den meisten Coen-Filmen mit von der Partie, ist als einziger »Auswärtiger« von der Gegend und den Leuten extrem genervt, und er wird nicht müde, dies seinem Partner kundzutun; doch Gaear Grimsrud, dargestellt von Peter Stormare, ist von der extrem schweigsamen Sorte und Konversationen nicht zugeneigt, was er am Ende auf recht drastischem Weg beweist.) Schon die Entführung selbst läuft beinahe schief, und auf dem Weg in ihr Versteck sehen sich die beiden Kidnapper dann genötigt, einen Polizisten und die Insassen eines vorbeikommenden Autos zu erschießen. Und als ob dies noch nicht genug wäre, weigert sich Jerrys Schwiegervater auch noch strikt, auf die Konditionen zur Geldübergabe einzugehen. Außerdem bekommt es Jerry von dem Zeitpunkt der unbeabsichtigten Morde an mit einer formidablen Opponentin zu tun: auf den Fall wird die Kleinstadt-Polizistin Marge Gunderson angesetzt (Frances McDormand, die zu sehen stets eine Freude ist, die sich in dieser Rolle jedoch noch selbst übertrifft). Marge ist im höchsten Grade schwanger und furchtbar nett, doch ihre detektivischen Fähigkeiten sind nicht zu unterschätzen. In einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit versucht Jerry Lundegaard, seinen Plan zu retten, doch die Situation eskaliert zunehmends, und bis zu ihrem Ende wird die Geschichte auf grausige Weise noch einige Opfer fordern.
Fargo ist nur schwer in eine Kategorie einzuordnen (abgesehen davon, daß es ganz deutlich ein Coen Bros. Film ist), aber am ehesten trifft wohl noch die Bezeichnung »Dialekt-Krimi-Komödie«. Einer der heimlichen Hauptdarsteller des Films, neben den endlosen, schneebedeckten Weiten der Landschaft, ist der Dialekt des nördlichen Mittelwestens. Die Sprache war schon immer ein zentraler Weg zu den Charakteren der Coen-Brüder, doch diesmal haben sie besonders viel Sorgfalt darauf verwandt, die eigenwilligen Ausdrücke, den Klang und den Rhythmus des Dialekts ihrer ehemaligen Heimat in hyperrealistischer Stilisierung nachzubilden. Die Sprache wird damit zur wichtigsten Quelle der Komik des Films; dies bedeutet aber auch, daß es wenig Sinn hat, sich den Film in einer synchronisierten Fassung anzusehen – ich rate dringend zum Original.
Der Film basiert angeblich auf einer wahren Begebenheit, doch bei den Coens heißt dies glücklicherweise nicht, daß deshalb mit »Reality-TV« zu rechnen wäre. Fargo ist äußerst stilisiert und läßt die Handschrift der Macher deutlich erkennen. Es herrscht eine surreale Atmosphäre vor; alles wirkt um ein kleines, aber entscheidendes Quentchen übertrieben. Die Figuren werden nie zu Parodien ihrer selbst, aber sie agieren atemberaubend nah an der Grenze; die Dialoge wirken oft wie unter Drogen angefertigte Transkripte des belanglosen Geredes echter Konversationen; die Gewaltdarstellung nimmt groteske Züge an; und immer wieder gibt es Einstellungen, in denen das weiße Nichts der Landschaft die Menschen zu kleinen, schwarzen Punkten auf der Leinwand macht, deren geschäftige Bewegung seltsam sinnlos erscheinen. Doch der Film erreicht gerade durch seine Absurdität, durch die aus sinnleeren Dialekt-Formeln bestehenden Dialoge, durch die unvermittelte Gegenüberstellung von schon fast gruselig beschaulicher Kleinstadt-Atmosphäre und bizarren Gewaltausbrüchen, daß er auf seine eigene, schiefe Weise fast schon wieder wirkt wie das wirkliche Leben.
Fargo hat ein zwiespältiges Verhältnis zu seinen Charakteren. Einerseits erzielt er etliche Lacher auf ihre Kosten; nicht nur ihre eigenwillige Art zu reden, auch ihr seltsames Verhalten und ihr naiver Geist werden oft der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber der Film hat auch einen tiefsitzenden Respekt vor diesen Menschen, die sich, verloren in der leeren, weißen Landschaft, so beharrlich durchs Leben schlagen. Die Coens führen ihre ehemalige Heimat und deren Bewohner vor wie eine Freakshow, deren Monstrositäten allesamt geliebte Verwandte sind. Und vor allem ist da Marge Gunderson, der schwangerste Sheriff der Filmgeschichte, bei der es dem Zuschauer unmöglich ist, sie nicht nach ein paar Minuten ins Herz zu schließen. Es ist ihre bodenständige Liebe zu ihrem Mann (dessen Traum es ist, eines seiner Gemälde von Enten auf einer Briefmarke verewigt zu sehen), die immer wieder als nostalgisches Gegenbild zu der absurden Brutalität der umgebenden Welt beschworen wird, und in diesem Aspekt offenbaren die sonst so zynischen Coen-Brüder, aller ironischen Brechung zum Trotz, eine erstaunliche, aber willkommene und keineswegs vordergründige Sentimentalität.
In Amerika, wo der Film bereits Anfang des Jahres zu sehen war, hat Fargo eine Unmenge an enthusiastischen Kritiken eingeheimst, und das Verblüffende daran ist lediglich, daß es einem so ungewöhnlichen und eigenwilligen Werk gelungen ist, auch bei der Mainstream-Presse die verdiente Anerkennung zu gewinnen. Fargo mag für den Zuschauer ein wahres Wechselbad der Gefühle sein; man ist stets hin- und hergerissen zwischen Lachen, Entsetzen, Mitgefühl und Schadenfreude. Vor allem ist der Film aber ein großartiges Vergnügen, wie es im Kino in letzter Zeit nur selten zu finden ist – mit Fargo ist den Coens einer der schönsten Filme dieses (und manch anderen) Jahres gelungen. Da kann man nur, mit den Worten Marge Gundersons, sagen: Thanks a bunch!